Er hätte sich sicherlich nicht in ein solches Abenteuer gestürzt, wenn er gewusst hätte, dass … Doch alles der Reihe nach, so wie im geregelten Alltag von Ernst Stricker, Bibliothekar in der Zürcher Zentralbibliothek. Wie es der Zufall so will, läutet neben ihm an einer Telefonzelle vor dem Berner Hauptbahnhof das Telefon und Ernst greift automatisch nach dem Hörer. Eine brüchige Frauenstimme nennt ihm beim Vornamen und er, ganz der hilfsbereite Schweizer Beamte, folgt der Einladung in ihre Wohnung in der Gerechtigkeitsgasse. Was dann passiert, ist ebenso rätselhaft wie skurril, aber entbehrt nicht der Folgerichtigkeit der Ereignisse, mit denen Ernst konfrontiert wird. Doch weil er mit einer selbst für ihn überraschenden Fülle von besonderen Eigenschaften ausgestattet ist, gelingt es ihm, auf alle unerwarteten Situationen geschickt zu reagieren. Es ist Neugier, gemischt mit Tatendrang, ja sogar Kaltblütigkeit und Schlagfertigkeit zeichnen ihn aus, als es darum geht, das unerwartete Geschenk, ein Päckchen, das Frau Adele Schaefer aus der Gerechtigkeitsgasse ihm überreicht, mit routinierter Freundlichkeit in Empfang zu nehmen. Er spielt dabei die Rolle des vermeintlichen Neffen, weil er erkennt, dass Frau Schaefer stark sehbehindert ist, und außerdem mit ihrem Verwandten schon sehr lange keinen persönlichen Kontakt mehr hatte.
Das geheimnisvolle Päckchen, das er vor den neugierigen Augen seiner Frau Jacqueline, ihres Zeichens auch Bibliothekarin, versteckt, enthält eine sehr alte Handschrift in Althochdeutsch und Latein. Die Rückfrage bei einem Kollegen in der Zentralbibliothek löst in Ernst ein seltsames Glücksgefühl aus. Er besitzt mit „Abrogans“ das älteste deutsche Buch, ein Werk aus dem 8. Jahrhundert, von dem nur noch drei Abschriften existieren, in St. Gallen, Paris und Karlsruhe. Von dieser Auskunft beflügelt, besucht er noch einmal Frau Schaefer. Sie erzählt ihm, dass sie das Päckchen von Philipp erhalten habe, der bei einer Skitour mit einem gewissen Sepp im Berner Oberland spurlos verschwunden sei. Ernst vermutet nun, dass dieser Sepp das wertvolle Päckchen zurück haben will.
Nun überschlagen sich die Ereignisse, deren erzählerische Umsetzung aus einer Mischung von Sensationsbericht, Abenteuer, Kriminalstory und wissenschaftlicher Recherche besteht. Ernst trifft beim Abtransport der verstorbenen Frau Schaefer auf den echten Neffen Ernst und flüchtet wie ein ausgebuffter Ganove mit der Absicht, die mysteriösen Hintergründe des geheimnisvollen Päckchens zu erkunden. Und wenn nun der Leser vermutet, jetzt beginne die Jagd ins Ungewisse, weit gefehlt. Er springt mit dem Erzähler in das Jahr 772 und findet sich im bayerischen Kloster Weltenburg, südlich von Regensburg, wieder. Hier lernt er den Novizen Haimo kennen, einen hochtalentierten Scriptor, der vom Abt Sigido nach einigen Probe-Handschriften den Auftrag erhält, eben dieses Wörterbuch „Abrogans“ abzuschreiben. Mehr noch, er wird in die Herkunft der Farben für die Handschrift eingeweiht, teilt mit Haimo, der in der Zwischenzeit zu einem Benediktiner-Mönche ordiniert wurde, die Freude an der Fertigstellung von „Abrogans“, begibt sich mit Haimo und dessen Frau Maria (der Bruder hat damit eine Todsünde begangen!) auf die beschwerliche Reise nach St. Gallen, dann in das oberitalienische Kloster Bobbio und in irgendwelche Herbergen in Roma. Und diese Fußreise, manchmal in Begleitung eines Esels, dann auch mit dem Kind, das Maria zur Welt gebracht hat, manchmal beide verkleidet als Benediktiner-Mönche, gehört zu den eindrucksvollsten Passagen in diesem mit immer neuen Überraschungen aufweisenden Roman. Besonders auffällig ist es, dass der Autor seinen Erzähler mit fundierten Kenntnissen über das Klosterwesen im frühen Mittelalter ausstattet, ihn einweiht in die Geheimnisse der klösterlichen Architektur und ihn sogar über wissenschaftliche Studien informiert, die über die Überlieferung von Manuskripten berichten. Und er erspart ihnen auch nicht die Umstände, unter denen alle Mönche des Klosters Sankt Antonius im Walde dahin gerafft werden. Haimo, Maria und ihr Kind haben dort Zuflucht gefunden. Das Kind stirbt, auch Maria ist bereits von der Pest schwer gezeichnet. Nur Haimo, der sündige Benediktiner-Mönch, wird nicht angesteckt und bringt seinen Abrogans nach Montecassino.
In der Zwischenzeit begibt sich Ernst, mehr als 1200 Jahre danach, auf die Suche nach dem vorletzten Besitzer des „Abrogans“. Er soll angeblich während des Zweiten Weltkriegs im Jungferngebiet verschollen sein. Tatsächlich findet Ernst in der Berglihütte ein Wachstuchheft mit den Initialen von Philipp Schaefer aus den Jahren 1943 bis 1945 und nimmt sogar nachts eine Gestalt wahr, die … Doch so weit geht der Erzähler nicht in seinen Vermutungen. Er berichtet vielmehr von einem Sturz in eine Gletscherspalte, in die Ernst bei seiner Rückkehr aus dem Gebirge gerät. Seltsamerweise taucht Sepp im richtigen Augenblick als Retter auf, jener Sepp also, der damals der Frau Schaefer das Päckchen überreicht hatte. Doch damit nicht genug der Überraschungen! Zunächst wird Ernst von der Bergwacht in das Krankenhaus von Interlaken geflogen, wo er nach einer Operation seinen Splitterbruch ausheilen muss. Dann aber erfährt er, dass seine Jacqueline schwanger ist, was ihn zunächst mehr als erstaunt, den Leser aber beruhigt, als er vom Happyend der abenteuerlichen Verwicklungen erfährt.
Ein Roman von allerhöchster Güte, der dem Leser stets das Gefühl vermittelt, sowohl Augenzeuge einer Detektiv-Geschichte zu werden als auch eingeweiht zu sein in die Entstehung des ältesten deutschen Buchmanuskripts. Kein Wunder, denn er wird von einem Erzähler geleitet, der ihn sicher durch die unterschiedlichen Handlungsstränge eines Plots führt, der auf zwei zeitlichen Ebenen abläuft. Diese duale Struktur, in der einerseits der Protagonist, ein biederer Schweizer Bibliothekar, sich abenteuerlichen Herausforderungen stellt, andererseits ein hochtalentierter Benediktiner-Mönch gegen die sakralen Konventionen seiner Zeit revoltiert, erweist sich als die besondere Essenz des Textes. „Das Päckchen“ enthält eine hoch brisante Ladung, und sein renommierter Autor ist auf dem Gipfel seiner Erzählkunst angelangt – Gratulation!
Franz Hohler. Das Päckchen. Roman. München (Luchterhand) 2017.222 S., 20,00 EURO, ISBN 978-3-630-87559-0.
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