Lieber Joachim Gauck: Sie selbst haben die Welle von Sympathie gespürt, die Sie in den vergangenen Tagen bei Ihren Abschiedsreisen und Auftritten getragen hat. Und Ihre gerade verklungenen Abschiedsworte haben es den Deutschen noch einmal eindrucksvoll vor Augen geführt: Sie haben das Amt des Bundespräsidenten tief geprägt und darüber unserem ganzen Land einen republikanischen und aufgeklärten Stolz vermittelt. Wenn nicht jeder wüsste, wofür der Bundespräsident kraft unserer Verfassung steht – Sie haben es in Ihrer Amtsführung gezeigt, mit Klugheit und Charme! Sie haben die Einheit des Staates verkörpert und befördert, einschließlich dessen, wofür unser Gemeinwesen steht und weltweit geachtet wird: Freiheit und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.
Lieber Herr Gauck, bei Ihrer Wahl vor fünf Jahren haben Sie in diesen Plenarsaal gerufen: „“Was für ein schöner Sonntag!““ Mit Blick auf all das, was Sie gemeinsam mit Daniela Schadt für unser Land getan haben, darf ich heute zu Ihrem Abschied auch sagen: „“Was für ein wehmütiger Mittwoch!““ Wir alle sind Ihnen beiden zu großem Dank verpflichtet!
Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verteidigen – diese Aufgabe bleibt!
Umso mehr in einer Zeit, in der alte Gewissheiten ins Wanken geraten. Wie fest sind die Fundamente der Demokratie? Hat der Westen noch eine Zukunft? Wohin treibt Europa?
Unser Blick geht zu den Wahlen in Frankreich, nach Russland, in die USA, aber in diesen Tagen ganz besonders in die Türkei!
Viel steht auf dem Spiel für die Türkei, aber auch für ihr Verhältnis zu uns.
Wir versuchen, uns unser Urteil nicht zu einfach zu machen: Wer die Türkei vor 30 Jahren bereist hat, kam in ein rückständiges Land. Die Menschen waren arm, Millionen verließen ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit in ganz Europa. Heute ist die Türkei ein anderes Land. Sie hat eine Phase von wirtschaftlichem Aufbau und Reformen erlebt und – niemand wird leugnen –, auch eine Periode der Annäherung an Europa. All das haben wir Deutsche gewürdigt und unterstützt. Dem Weg, den die Türkei in zwei Jahrzehnten nahm, fühlten wir uns besonders verbunden – auch wegen der vielen Menschen türkischer Abstammung, die in Deutschland leben, arbeiten, hier zuhause sind.
Weil das so ist, schauen wir auf die Türkei von heute nicht mit Hochmut und Besserwisserei. Wir wissen um die Lage der Türkei in Nachbarschaft der großen Krisenregionen Irak und Syrien. Wir verurteilen den versuchten Militärputsch im vergangenen Sommer. Aber: Unser Blick ist von Sorge geprägt, dass all das, was über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut worden ist, in kurzer Frist zerfällt! Diese Sorge leitet meinen Appell: Präsident Erdoğan, Sie gefährden all das, was Sie mit anderen aufgebaut haben! Glaubwürdige Signale der Entspannung sind willkommen. Aber: Beenden Sie die unsäglichen Nazi-Vergleiche! Zerschneiden Sie nicht das Band zu denen, die Partnerschaft mit der Türkei wollen! Respektieren Sie den Rechtsstaat und die Freiheit von Medien und Journalisten! Und: Geben Sie Deniz Yücel frei!
Aber, meine Damen und Herren, machen wir es uns nicht zu einfach! Die Anfechtung der freiheitlichen Demokratie findet nicht nur bei anderen statt – weit westlich und östlich der europäischen Grenzen. Die Wahrheit ist doch: Eine neue Faszination des Autoritären ist tief nach Europa eingedrungen. So sehr ich mich freue über unsere niederländischen Nachbarn, dass sie den Angriff auf ihre demokratischen Traditionen in der Wahlkabine zurückgeschlagen haben – für übergroße Gelassenheit besteht kein Anlass!
