Flucht und Vertreibung nach sieben Jahrzehnten – Axel Dornemanns Textsammlung „Heimwehland“

DDR, Foto: Stefan Groß

Mühelos hätte Axel Dornemann, der Herausgeber dieser umfangreichen Textsammlung (780 Seiten), auch drei Bände mit Romanauszügen, Erzählungen, Gedichten und Erlebnisberichten zum Jahrhundertthema „Flucht und Vertreibung“ füllen können, die seit Kriegsende 1945 angeschwollene Stoffülle ist schier unübersehbar geworden! Auf jeder Buchmesse, jeweils im Herbst in Frankfurt am Main und seit 1990 auch im Frühjahr in Leipzig, stößt man, auch heute noch, auf Dutzende von Romanen, Sachbüchern, Erlebnisberichten, die den verlorenen Landschaften jenseits von Oder und Neiße gewidmet sind. Jüngstes Beispiel ist das 2018 erschienene Buch Arno Surminskis „Wolfsland oder Geschichten aus dem alten Ostpreußen“, in dem die Vergangenheit der Provinz seit dem Mittelalter aufgeblättert wird.

An Büchern, in denen man Beiträge über „Flucht und Vertreibung“ aussuchen konnte, herrschte also kein Mangel. Axel Dornemann hat 51 Prosatexte und Gedichte von 22 Lyrikern in sieben Kapiteln gebündelt, die der Chronologie des Geschehens folgen. Bei der Erarbeitung der Textauswahl für dieses Buch konnte der Herausgeber auf zwei Vorarbeiten zurückgreifen, deren eine er selbst erbracht hat:  Die vorzügliche und umfassendste Bibliografie zum Thema „Flucht und Vertreibung in Prosaliteratur und Erlebnisbericht seit 1945“ (Stuttgart 2005). Hier schon hatte er sich einen Überblick über diese Literatur verschaffen können, auch wenn sie an entlegenster Stelle erschienen war. Die zweite Vorleistung war das Buch des 1935 in Liegnitz/Schlesien geborenen Germanisten Louis Ferdinand Helbig der bei Erscheinen noch in den Vereinigten Staaten lebte: „Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit“ (Wiesbaden 1988; dritte erweiterte Auflage 1996).

Zum Lob des belesenen Herausgebers muss angemerkt werden, dass er sich bei der Auswahl der Texte nicht nur auf deutschsprachige Autoren beschränkte, sondern auch, um die Perspektive zu erweitern, litauische, polnische, russische, tschechische einbezog. Es gibt beispielsweise zwei junge Erzählerinnen aus Tschechien, die in zwei Romanen deutsch-tschechische Vertreibungsgeschichte aufarbeiteten: Jakuba Katalpa, die als Tereza Sandová 1979 im westböhmischen Pilsen, und Katarina Tucková, die 1980 im südmährischen Brünn geboren wurden. In ihrem dritten Roman „Die Deutschen. Geographie eines Verlustes“ (2012, deutsch 2015) geht es der Pilsnerin um die Übergabe eines sudetendeutschen Hofes an eine tschechische Familie; im Roman „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ (2009, noch nicht übersetzt) geht es der Brünnerin um den am 31. Mai 1945 beginnenden „Brünner Todesmarsch“, der 55 Kilometer bis zur österreichischen Grenze führte und bei den 27 000 vertriebenen Deutschen aus Brünn 5200 Todesopfer forderte. Ein dritter ausländischer Autor von insgesamt zehn in diesem Buch ist der Pole Stefan Chwin, dessen Eltern 1945 aus Wilna, der heutigen Hauptstadt Litauens, vertrieben wurden. Er wurde 1949 in Danzig geboren und hat sich in mehreren Romanen wie „Tod in Danzig“ (1997) und „Stätten des Erinnerns“ (2005) mit dem deutsch-polnischen Verhältnis in seiner Heimatstadt auseinandergesetzt. Abgedruckt ist hier ein Auszug aus seinem „Deutschen Tagebuch“ (2015).

Und auch bei einstigen DDR-Autoren gibt es beim Thema „Flucht und Vertreibung“ unglaubliche Entdeckungen zu machen. Es ist eine seit Jahrzehnten tradierte Legende, DDR-Schriftsteller hätten sich diesem Thema gegenüber verschlossen oder verschließen müssen. Bekanntestes Gegenbeispiel ist Christa Wolf (1929-2011) mit ihrem Roman „Kindheitsmuster“ (1976), worin sie ihre Kindheit in Landsberg an der Warthe bis zur Flucht 1945 beschreibt. Ihr jüngerer Kollege Christoph Hein ist 1944 als Pfarrerssohn noch in Schlesien geboren, aber in Sachsen aufgewachsen. In seiner Erzählung „Die Vergewaltigung“ (1994) setzt er sich mit einem Thema auseinander, das in der DDR-Literatur über vier Jahrzehnte verschwiegen wurde. Autoren, die in ihren Roman auch nur andeutungsweise darauf aufmerksam machen wollten wie Boris Djacenko (1917-1975) im zweiten Teil seines Widerstandsromans „Herz und Asche“ (die Druckfahnen wurden 1958 eingestampft) oder der Oberschlesier Werner Heiduczek mit seinem Roman „Tod am Meer“ (1977), wofür er von der Partei scharf kritisiert wurde.

