Fortschritt mit Gottesglauben?

Es ist heute ein Gemeinplatz, „die Aufklärung“ als eine der wichtigsten Grundlagen der europäischen Zivilisation zu sehen; jedenfalls wird sie derzeit wieder ständig angeführt, wenn es darum geht, gegen was auch immer „die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen“. Zweifellos hat die Emanzipation von hemmenden Bindungen aller Art und der Primat der Vernunft zu grandiosen Ergebnissen geführt. Dabei sollte der Anteil des bereits am Beginn der bürgerlichen Epoche aufkommenden kapitalistischen Wirtschaftens an dieser Entwicklung, der kaum überschätzt werden kann, nicht unterschlagen werden. Allerdings wird die Aufklärung, historisch bedingt, zu undifferenziert in einen unversöhnlichen Gegensatz zu „den Religionen“, speziell dem kirchlich verfassten Christentum, gesetzt, die ihm vernunftwidrig erschienen seien.
Auch werden gerne ihre negativen Begleiterscheinungen ausgeblendet, wie sie zum Beispiel schon vom Zeitgenossen der Epoche der Aufklärung, Marquis de Sade, angedeutet wurden. Wer ja sagt zur Französischen Revolution und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, darf nicht leugnen, dass sie mit dem Raub von Eigentum durch massenhafte Enteignung, staatlichem Terror und Bürgerkrieg sowie aggressivem Nationalismus einherging, der sich über anderthalb Jahrhunderte hinweg, von Napoleon Bonaparte ausgehend, in Stufen immer weiter steigerte – einer der größten Bonaparte-Bewunderer war Adolf Hitler.

Gegensatz zwischen Christentum und Modernität?

Eine historisch-ausgewogene Sichtweise sieht im Mittelalter nicht etwa, wie die Aufklärer, ein „dunkles Zeitalter“, sondern eines, in dem das Heilige und das Profane noch eine gute Beziehung eingehen konnten. Seit der Reformation wäre, so gesehen, ein Verfall dieser geistigen und geistlichen Kohärenz zu beobachten. Mit dem Verdrängen des Heiligen hat der Mensch, so betrachtet, seinen metaphysischen Halt verloren und sich zunehmend dem Zähl- und Messbaren, also der Technik im weiten Sinne ausgeliefert. Das bedeutet dann keineswegs einen uneingeschränkten Fortschritt, sondern im Gegenteil einen Abstieg in ein – eventuell immerhin sozial behütetes – „Fellachentum“. Heute wird auch von Historikern, die diese überwiegend positive Einschätzung nicht teilen, zugegeben, dass das Mittelalter keineswegs ein statisches Zeitalter gewesen ist, sondern eine Dynamik hatte, die möglicherweise weniger zerstörerisch war als die von der Aufklärung angestoßene. Jedenfalls ist es unzulässig, in teleologischer Weise zum Beispiel die Renaissance aufgrund der faktischen Entwicklung mehr der Moderne als dem Mittelalter zuzuordnen: Zwar ist sie historisch der Vorläufer der Aufklärung, kann aber auch als Stufe in der mittelalterlichen Geschichte gesehen werden; auf jeden Fall hätte aber die Entwicklung auch anders verlaufen können. Geschichtsdeutung ist immer rückwärtsgewandte Prophetie.
Aufklärer wie Rousseau, Voltaire, d’Alembert, Hume und Gibbon wandten sich tatsächlich gegen religiöse Vorstellungen an sich, ja, man kann sie als Feinde des Christentums bezeichnen. Dass sie persönlich ihr Mut in Zeiten ehrt, die noch unter dem Eindruck der Gewaltexzesse der Religionskriege standen und in denen freies Denken ein Risiko bedeutete, das allerdings geringer war als später in den aufgeklärten säkularen und atheistischen Staaten das Bekenntnis zum Glauben, macht ihre Argumente nicht unbedingt besser. Eine bestimmte Form der Aufklärung setzte sich durch, die Rede von Gott entfernte sich immer mehr vom dogmatischen Gottesbild der christlichen Kirchen und wurde spöttisch, überhaupt ablehnend oder bestenfalls metaphorisch. Zwar war die Philosophie bei Hegel und Kierkegaard und auch späteren Denkern immer noch (auch) Theologie, doch der „Gott der Philosophen“ war definitiv ein anderer als der, an den die Gläubigen glaubten. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse trugen dazu bei; besonders Darwins Evolutionstheorie erschütterte neben den physikalischen Erkenntnissen zur Kosmogenese den Glauben an den Schöpfergott. Es wurde zuletzt ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz zwischen dem Christentum und modernem Denken konstruiert.

