Knapp ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen zeugt Michel Houellebecqs Roman „Die Unterwerfung“ von seherischer Kraft oder einfach nur guter Menschenkenntnis, auch wenn die totalitäre Bedrohung der demokratischen Gesellschaften anders als in seinem Roman nicht in den Farben des Islamismus daher kommt. Viele erkannten damals nicht, wie präzise Houllebecq die menschliche Neigung beschreibt, sich an verändernde Machtverhältnisse anzupassen, vermeintlich aus Vernunft, tatsächlich aus Opportunismus.
Genau das ist in Deutschland in diesen Sommerwochen zu beobachten. So gelingt es Björn Höckes AFD und Sarah Wagenknechts Bewegung, politische Hegemonie entfalten, ohne überhaupt an einer Regierung beteiligt zu sein, und zwar in der für die Demokratien Europas vielleicht existenziellen Frage der Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Überfall. Beide Parteien fordern von der Ukraine, sich Russland zu unterwerfen. Selbst in den Zeiten des Kalten Krieges verfügte die Sowjetunion nicht über einen solchen politischen Einfluss in Deutschland wie Russland heute in Bundestag und Gesellschaft.
Diesem Druck der populistischen Bewegungen beugt sich nun auch der stellvertretende CDU-Parteivorsitzende Michael Kretschmer und formuliert genau wie sie: „Wir können nicht länger Mittel für Waffen an die Ukraine in die Hand nehmen, damit diese Waffen aufgebraucht werden und nichts bringen.“
FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner, der dem ukrainischen Botschafter schon direkt nach dem russischen Einmarsch erklärt hatte, „Euch bleiben nur noch wenige Stunden“, wählte dieses Mal eine in der Tradition deutscher Bürokratie stehende Variante, um weitere Waffenlieferungen zu stoppen und forderte in einem Schreiben an Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), dass „die Obergrenzen eingehalten werden“. Weitere Zusagen dürften nur gemacht werden, wenn in den Haushaltsplänen „eine Finanzierung gesichert ist“.
Die Wirkung trat sofort ein: Das Verteidigungsministerium kann ein kurzfristig verfügbares Luftverteidigungssystem des Typs „Iris-T“ für die Ukraine nicht finanzieren.
Statt mit seinen Kabinettskollegen schnell und geräuschlos eine politische Lösung zu finden, schrieb Lindner, weil er so stärkere öffentliche Wirkung erzeugen konnte. Entweder stach er den Brief selbst durch oder setzte darauf, dass es die Empfänger tun. Dass es der FDP bei den nächsten beiden Landtagswahlen noch nützt, wird Lindner nicht erwarten. Aber schliesslich hat der Bundestagswahlkampf begonnen, dessen Ausgang über die Existenz seiner Partei entscheidet.
Lenin spottete einst, dass die Deutschen keinen Bahnhof stürmen, ohne eine Bahnsteigkarte zu kaufen. Seinen russischen Nachfahren Wladimir Putin wird diese spezielle deutsche Melange darin bestärken, den öffentlichen Druck auf den wichtigsten Staat Europas weiter zu steigern, um die Ukraine in die Knie zu zwingen.
Michel Houellebecq wollte seinen Roman ursprünglich „La conversion“ nennen. Sie hat in Deutschland längst begonnen. Noch ist offen, ob sie in Unterwerfung endet.
Quelle: Facebook