Geht uns das was an in Deutschland? Ich denke: ja. Wir können uns nicht zurücklehnen, uns gegenseitig auf die Schulter klopfen und Noten für andere verteilen. Wir leben nicht auf einer Insel! Die weltweiten Trends wirken auch bei uns. Und unsere Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns nicht etwa immunisiert. Im Gegenteil: Die Geschichte der Märzrevolution, an die erinnert wurde – und erst recht die der Weimarer Republik –, zeigen doch, dass die Demokratie weder selbstverständlich noch mit Ewigkeitsgarantie ausgestattet ist. Dass sie – einmal errungen – auch wieder verloren gehen kann, wenn wir uns nicht um sie kümmern.
„“Die liberale Demokratie steht unter Beschuss““, so hat es Joachim Gauck in seiner Abschiedsrede ausgedrückt. Ja, sie steht unter lautem Beschuss von Radikalismus und Terrorismus. Vom Machthunger der Autokraten, die – rund um die Welt – einer freien Zivilgesellschaft die Luft zum Atmen rauben.
Und es gibt auch das andere, die schleichende Erosion von innen: durch Gleichgültigkeit, Trägheit und Teilnahmslosigkeit; und die Anfechtung durch jene, die Parlamente und demokratische Institutionen nicht mehr als Ort für politische Lösungen sehen wollen, sondern als Zeitverschwendung diskreditieren – und das politische Personal gleich mit.
Populisten erhitzen die öffentliche Debatte durch ein Feuerwerk von Feindbildern, laden ein zum Kampf gegen das sogenannte Establishment und verheißen eine blühende Zukunft nach dessen Niedergang. Es gibt in Deutschland keinen Grund für Alarmismus. Das nicht. Aber ich sage mit Blick auf das, was sich da tut, mit großer Ernsthaftigkeit: Wir müssen über die Demokratie nicht nur reden – wir müssen wieder lernen, für sie zu streiten!
Streiten für Demokratie ist nicht Sache der Politik allein. Aber Politik muss verstehen, dass die Zeiten besondere sind: Zeiten, in denen alte Gewissheiten verschwunden und neue nicht an ihre Stelle getreten sind. Zeiten, in denen internationale Konflikte Sorge um den Frieden und um die Sicherheit im eigenen Land auslösen. Zeiten, in denen Eltern sich fragen, ob es ihren Kindern noch genau so gut gehen wird wie ihnen. Wir leben in Zeiten des Übergangs. Wie die Zukunft wird, darauf gibt es nicht nur eine Antwort. Da ist die Zukunft eben nicht „“alternativlos““. Im Gegenteil: Die Zukunft ist offen, und sie ist überwältigend ungewiss!
Diese Offenheit, die bei den einen Hoffnung auslöst, jagt anderen Angst ein! „“Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, leugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche““, so schreibt Heinz Bude. Und: Der Ängstliche ist anfällig für die Lockrufe jener, die immer mit ganz einfachen Antworten zur Stelle sind. Mir scheint: Das Angebot an einfachen Antworten steigt im Wochenrhythmus. Dabei könnten wir doch wissen: Die einfachen Antworten sind in der Regel keine Antwort. Wer soll denn glauben, dass in einer Welt, die komplizierter geworden ist, die Antworten einfacher werden? Wer soll denn glauben, dass nach dem blutigen 20. Jahrhundert und den Lehren aus zwei Weltkriegen die alten Muster von Abschottung und nationaler Eiferei die Welt friedlicher machen? Die neue Faszination des Autoritären, auch die in Teilen Europas, ist am Ende nichts anderes als die Flucht in die Vergangenheit aus Angst vor der Zukunft. Das kann – und das darf nicht unser Weg sein!
Ich kenne Weltregionen, in denen die Zukunft weit weniger gewiss ist als bei uns. Ich denke an meine letzte Begegnung mit Shimon Peres vor seinem Tod im vergangenen Jahr. Wir beiden waren unterwegs zu einem Besuch der Hebräischen Universität in Jerusalem – für mich ein ganz und gar unvergesslicher Tag! In der Nachmittagssonne auf dem Scopusberg waren wir zu Gast, als die stolzen Absolventinnen und Absolventen ihre Zeugnisse bekamen.
