Fluchtlinien und Zeitkorridore auf der Suche nach den Gespenstern der Vergangenheit

„Es passiert, dass du einen Gegenstand, an dem dir viel liegt, nach ein paar Tagen verlierst: vierblättriges Kleeblatt, Liebesbrief, Teddybär, während andere Gegenstände dich jahrelang hartnäckig verfolgen, ohne dich um deine Meinung zu fragen. Wenn du glaubst, sie endgültig losgeworden zu sein, tauchen sie in irgendeiner Schublade wieder auf.“
So geschehen dem Erzähler Bosmans aus Patrick Modianos neuem Roman. Zwei grüne Hefte flattern ihm eines Tages aus einer Schublade entgegen, die sich als ein früher Romanentwurf des mittlerweile gestandenen Schriftstellers entpuppen. Geschrieben ohne Rand und Absatz und mit einer kleinen, gedrängten Schrift, die er kaum als seine eigene wiedererkennt, scheint sie die weißen Seiten beinahe zu verdunkeln. Ein Name schleicht sich in sein Erinnerungsareal: Margaret Le Coz. Eine junge Frau, in deren Zimmer er damals vor vierzig Jahren diese schwarzen und bedrückenden Zeilen auf das weiße Papier setzte, es damit beinahe auslöschte. Wollte er damit sein Gefühl von Ersticken und Verlorensein ausdrücken? Was verband ihn damals in Paris mit diesem Mädchen, das nach einer kurzen gemeinsamen Zeit ebenso schnell wieder verschwunden war, wie sie zuvor beinahe aus dem Nichts auftauchte?
Patrick Modiano schickt seinen Protagonisten auf den Weg, um Licht in die dunkle Materie seines Geistes zu bringen: „Sicher gab es noch irgendwelche Schwingungen, ein Echo von ihrem kurzen Aufenthalt in diesem Hotel und den angrenzenden Straßen.“ Auf „der Suche nach einem bedeutungsschweren Detail, das ihm erlauben würde, das Ganze wiederherzustellen“, streift er durch seine vorbeiziehenden Erinnerungen und später durch die Straßen von Paris, um die fehlenden Teile des Puzzles wiederzufinden. Doch „es gab kein Ganzes, nur Splitter, Sternenstaub. Gern wäre er eingetaucht in diese dunkle Materie, hätte die abgerissenen Fäden einen nach dem andern wieder miteinander verknotet, ja, wäre umgekehrt, um die Schatten festzuhalten und mehr über sie zu erfahren. Unmöglich. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als die Namen wiederzufinden. Oder auch die Vornamen. Sie wirkten wie Magnete. Sie förderten wirre Eindrücke zutage, die nur schwer zu erhellen waren. Gehörten sie dem Traum oder der Wirklichkeit?“ Warum fürchtete sich Margarete, „an jeder Straßenecke auf [einen Typ namens] Boyaval zu stoßen, und Bosmans, auf das bedrohliche Paar, das ihn mit seiner Verachtung und seiner Feindseligkeit verfolgte – ohne dass er begriff warum“? Eines wird Bosmans immer klarer: Beide hatten damals nicht wirklich einen Halt im Leben, weder eine Familie, noch eine Zuflucht. Sie waren „Hergelaufene“.
Der flämisch/italienisch/jüdischen-stämmige Franzose hat ein leises, ein stilles Buch geschrieben. Ein Text, der sich wie sein gesamtes Oeuvre, dem Verfließen der Zeit und der Spurensuche widmet. Wie ein Tagtraum, eher unbestimmt und vage, als direkt und klar umrissen, werden seine beiden Protagonisten von den Schatten der Vergangenheit verfolgt und eingeholt, auch wenn diese immer ein wenig diffus bleiben. Modiano holt er eher das nächtlich gedämpfte, als das laute und schrille Paris der sechziger Jahre hervor. Ähnlich wie sein großer Vertreter Marcel Proust gleicht er einem Seelenjäger, der vergangene Gefühle, Empfindungen und Stimmungen einzufangen versucht. Dabei bewegt er sich nicht linear strukturiert, sondern lässt verschiedene Erzählstimmen zwischen den Welten wandern, ohne letztendlich die diffus im Raum stehenden Rätsel vollständig zu lösen. So wie das aufgesplitterte und chaotische Leben seiner beiden Protagonisten Margarete und Bosmans, so zerstückelt und in unzählige kleine Sequenzen ohne scheinbaren Zusammenhang liest sich auch sein Text. Sehnsucht und Vergeblichkeit sind dabei ständige Begleiter. In seinem beiläufigen und bilderarmen Stil, der von Elisabeth Edl souverän übersetzt wurde, führt Modiano die Unergründlichkeit des Menschen vor, der selbst dann ein Geheimnis bleibt, wenn man seine Gedanken liest. Doch mit „dem Zweifel bleibt wenigstens noch eine Art Hoffnung, eine Fluchtlinie in Richtung Horizont.“
Fazit: „Die Gegenwart ist immer voller Ungewissheit (…) Man fragt sich beklommen, wie die Zukunft aussehen wird (…) Und dann vergeht die Zeit, und diese Zukunft wird Vergangenheit“. Patrick Modiano versucht sich an die Kreuzungspunkte zweier Leben heranzupirschen, die Momente zu erspüren, die eine Suche nach neuen Horizonten einleiten. Dabei imaginiert er vergessen geglaubte Satzfetzen und Stimmengewirr erneut, um unsichtbare Zeitgrenzen zu überwinden und daraus einen Korridor zu weben, der in die Gegenwart führt. „Doch was hatte sich wirklich verändert? Es waren immer die gleiche Wörter, die gleichen Bücher, die gleichen Metrostationen.“

Patrick Modiano
Der Horizont
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Titel der Originalausgabe: L'Horizon
Hanser Verlag (Juli 2013)
176 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446239510
ISBN-13: 978-3446239510
Preis: 17,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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