Flutkatastrophe im Ahrtal – Wie nach 1945

Von der Flut betroffen: Laurentius und Rosenkranzkirche in Bad Neuenahr Ahrweiler, Fotos: Vallendar

Nach der verheerenden Flutkatastrophe im rheinland-pfälzischen Ahrtal im Juli 2021 engagieren sich Katholiken vor Ort als Anpacker und Seelsorger – mit Optimismus, Herzenswärme und kreativen Ideen. Viele Helfer stammen aus den neuen Bundesländern.

„Terny“, so nennen ihn Freunde und Familie. Denn Maternus „Terny“ Fiedler ist im Ahrtal so etwas wie eine Institution; ein Urgestein, das viele kennen und mögen. Früher war der zweifache Vater Beamter, hat Jura studiert und dann als Geschäftsführer für Marketing und Tourismus gearbeitet. Sein Lateinlehrer meinte einst, dass Maternus der „Mütterliche“ heiße, was ihm erst Gejohle und später Respekt und Anerkennung einbrachte. Denn Maternus Fiedler hat tatsächlich eine „mütterliche“ Ader, heißt es; einer, der da ist, wenn es brennt, und der aus seiner Heimat nie wegziehen würde, „egal was passiere“, sagen die, die ihn kennen. Zusammen mit vielen anderen Katholiken im Ahrtal sorgte Maternus Fiedler im vergangenen Juli dafür, dass es nach der Jahrhundertflut irgendwie weiterging. Dass die Verwüstungen an Hab und Gut, die Verheerungen in Seele, Körper und Geist einigermaßen erträglich wurden.

Hilfe aus der Diaspora

Mindestens 134 Todesopfer hat die Flut mit der Wucht eines Tsunami gefordert, darunter zwölf Bewohner einer Behinderteneinrichtung im benachbarten Sinzig. Zwar sind die Spuren der Flutnacht zwischen Dernau, Rech und Bad Neuenahr-Ahrweiler weithin sichtbar. „Doch immerhin haben wir fast sämtlichen Müll und viel vom giftigen Schlamm beseitigt“, sagt Fiedler beim Gespräch in der „Ahrche“, einem gesponserten Treffpunkt für Menschen, die von dem nächtlichen Drama im vergangenen Sommer besonders hart getroffen wurden. Die Ahrche, benannt nach der alttestamentarischen Erzählung mit Noah als von Gott gesandtem Akteur an der Spitze, wirkt wie eine Insel der Hoffnung in einer weithin zerstörten Stadt; errichtet unter einem Festzeltdach, wo man sich bei Bedarf mit Werkzeug und Material für den Wiederaufbau eindecken kann. Die beheizbare Behelfsunterkunft, unweit des früheren Klosters Kalvarienberg gelegen, ist – wie so vieles andere in den zurückliegenden Monaten – vor allem unter tatkräftiger Mithilfe katholischer Ehrenamtler zustande gekommen, von denen einige auch aus Chemnitz, Rostock und anderen ostdeutschen Diasporaregionen angereist sind. „Jetzt weiß ich, wie sich Heimatvertriebene nach 1945 gefühlt haben müssen“, sagt eine junge Frau aus Thüringen am Nebentisch, während sich andere an der Salattheke bedienen, Zeitung lesen oder vor sich hindösen.

Aller Widrigkeiten zum Trotz scheint auch im Ahrtal das normale Leben weiterzugehen, scheinen sich die Menschen mit dem Sprung in die Nachkriegszeit irgendwie arrangiert zu haben, auch wenn die rundum sichtbaren Zerstörungen immer wieder für Kummer, Wut und Zukunftsängste sorgen.

Fast im Dauereinsatz ist seit der Flut der katholische Pfarrer Jörg Meyrer, der durch seine einfühlsame Art ein gefragter Seelsorger, Konfliktberater und Ansprechpartner ist. Auch Meyrer hat keine Antwort auf die die Menschen bewegende Frage, warum Gott das Naturdrama zugelassen hat, warum sich die scheinbar friedliche Ahr, die so gern als Fotomotiv für Meditationspostkarten genutzt wurde, als todbringendes Monster entpuppte; dass aus 30 Metern Flussbreite plötzlich 500 wurden, und das bei sieben Metern Tiefe.