Nach der Veranstaltung standen wir mit ihnen beisammen und diskutierten, als eine junge Frau fragte: „“Verehrter Shimon Peres, was wird uns die Zukunft bringen?““
Statt einer langen Antwort hat Shimon Peres ihr eine Geschichte erzählt.
„“Die Zukunft““, sagte er, „“ist wie ein Kampf zweier Wölfe. Der eine ist das Böse, ist Gewalt, Furcht und Unterdrückung. Der andere ist das Gute, ist Frieden, Hoffnung und Gerechtigkeit.““
Die junge Frau schaute fasziniert und fragte ganz gespannt zurück: „“Und – wer gewinnt?““
Peres lächelte und sagte: „“Der, den Du fütterst.““
Du hast es in der Hand! Wir haben es in der Hand! Das war seine Botschaft an die jungen Leute.
Und in der Tat: Zukunft ist kein Schicksal, dem Gesellschaften ausgeliefert sind – erst recht nicht die demokratischen!
Wer, wenn nicht wir Deutsche, kann davon ein glückliches Zeugnis geben? Wer, wenn nicht wir, hat erfahren, dass nach zwei Weltkriegen Frieden werden kann; und nach Jahren der Teilung Versöhnung. Wer, wenn nicht wir, hat erfahren, dass nach der Raserei der Ideologien so etwas einkehren kann wie politische Vernunft! Es ist nicht alles gut in unserem Land, aber vieles ist uns miteinander geglückt! Und deshalb haben wir allen Grund zu sagen: Lasst uns bewahren, was gelungen ist!
Aber bewahren wird nicht genügen. Wir alle machen die Erfahrung: Das gerade Erreichte bleibt hinter dem Besseren zurück und weit weg von dem Erwünschten. Haben wir Probleme gelöst, stellen sich bald die nächsten – oder die alten stellen sich in neuem Gewand.
Das mag den einen oder anderen frustrieren. Aber das Gebäude der Demokratie ist nie vollständig errichtet. Demokratie ist Herrschaft auf Zeit und liefert in aller Regel auch nur Lösungen auf Zeit. Eine kluge Frau aus Indien gab mir dazu einmal den tröstenden Rat: In der Rechtschreibung der Politik gibt es keinen Punkt – sondern immer nur das Komma.
Aber muss uns das eigentlich frustrieren? Oder ist das nicht gerade die Stärke der Demokratie? Demokratie ist die einzige Staatsform, die Fehler erlaubt, weil die Korrekturfähigkeit miteingebaut ist. Die Stärke von Demokratien liegt nicht in ihrem Sendungsbewusstsein, sondern in ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstverbesserung!
• Wo denn sonst als in der Demokratie können so unterschiedliche Interessen von Alt und Jung, Stadt und Land, Wirtschaft und Umwelt friedlich zum Ausgleich gebracht werden?
• Wo denn sonst als in der Demokratie begegnen sich Bürger unabhängig von ihrer Herkunft als Gleiche und Gleichberechtigte?
• Und wo sonst als in der Demokratie, wo Minderheiten Stimme und Gehör finden, soll uns die gewaltige Aufgabe der Integration gelingen?
Nur in der Demokratie kriegen wir all das hin; das ist ihre Stärke und deshalb brauchen wir sie!
Defizite benennen und um Lösungen ringen – das ist anstrengend. Demokratie ist eine anstrengende Staatsform – und sie ist zugleich ein Wagnis: Wir trauen einander zu, uns selbst zu regieren! Herrschaft aus dem Volk, durch das Volk und für das Volk – so hat es uns ein großer amerikanischer Präsident gelehrt – ein Republikaner übrigens.
Das mag dem einen oder anderen zu idealistisch klingen. Aber dahinter steht doch die tiefe Einsicht, dass die Flucht vor den Anstrengungen der Demokratie nicht zu besserer Politik führt. Auch und gerade nicht von denen, die von sich behaupten, im Namen des „“eigentlichen Volkes““ oder der schweigenden Mehrheit zu sprechen gegen „“die da oben““.
