Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus: „Die Shoah ist Teil unserer Identität“

"Es gibt kein Ende der Erinnerung"

Auschwitz. Bild von Peter Tóth auf Pixabay

„Die Shoah ist Teil unserer Identität“, sagte Bundespräsident Steinmeier bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag. „Wenn wir heute die Shoah verdrängen, verharmlosen, vergessen, dann erschüttern wir damit auch das Fundament, auf dem unsere Demokratie gewachsen ist.“

In einem Wohnhaus in Odessa findet man heute, etwas versteckt, ein kleines Holocaust-Museum. Dort, in einer Vitrine hinter Glas, liegt ein armlanges Stück eines dicken Seils. Das Foto, das ich vor einiger Zeit davon gesehen habe, hat mich nicht mehr losgelassen.

Lieber Herr Schwarzman, vor vier Jahren haben wir uns beim Gedenken in Babyn Jar getroffen. Als wir uns gestern wiedersahen, haben Sie mir die Geschichte dieses Seils erzählt. Es ist der einzige Gegenstand, der heute noch an ein Mädchen aus Odessa erinnert. Das Mädchen hieß Rosa. Rosa ging noch zur Schule, und sie hatte einen guten Freund, Jakow. Sie beide teilten die Schulbank.

Rosa war 16 Jahre alt, als sie im Herbst 1941 ermordet wurde. In jenen Tagen und Wochen wurden tausende jüdische Kinder, Frauen und Männer in Odessa getötet oder aus der Stadt in Ghettos in der Umgebung getrieben. Als Rosa erhängt wurde, einzig und allein, weil sie Jüdin war, sah ihr Freund Jakow sie sterben. Eine Woche lang ließ man sie am Strick hängen. Jakow sah ihren Leichnam und konnte nichts tun. Als man ihren Körper endlich abnahm, blieb nur dieser Strick zurück. In seiner Verzweiflung und Trauer nahm Jakow ihn mit – das Einzige, was er als Erinnerung an seine Freundin bewahren konnte. Ein Stück des Stricks, der ihr den Tod brachte.

Viele Jahre später kam ein alter Mann mit einer alten Tasche in das Museum in Odessa, das Sie, Herr Schwarzman, gemeinsam mit anderen gegründet hatten, um die Erinnerungen der Überlebenden der Shoah zu sammeln und zu bewahren. Der, der da kam, war Jakow. Er brachte Ihnen den Strick, erzählte die Geschichte von Rosas Ermordung und sagte: „Jetzt kann ich ruhig sterben, weil meine Jugendfreundin eine würdige Erinnerung hat.“ Zwei Monate später starb er.

Was die Deutschen und ihre Mittäter auf dem Gebiet der heutigen Ukraine exekutierten, war ein Feldzug der Vernichtung. Er begann schon, bevor die Deutschen ihren Plan zur systematischen Ermordung der europäischen Juden in Todeslagern in die Tat umsetzten. Das jüdische Leben wurde ausgelöscht, in Odessa, in Babyn Jar, in Czernowitz, in Cherson, Charkiw, Dnipro.

Wir erinnern heute an Rosa und an alle anderen Kinder, Frauen und Männer, die damals in der Ukraine und in ganz Europa ermordet worden sind. Wir schulden den Opfern eine würdige Erinnerung. Wir vergessen sie nicht.

Lieber Herr Schwarzman, Sie selbst sind ein Überlebender der Shoah. Sie waren im Ghetto von Berschad im damaligen Transnistrien gefangen – als fünfjähriger Junge, mit Ihrer Mutter und Ihren Geschwistern. Sie litten Hunger. Sie hatten Angst. Sie sahen Ihren Bruder sterben. Als kleiner Junge waren Sie umgeben von Schmerz, Entsetzen, Grausamkeit. Sie wurden Zeuge eines Massenmordes.