Neuer Radiosender

Mehr als 300.000 Tonnen Sperrmüll mussten Ende Juli 2021 aus dem Ahrtal entsorgt werden, ein Vielfaches dessen, was in normalen Jahren anfällt. Mehrere Schulen zogen in Behelfsunterkünfte, darunter ein Gymnasium und eine Berufsschule mit über tausend Schülern. Und von den vielen Brücken, die einst die Ahrufer verbanden, stehen heute nur noch Trümmerreste. Auch Maternus Fiedler selbst ist betroffen, sagt er, und zeigt Aufnahmen seines verschlammten Kellers, aufgenommen einen Tag nach der Flut am 15. Juli 2021. Ein Tag, der sich eingebrannt hat wie einst wohl nur der 9/11 in den USA, nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York.  Ein Tag, der das Leben für viele Bürger um hundertachtzig Grad gewendet hat; und das Leben „davor“ erscheinen lässt, wie einen schönen Traum, der weiterlebt in Fotoalben, Chroniken und persönlichen Erinnerungen. Wer heute durch die einst blühende Kurstadt geht, erlebt eine Geisterstadt mit aufgerissenen Straßen, zugebretterten Türen und Schaufenstern, wo abends nur hier und da ein Fenster erleuchtet.

Wie nach Kriegsende

Und dennoch. Von der wahr gewordenen Apokalypse lässt sich Maternus Fiedler – zumindest nach außen hin – kaum etwas anmerken. Der 67-Jährige hat direkt nach der Flut mit angepackt und ist mittlerweile das operative Hirn zahlreicher Initiativen engagierter Katholiken, die sich direkt nach der Flut im Ahrtal gebildet haben. So kam etwa das im Oktober neu an den Start gegangene „Ahrtalradio“ unkompliziert in den Räumen einer Pfarrgemeinde im nahen Heppingen unter. Täglich senden die Macher auf UKW und im Internet, wozu neben Neuem rund um die Flutfolgen auch Gottesdienstübertragungen gehören. Einer der Mitarbeiter ist Klaus Angel (52), examinierter Historiker, Lokalredakteur und gelernter PR-Referent. Auch für den katholischen Verbindungsstudenten aus dem Saarland ist die weitgehend ehrenamtliche Arbeit beim Ahrtalradio eine „Herzenssache“, sagt er. Und nicht nur für ihn. Denn unter dem Dach der katholischen Kirche treffen sich mittlerweile auch Helfer, von denen schon einige überlegen, dauerhaft im Ahrtal zu bleiben, weil es da „so schön“ sei und vielen Zugereisten der rheinische „Menschenschlag“ gefalle. Tatsächlich haben katholische Christen, angefangen beim Neuenahrer Bürgermeister Guido Orthen, die Federführung beim Wiederaufbau im Ahrtal übernommen, obgleich auch sie von der Katastrophe nicht verschont blieben, wie sich zahlreichen E-Mails entnehmen lässt.

Sicher ist: Im Ahrtal ist nichts mehr so, wie es war, und niemand weiß, wie es werden wird, aller vollmundigen Versprechungen und „Planungen“ zum Trotz. Für das Ahrtal schlug am 15. Juli 2021 die Stunde Null, wie nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg; eine Zeit, in der sich viele neu aufstellen und vielleicht auch „neu erfinden“ mussten, so der katholische Liedermacher Stephan Maria Glöckner in einem TV-Interview; mit Ideen, Tatkraft und einer Portion Humor, wofür das karnevalistisch angehauchte Rheinland berühmt ist – selbst wenn vielen noch lange nicht zum Lachen zumute sein dürfte.  

Für Geldspenden an Flutopfer im Ahrtal hat die Pfarreiengemeinschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler den Fonds „Helfet einander“ eingerichtet:
Konto bei der Volksbank RheinAhrEifel IBAN DE11 5776 1591 0501 4284  03

Über Benedikt Vallendar 83 Artikel
Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.