Die Vereinbarkeit von Glauben und Vernunft

Gottfried Wilhelm Leibniz war vielleicht der letzte Philosoph, der Gott nicht als Metapher gedacht hat, sondern als evangelischer Christ seine strikt vernünftigen Erkenntnisbestrebungen in der Erkenntnis Gottes münden ließ. Leibniz hielt die christliche Religion nicht nur für mit der Vernunft vereinbar, sondern geradezu für vernünftig. Gott tut nichts ohne logischen Grund, er ist die absolute Vernunft selbst, der höchste Geist (monas monadum). Dass es sich für ihn nicht um einen philosophischen Gott gehandelt hat, zeigen unter anderem seine konkreten Bemühungen um eine Überwindung der Kirchenspaltung und seine Briefe an Jesuiten der Chinamission, in denen er auf rituelle Fragen eingeht. Auch bei Leibniz ist (wie bei den Aufklärern) die Philosophie keine Magd der Theologie mehr, aber es ging ihm nicht um einen Aufstand der Vernunft gegen den Glauben, sondern um die Ermöglichung des Glaubens durch den Nachweis einer Vereinbarkeit mit der Vernunft.
Mit Leibniz zeigt sich, dass die geistige Entwicklung Europas auch anders hätte verlaufen können. Er gilt heute als Vorläufer der Aufklärung, womit implizit kritisiert wird, dass ihm noch der Abstand zur Religion gefehlt habe. Genau dies scheint aber eine Schlussfolgerung, die füglich bezweifelt werden kann. Die europäische Aufklärung und mit ihr die dynamische Entwicklung des theoretischen und praktischen Wissens hätten durchaus nicht unter Ausschluss von Religion und Gottesglauben erfolgen müssen. Die ungeheure Breite der Betätigungsfelder, von denen nur auf das von Leibniz entdeckte binäre (digitale) Zahlensystem hingewiesen sei, das heute jedem Computer zugrunde liegt, zeigt eindeutig, dass gerade auch der technische Fortschritt, auf den sich die atheistische Moderne so viel einbildet, unter Bewahrung metaphysischer Vorstellungen möglich gewesen wäre. Leider hat Leibniz nur wenig zu Lebzeiten publiziert, sodass seine Wirkung im 18. und 19. Jahrhundert gering war. Der Bruch in der europäischen Moderne wäre ansonsten möglicherweise nicht oder nicht so erfolgt; notwendig jedenfalls ist er nicht gewesen.

Universale Harmonie als Einheit der Vielfalt

Der Philosoph und Leibniz-Spezialist Hans Poser fasst zusammen: „Ein zentraler Gedanke von Leibniz war die universale Harmonie als Einheit in der Vielheit. Die Einheit Europas beruhte für ihn vor allem auf der griechisch-römischen Rechtstradition und dem christlichen Glauben, die er beide in besonderem Maße als vernunftbegründet ansah. Die Verschiedenheit hingegen, die es bei gleichzeitigem Austausch bewährten Wissens zu bewahren galt, sah er in den spezifischen Traditionen von Regionen und Nationen als Ausdruck ihrer Geschichte, gespiegelt in den jeweiligen Sprachen und Dialekten.“ Die Harmonie, und das ist ein verbreitetes Missverständnis, bedeutete für Leibniz keineswegs Konfliktfreiheit, doch ermöglicht erst die Disharmonie den Ausgleich, der dann in immer weiterer Vervollkommnung zur Harmonisierung des Verschiedenen führt.
Leibniz hätte den Gedanken der Gleichheit nie zur Perversion einer Vereinheitlichung geführt: Keinesfalls dürften die Teile eines Ganzen gleich sein. Den heute in Brüssel von vielen vertretenen Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa, einem Einheitsbrei durcheinandergewürfelter Völkerschaften aus Ländern der ganzen Welt, der durch eine seelenlose Bürokratie und immer mehr Reglementierung zusammengehalten wird, mögen linke staatsgläubige Internationalisten, die sich in der Tradition der Aufklärung wähnen, als kleinsten gemeinsamen Nenner attraktiv finden, sicher ist, dass Leibniz ihn abgelehnt hätte, weil er vernunftwidrig ist. Die Harmonie Europas bedarf der Verschiedenheit, nämlich des Miteinanders unterschiedlicher Nationalstaaten. Vielleicht sollte nicht nur bei der Frage der Vereinbarkeit von Glaube und Vernunft, sondern auch in dieser Hinsicht politisch wieder bei Leibniz angeknüpft werden.

Über Adorján F. Kovács 37 Artikel
Prof. Dr. mult. Adorján Ferenc Kovács, geboren 1958, hat Medizin, Zahnmedizin und Philosophie in Ulm und Frankfurt am Main studiert. Er hat sich zur regionalen Chemotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren für das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie habilitiert. Seit 2008 ist er für eine Reihe von Zeitschriften publizistisch tätig. Zuletzt erschien das Buch „Deutsche Befindlichkeiten: Eine Umkreisung. Artikel und Essays“.

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