Vergessen wir nicht: Nirgendwo wurde die Idee der Volksherrschaft so verheerend missbraucht wie bei uns – in eins gesetzt mit Partei, Rasse oder Gesinnung.
Demokratie aber kennt das Volk nur in seiner ganzen Vielfalt. Deshalb: Wer heute in Deutschland seinen Sorgen Luft macht und dabei ruft „“Wir sind das Volk!““, der darf das gerne – aber der muss auch hinnehmen, dass andere Leute mit anderen Ansichten diesen stolzen Satz genauso beanspruchen. So wie ich das vor ein paar Monaten in Dresden gesehen habe, wo eine bunte Truppe junger Leute ein Plakat in die Höhe hielt, auf dem ganz gelassen stand: „“Nö – wir sind das Volk““.
Genauso ist es! In der Demokratie tritt das Volk nur im Plural auf, und es hat viele Stimmen.
Nie wieder darf eine politische Kraft so tun, als habe sie allein den Willen des Volkes gepachtet und alle anderen seien Lügner, Eindringlinge oder Verräter. Und deshalb ist meine Bitte: Wo immer solche Art von Populismus sich breit macht – bei uns im Land oder bei unseren Freunden und Partnern – da lassen Sie uns vielstimmig dagegenhalten!
Wir navigieren in unbekannten Gewässern; ob wir nach Osten oder Westen schauen: Wir steuern zu auf unkartiertes Gelände. Oftmals werden wir Antwort geben müssen, ohne uns an andere anlehnen zu können. Das verlangt Selbstbewusstsein.
Aber noch viel mehr verlangt es Mut! Mut nach vorn in Richtung Zukunft zu denken – nicht darauf zu hoffen, die Antworten in der Vergangenheit zu finden. Mut, unsere Geschicke selbst in die Hand zu nehmen – ohne Monarch oder „“großen Bruder““ oder selbsternannte „“starke Männer““. Mut ist das Lebenselixier der Demokratie – so wie die Angst der Antrieb von Diktatur und Autokratien ist. Deshalb: Die Staatsform der Mutigen – das ist die Demokratie!
Die Demokratie braucht Mut auf beiden Seiten – auf der Seite der Regierten ebenso wie auf der Seite der Regierenden. Denn nur wer selber Mut hat, kann andere ermutigen, und Mut erwarten. Politik tut sich keinen Gefallen, wenn sie über die Sorgen der Menschen, über politische Fehlentwicklungen und offene Fragen nicht ebenso offen redet. Wir leben in hoch politischen Zeiten! Das verlangt den Mut, zu sagen, was ist – und: was zu tun ist!
• Wie gelingt Integration? Wie, lieber Herr Gauck, bringen wir sie überein: unser weites Herz und unsere endlichen Möglichkeiten?
• Wie erneuern wir das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung, das mich persönlich und ganz viele in meiner Generation auf den Weg gebracht hat?
• Wie erhalten wir Hoffnung dort, wo im Dorf Schule, Arzt, Friseur und Tankstelle längst geschlossen sind und jetzt auch noch die letzte Busverbindung eingestellt wird?
• Wie schaffen wir ethische Standards – auch in der Wirtschaft –, die das Oben und Unten in der Gesellschaft verbunden halten? Damit oben nicht nach Regeln entschieden wird, die von den Menschen als unanständig empfunden werden. Ein führender Vertreter der deutschen Wirtschaft schreibt diese Woche in der ZEIT: Wo Abfindungen und Bonuszahlungen nur noch „“Fassungslosigkeit““ hervorrufen, sollten wir die Debatte darüber nicht „“vorschnell als Neiddebatte abtun““.
In der Tat: Es geht um das gemeinsame Interesse, dass das Vertrauen in unsere wirtschaftliche und politische Ordnung nicht insgesamt Schaden nimmt.
