Fotospaziergänge der Superlative

Die Fotografie (der Begriff wurde übrigens erstmals – noch vor englischen oder französischen Veröffentlichungen – am 25. Februar 1839 vom Astronomen Johann Heinrich von Mädler in der Vossischen Zeitung – eine überregional angesehene Berliner Zeitung – verwendet) wurde in ihrer Geschichte schon vielfach zu Grabe getragen. Völlig zu Unrecht. Denn das Medium erweist sich heute als vitaler und facettenreicher denn je zuvor. Vor allem die rasanten technologischen Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre haben dem Umgang mit fotografischen Bildern zu einer neuen Konjunktur verholfen. Die Faszination, die nach wie vor von ihr ausgeht, liegt wohl in ihrem besonderen Verhältnis zur Welt begründet – in der „mit ihr verbundenen Zeugenschaft von Gegenwärtigem und Vergangenem“.

Eine der prestigevollsten Auszeichnungen im Profi- und Nachwuchsprogramm der Foto-Branche findet jedes Jahr mit den vom schwedischen Kamerahersteller Hasselblad ausgelobten Hasselblad-Masters statt. Der Masters Award in den Kategorien „Fine Art“, „Natur/Landschaft“, „Soziales/Hochzeit“, „Portrait“, „Mode“, „Editorial“, „Produkt“, „Architektur“, „Allgemeine Fotografie“, „Up & Coming“ und „Wildlife“ beurteilt die Kreativität, Bildkomposition, konzeptionelle Stärke und technisches Können. Den Gewinnern wird im Anschluss die Möglichkeit gegeben, mit erstklassigem Fotoequipment ausgestattet, ein vorgegebenes Thema völlig frei zu interpretieren. Dieses Mal sollten sie den Begriff „evozieren“ („Vorstellung erzeugen“, „entfesseln“, „provozieren“, „bewirken“, „erregen“) auf ihre eigene, unverwechselbare Weise auslegen. Wie die elf Fotografen, die fast alle in unterschiedlichen Fotogenres angesiedelt sind, das Projekt bewältigten, offenbart sich als unglaublich faszinierendes und spannungsreiches Unterfangen.
Einen äußerst würdigen Rahmen haben die atemberaubenden, bewegenden und/oder aufwühlenden Fotos in dem vorliegenden großformatigen und hochwertigen Sammelband gefunden. Und wahrlich: Die Fotografen entfesseln mit ihren Fotos. Sie bewirken mitunter ein unglaubliches Staunen oder aber erregen alle Sinne des Betrachters. Allen wohnt eine unbändige Entdeckerlust inne. Und mitunter provozieren sie gewaltig.
So der polnische Fotograf Milosz Wozaczynski, der seine Brautpaare fernab des allgemein gängigen Hochzeitsklischees ansiedelt. Wunderschöne, zum Teil nackte Frauen und einen sie skeptisch betrachtenden reiferen Herren sind auf allen Seiten zu sehen. Doch die Schönheit trügt. Plötzlich zeigt er ein Mädchen mit nur einem Bein und wo einmal ihre schmalen Arme waren, ragennur zwei Stümpfe hervor. Aber auch voluminöse und üppige Bräute nimmt der distinguierte Herr interessiert, manchmal auch gelangweilt in Augenschein. Wozaczynskis Foto sind mit einer großen Ladung von Emotionen geladen, von positiven!
Ebenso provokant wie erregend sind die Aufnahmen von Jon Lowenstein. Der 1970 in den USA geborene Fotograf hinterfragt in seinen Fotodokumentation den Status Quo. In seinen Bildern treffen Macht, Armut und Gewalt aufeinander. Rosa Handschellen, Gefangene und Wärter geben sein „Evoke“ eindrucksvoll wieder.
Ganz anders wiederum kommen die Aktbilder von Olivier Valsecchi daher, die zu wahren Kunstwerken drapiert werden. Entgegen dem, was der Betrachter vermutet, ist das Subjekt des Franzosen nicht das Nackte an sich, sondern der entblößte Körper ist lediglich das Material, das er benutzt, um Atmosphäre zu schaffen. „Es verhält sich wie beim Bildhauer, der den Ton benutzt, um die Form zu zerlegen. Nacktheit ist wichtig, letztlich ist es aber doch nur eine Anekdote.“, stellt er in einem Interview dar.
Von unglaublicher Intensität und Attraktivität offenbaren sich wiederum die Aufnahmen des Belgiers Tom D. Jones. Wasserfälle, Gletscher, Eis und die gischtschäumende Brandung an einer Küste sind von einer fast unnatürlichen Anmut und Schönheit. Manchmal weichgezeichnet, dann wieder mit unglaublicher Tiefenschärfe, paaren sich Ausstrahlung und Charisma mit der Zerbrechlichkeit unserer Natur.
Ähnliches trifft auf den Deutschen Fotografen Joachim Schmeisser und dessen Wildlife-Aufnahmen von Elefanten und Menschenaffen in ihrer natürlichen Umgebung zu.
Im Kontrast dazu stehen die fast kühl wirkenden Architektur-Fotos von Frank Meyl. Ihr Wesensmerkmal ist vor allem, den Blick auf das Wesentliche, oft Unsichtbare zu leiten. Wirrwarr oder überfrachtete Bildkompositionen gibt es bei ihm nicht. „Schönheit und Inhalte suche ich gerne an Orten, wo man sie nicht unbedingt erwartet, denn Fotografie ist wie Alchemie für mich: aus so manch unscheinbarer Situation lassen sich die interessantesten Bilder schaffen.“, so der deutsche Fotograf.
Auf alle Preisträger und ihre in diesem beeindruckenden Band enthaltenen Fotos einzugehen würde den Rahmen sprengen. Eines ist jedoch sicher: Sie sind allesamt außergewöhnlich und einzigartig, ziehen den Betrachter unweigerlich in den Bann und lassen ihn nicht mehr los. Eine Gemeinsamkeit haben sie trotz ihrer Individualität alle: Sie sind ästhetisch, aber beinahe schon zu perfekt.
Die einzigartigen Fotografien sind auch in einer Sonderausstellung der photokina 2012 in Köln zu sehen, die anschließend auf Welttournee geht.

Hasselblad Masters
Vol. 3: Evoke
teNeues Verlag, (September 2012)
240 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 383279607X
ISBN-13: 978-3832796075
Preis: 79,90 EURO

Finanzen

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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