Das unglaubliche Leid, das Sie ertragen mussten, hat Sie nicht gebrochen. Sie haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, den Opfern und den Überlebenden der Shoah in Odessa und auf dem ganzen Gebiet der heutigen Ukraine eine Stimme zu geben. Ohne Menschen wie Sie, Herr Schwarzman, gäbe es keinen Ort, an dem Jakows Erinnerung an Rosa weiterlebt. Heute setzen Sie sich dafür ein, den Opfern des Massakers in Odessa ein Denkmal zu setzen, und Deutschland unterstützt Sie dabei.

Ich bin Ihnen zutiefst dankbar dafür, dass Sie sich auf den Weg gemacht haben aus Ihrer angegriffenen Heimatstadt hierher zu uns. Ich empfinde es als eine Ehre, dass Sie heute zu uns sprechen. Und ich versichere Ihnen: Mein Land steht an Ihrer Seite bei Ihrer wichtigen Erinnerungsarbeit, aber auch an der Seite Ihres Landes in diesem furchtbaren Krieg, den Putin gegen die Ukraine, ihre Freiheit und Unabhängigkeit, gegen die Menschen in der Ukraine führt. Wir werden Sie weiter unterstützen; wir stehen an Ihrer Seite und bleiben an Ihrer Seite. Danke, Herr Schwarzman, dass Sie hier sind!

Meine Damen und Herren, wir sind heute zusammengekommen, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. 80 Jahre ist es her, ein stattliches Menschenalter. 80 Jahre ist es her, dass das Vernichtungslager Auschwitz am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde.

Wir alle haben in unseren Köpfen und Herzen Bilder, die für uns das Grauen der Shoah darstellen. In diesen Tagen sehen wir wieder jene Fotos, die längst zu Symbolen geworden sind. Wir sehen die von den Befreiern aufgenommenen Filmszenen in Schwarz-Weiß. Wir sehen die aufgeschichteten Leiber von Toten, wir sehen die ausgezehrten Gesichter von Überlebenden. All das sehen wir wieder und wieder. Seit 80 Jahren. Das ist notwendig. Und doch liegt auch eine Gefahr darin. Die oft gesehenen Szenen, die bekannten Worte der Mahnung, die Routine der Erinnerung bergen die Gefahr einer falschen und trügerischen Gewissheit: Sie machen es uns leicht zu glauben, wir hätten vollends verstanden, was geschehen ist. Sie machen es uns leicht zu glauben, wir wüssten alles. Und sie machen es uns leicht, der Versuchung zu erliegen, all diese Bilder, Geschichten und Worte gedanklich in einer großen Kiste zu sammeln, auf deren Deckel steht: All dies ist so lange her.

Aber die Zeit ändert nichts daran, was geschehen ist. Die historische Wahrheit lässt sich eben nicht wegpacken! Wir müssen uns dieser Wahrheit immer wieder von Neuem stellen. Und wir dürfen nicht darin nachlassen, sie den Nachkommenden weiterzuerzählen.

Dabei werden wir immer weniger die Gelegenheit haben, den Zeitzeugen zuzuhören. Wir werden besonders für die jungen Menschen neue Formen des Erinnerns finden müssen. Formen, die zunächst einmal das Wissenwollen in den Vordergrund rücken. Formen, die deutlich machen, dass wir alle – nicht nur die Jungen – immer noch Suchende, Lernende sind. Es ist eine Aufgabe unserer Generation, überall in Europa gegen das Vergessen zu arbeiten. Eine Aufgabe, bei der wir nicht scheitern dürfen.

Deshalb bin ich gerade in diesen Zeiten den Menschen, die in deutschen Gedenkstätten forschen, lehren und arbeiten, so dankbar für ihr Engagement. Dass die Gedenkstätten heute aus politischen Gründen angegriffen und geschändet werden, dass Mitarbeiter beleidigt und bedroht werden, muss uns alarmieren! Diese systematischen Angriffe zielen ab auf Einschüchterung, auf Zerstörung und am Ende auf die Diskreditierung der Erinnerung und die Umschreibung der Geschichte.

Wenn Gedenkstätten statt für Bildungsarbeit einen immer höheren Anteil ihres Etats für Sicherheitsmaßnahmen ausgeben müssen, dann ist das eine Schande. Das dürfen wir nicht hinnehmen in diesem Land!