Der Bundespräsident hat zu alledem keine Vorschläge zu machen. Aber die lebendige Debatte darüber braucht die Gesellschaft! Führen wir sie nicht, dann – sage ich voraus – werden Populisten unterschiedlicher Couleur sie gegen die Demokratie verwenden!
Und dafür brauchen wir eine Kultur des demokratischen Streits!
Selten werden wir alle derselben Meinung sein. Umso wichtiger ist, dass wir das gemeinsame Fundament von Demokratie pflegen, aber die Auseinandersetzung über Ideen, Optionen, Alternativen nicht scheuen. Wir brauchen das Dauergespräch unter Demokraten – nicht die tägliche Selbstbestätigung unter Gleichgesinnten. Warum nicht mal mit denen sprechen, die Facebook uns nicht als Kontakt vorschlägt? Warum nicht überhaupt mal den Blick vom Smartphone heben und ins wirkliche Leben schauen?
Ich will, dass diese Gesellschaft miteinander im Gespräch bleibt. Der Raum von Demokratie: das ist einer, in dem viele zu Wort kommen müssen, ja – in dem es aber auch ein paar geben muss, die zuhören. Ich will, dass wir uns rauswagen aus den Echokammern, auch aus mancher Selbstgewissheit der intellektuellen Ohrensessel. Und erst recht aus der Anonymität des Netzes, wo die Grenze zwischen Sagbarem und Unsäglichem immer mehr schwindet, wo eine Sprache von aggressiver Maßlosigkeit herrscht und täglich neue Erregungswellen erzeugt. Und vor allem will ich, dass wir in Deutschland festhalten am Unterschied von Fakt und Lüge. Wer das aufgibt, der rührt am Grundgerüst von Demokratie!
Vor einigen Monaten fragte mich ein prominentes Mitglied dieses Hauses – wohlgemerkt ganz wohlwollend: „“Herr Steinmeier, nach so vielen Jahren in der Politik – können Sie da eigentlich neutral sein““?
Die ehrliche Antwort ist: Nein, ich bin nicht neutral. Überparteilich ja, wie es das Amt verlangt. Aber neutral darf ich gar nicht sein, wenn es um das Grundsätzliche geht. Deshalb sage ich Ihnen: Ich werde parteiisch sein – parteiisch für die Sache der Demokratie!
Partei ergreifen werde ich auch für Europa! Und ich freue mich über die vielen Menschen, die in diesen Tagen auf die Plätze gehen und uns den Puls von Europa wieder spüren lassen!
Sie erinnern uns daran, wie viel gerade wir Deutsche dem vereinten Europa zu verdanken haben: die Rückkehr unseres Landes in die Weltgemeinschaft; Wiederaufbau, Wachstum und Wohlstand; und vor allem: 70 Jahre Frieden! Das verdanken wir denen, die nach 1945 Mut hatten und die richtigen Lehren aus Jahrhunderten von Kriegen gezogen haben.
Mut zu Europa – den brauchen wir auch heute. Es ist ja richtig: Europa ist weit entfernt davon, perfekt zu sein. Und das wissen wir auch nicht erst seit dem Brexit. Wir dürfen nicht schönreden, was schlecht läuft. Und selbstverständlich ist dringend Zeit für mutige Reformen! Dabei muss vielleicht auch nicht jedes Detail des institutionell verfassten Europas mit Zähnen und Klauen verteidigt werden.
Aber denen, die heute meinen: „“Ach, ich habe dieses Europa über – lieber zurück hinter die vertrauten Butzenscheiben der Nation““ – denen sage ich: Das ist zu einfach, und das ist der falsche Weg! Jean-Claude Juncker hat gesagt: „“Wir haben nicht das Recht, gegeneinander patriotisch zu sein.““ Ich sehe es genauso: Aufgeklärter Patriotismus und Einstehen für Europa, das geht Hand in Hand. Denn – auch wenn wir es nicht so nennen – für viele unserer Kinder ist Europa längst ein ‚zweites Vaterland‘ geworden! Deshalb lassen Sie uns Partei ergreifen – für ein besseres Europa; eines, das für die politische Freiheit steht; das sein Gewicht einsetzt für eine friedlichere und gerechtere Welt und für gute Nachbarschaft! Dafür will auch ich gerne streiten – mit möglichst vielen von Ihnen!
All die Mutigen; all die, die Partei ergreifen für die Demokratie, werden den Bundespräsidenten an ihrer Seite haben. Meine Antrittsbesuche in unseren Bundesländern werden eine Deutschlandreise besonderer Art sein: Ich will an die Orte der deutschen Demokratie gehen – und vor allem hin zu den Menschen, die sie leben und beleben – die, um auf Shimon Peres zurückzukommen, dem guten Wolf das Futter geben!
Ich will zu denen, die nach ihrem wohlverdienten Feierabend in Kommunalparlamenten um das Schwimmbad oder die Bücherei in der Nachbarschaft ringen; zu den kleinen und mittelständischen Unternehmen, die auf den Märkten der Welt bestehen müssen, aber die zugleich Verantwortung für ihre Mitarbeiter und Heimatregionen zeigen; zu den Betriebsräten, die geholfen haben, dass Unternehmen auch die Krisenjahre überstanden haben und die darauf achten, dass es fair zugeht in den Betrieben; zu denen, die in Kindergärten vorlesen oder im Hospiz Sterbende begleiten; und wenn ich allein alle diejenigen, die sich bis zur Erschöpfung für Flüchtlinge engagiert haben, mit einem Orden auszeichnen wollte – und glauben Sie mir: das würde ich gern – dann wäre allerdings schon jetzt klar, womit ich die nächsten fünf Jahre vollauf beschäftigt bin.
Doch das muss ich gar nicht. Denn wenn ich mit Feuerwehrleuten, Rot-Kreuz-Helfern, Jugendtrainern oder Kirchenvertretern spreche: Die warten nicht auf Orden. Sondern die sagen mir: „“Worum’s uns geht, ist nicht, was Du für Dich selber rausholst, sondern was Du für andere reingibst!““
Es sind viele Millionen in unserem Land, die sich um mehr kümmern als um sich selbst; die Verantwortung übernehmen für die Nachbarschaft, das Dorf, die Region; die helfen, wo Hilfe nötig ist. Nichts ist wertvoller als das, und das macht mich stolz auf unser Land und seine Menschen. Und weil das einzigartig ist und uns von vielen anderen Ländern unterscheidet, bin ich mir eben so sicher, dass wir den Stürmen der Zeit trotzen und unseren Kindern eine lebenswerte Zukunft schenken werden!
1949, am Tag, als unsere Verfassung in Kraft trat, sagte Theodor Heuss: „“Mit dem Grundgesetz ist ein ganz kleines Stück festen Bodens für das deutsche Schicksal geschaffen.““
Heute ist dieses Grundgesetz ein breites Fundament für das wiedervereinigte Deutschland.
1969 sagte Gustav Heinemann: „“Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. […] Freiheitliche Demokratie muss endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden.““ Heute ist sie uns ganz und gar selbstverständlich geworden.
1990, im Jahr der Einheit, sagte Richard von Weizsäcker: „“Nun gilt es, in der Freiheit zu bestehen. Das ist schwer.““ Heute setzen andere, die anderswo in Unfreiheit leben, ihre Hoffnungen in uns.
Meine Damen und Herren: Welch ein erstaunlicher Weg! Ist es nicht eigentlich ganz wunderbar, dass unser Land, ein Land mit dieser Geschichte, zu einem Anker der Hoffnung in der Welt geworden ist? Und ist es nicht ein unschätzbares Glück, dass wir – unsere Generationen – das erleben dürfen?
Wer also, wenn nicht wir, ist gefragt, mutig für die Demokratie zu streiten, wenn sie heute weltweit angefochten wird! Das ist der Mut, den wir brauchen! Keinen Kleinmut – dafür gibt es keinen Grund. Keinen Hochmut – davon hatten wir in Deutschland genug. Sondern den lebenszugewandten Mut von Demokraten!
Herzlichen Dank.
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