Vor zwei Tagen war ich, gemeinsam mit Holocaust-Überlebenden und Repräsentanten der deutschen Politik, in Auschwitz. Es ist nicht weit von Berlin, unserer Hauptstadt, in der all das erdacht wurde, was dort geschah. Dort zwischen den Baracken zu stehen, bedeutet, vor einer unausweichlichen Wahrheit zu stehen: Deutsche haben dieses Menschheitsverbrechen organisiert und begangen. Deutsche haben diesen Abgrund der Unmenschlichkeit gegraben, sie haben ihn geplant, vermessen und berechnet. Die Opfer haben diesen Abgrund durchschritten bis an sein Ende.

Dieser Ort macht uns klar: Die Shoah ist ein Teil der deutschen Geschichte. Sie ist, ob wir wollen oder nicht, Teil unserer Identität. Es gibt kein Ende der Erinnerung und deshalb auch keinen Schlussstrich unter unsere Verantwortung.

„Nie wieder!“, das bedeutet nicht nur, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland, in Europa, in Israel sicher leben können. Es bedeutet, dass sie in unserem Land Teil unseres gemeinsamen Wir sind und bleiben. Das heißt längst nicht mehr nur „Wehret den Anfängen!“, darauf hat Michel Friedman zu Recht hingewiesen. Es müsste längst heißen: „Bedenke das Ende!“, wenn Antisemitismus Alltag ist in unserem Land, auf unseren Straßen und Plätzen, in Schulen und Hochschulen. Das dürfen wir in unserem Land mit unserer Geschichte niemals zulassen!

Wir Deutsche haben Lehren aus unserer Geschichte gezogen. Wir haben darauf unsere Verfassung gebaut. Die Würde des Menschen ist unantastbar – das ist die Antwort auf die ungeheuerlichen deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unsere Demokratie ist die Antwort auf Rassenwahn und Nationalismus.

Diese Lehren bleiben richtig und gültig, auch in einem Land, das sich verändert. Sie haben uns getragen, uns Jahrzehnte des äußeren und inneren Friedens garantiert. Sie haben Vertrauen wachsen lassen, bei unseren Partnern in Europa und der Welt und sogar bei denen – welch ein Geschenk! –, die einst Opfer der Deutschen geworden sind. Das Bekenntnis zu unserer fortdauernden Verantwortung und die Erfolgsgeschichte unserer Demokratie, beides gehört zusammen, und ich würde mir wünschen, dass das so bleibt.

Wenn wir heute die Shoah verdrängen, verharmlosen, vergessen, dann erschüttern wir damit doch auch das Fundament, auf dem unsere Demokratie gewachsen ist. Und umgekehrt gilt: Wer heute die Demokratie lächerlich macht, verachtet, angreift, der ebnet auch den Weg zu Hass, Gewalt und Menschenfeindlichkeit.

Deshalb hat uns doch vorgestern in Auschwitz der Überlebende Leon Weintraub, 99 Jahre alt, so eindringlich und fast verzweifelt gewarnt: „Nehmt die Feinde der Demokratie ernst!“ Und ich wiederhole es hier im Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren: Nehmt die Feinde der Demokratie ernst!

Wir leben in einer Zeit der Entscheidung. Wir haben es in der Hand, das Errungene zu bewahren und unsere Demokratie zu schützen. Gehen wir nicht zurück in eine dunkle Zeit. Wir wissen es besser. Machen wir es besser!

Quelle: Bundespräsident.de

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Frank-Walter Steinmeier ist ein deutscher Politiker (SPD). Er ist seit 19. März 2017 der zwölfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Steinmeier wurde bei der Wahl am 13. Februar 2022 wiedergewählt. Von 1999 bis 2005 war Steinmeier Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder, von 2005 bis 2009 (Kabinett Merkel I) Außenminister und ab 2007 auch Vizekanzler der Bundesrepublik. Seine zweite Amtszeit als Außenminister dauerte von 2013 bis 2017 (Kabinett Merkel III).