Christoph Heines Erzählung hat mit dem Thema des Lesebuchs nichts zu tun, obwohl es darum geht, dass 1945 eine alte Bäuerin in einem märkischen Dorf von zwei Sowjetsoldaten vergewaltigt wird. Es geht vielmehr darum, dass die Enkelin der Bäuerin, inzwischen als SED-Funktionärin hoch aufgestiegen im Staat, 1983 eine Rede zur „Jugendweihe“ halten muss, die voll des Lobes ist auf die immer hilfsbereiten Sowjetsoldaten, wobei sie das Schicksal ihrer Großmutter verschweigt. Dass die zwölf Millionen ins zerstörte Nachkriegsdeutschland strömenden Flüchtlinge und Vertriebenen auch in der Sowjetzone nicht willkommen waren, kann man bei Anna Seghers (1900-1983) erfahren. Die Erzählung „Die Umsiedlerin“ ist die zweite der sechs „Friedensgeschichten“ von 1950, ist aber, trotz realistischer Schilderung, wenig überzeugend. Das gilt auch für Franz Fühmanns (1922-1984) Schmähtext auf die Sudetendeutschen „Böhmen am Meer“ (1962), die in diesem Buch leider fehlt.

Helga Lippelts Geschichte „Der Aufenthalt“ (1988) dagegen löst beim Leser Entsetzen aus. Der Güterzug mit Flüchtlingen fährt Tage und Nächte von Ostpreußen nach Sachsen. Als er hält, will der Großvater für den Säugling seiner Tochter Milch holen. Die Tochter läuft ihm nach in der unbekannten Stadt. Als sie den Bahnhof erreichen, fährt der Zug mit dem Kind an ihnen vorbei.

Es gibt beträchtliche Unterschiede in der Aufarbeitung des Geschehenen durch die DDR-Literatur und durch ihr westdeutsches Pendant. In Mitteldeutschland waren die Schriftsteller von 1945 bis 1989 strenger Zensur unterworfen, obwohl die beiden ersten Romane zum Thema von Maria Langner „Die letzte Bastion“ (1948) und von Annemarie Reinhard „Treibgut“ (1949) noch in der Besatzungszeit erschienen. Einem strikten Verbot unterlag auch nur die Andeutung von Vergewaltigung oder anderen Exzessen, verübt durch die „Rote Armee“! In ihrem Roman „Kindheitsmuster“ (1976) half sich Christa Wolf damit, solche Gewaltakte nicht durch aktive Soldaten, die taten so etwas nicht, sondern durch Deserteure begehen zu lassen.

Während die DDR-Autoren aber immer selbst Betroffene waren wie Christa Wolf und Ursula Höntsch-Harendt (1934-2000) oder Kinder von Betroffenen wie Helga Lippelt, Reinhard Jirgl (1953) und Jörg Bernig (1964), griffen in Westdeutschland auch Autoren wie die Westfälin Gertrud von Le Fort (1876-1971), der im Elsass, allerdings von ostpreußischen Eltern geborene Willy Kramp (1909-1986) und der Mecklenburger Walter Kempowski (1929-2007) das Thema auf, das ihnen eigentlich biografisch fern lag. In Axel Dornemanns Bibliografie von 2005 kann man weitere Namen finden wie Hans Carossa/Oberbayern (1878-1976), Gerd Gaiser/Württemberg (1908-1976) und Elisabeth Langgässer/Rheinhessen (1899-1950), die als „Halbjüdin“ 1936/45 mit Schreibverbot belegt war. Autoren also, von denen man nie erwartet hätte, dass sie sich dieses Thema annähmen.

Die hohe Zeit der Vertreibungsliteratur in Westdeutschland waren die fünfziger und dann noch einmal, von einer jüngeren Autorengeneration geschrieben, die siebziger Jahre. Damals erschien der vieldiskutierte Roman „Heimatmuseum“ (1978) des in Lyck geborenen Ostpreußen Siegfried Lenz (1926-2014). Er hat damit einen literarischen Abgesang auf das 1945 untergegangene Ostpreußen geschrieben, worin Pommern und Schlesien eingeschlossen waren.

Axel Dornemann, der diese Texte gesammelt und, mit klugen Vorworten versehen, herausgebracht hat, ist 1951, sechs Jahre nach Kriegsende, in Osterode/Harz geboren, allerdings von einer schlesischen Mutter. Sie ist am 21. Januar 1945 mit ihren Eltern aus Schlesien geflohen und hat ihrem Sohn viel von ihrer alten Heimat erzählt. Das war, neben der Bibliografie von 2005, vermutlich der Ansporn, dieses Lesebuch zu erarbeiten, wofür er vier Jahre benötigte.

Dass das Interesse am historischen Ostdeutschland immer noch nicht erloschen ist, trotz des Wegsterbens der Zeitzeugen, das zeigt nicht nur die unerhörte Resonanz, die Hans-Ulrich Treichels Roman „Der Verlorene“ (1998) und dessen Verfilmung 2015 unter dem Titel „Der verlorene Bruder“ fanden. Das zeigt auch Hans Pleschinkis Gerhart-Hauptmann-Roman „Wiesenstein“ (2018). Was treibt den 1956 in Celle geborenen, aber im Zonenrandgebiet aufgewachsenen Autor an, ein solches Buch zu schreiben? Er kennt den Zweiten Weltkrieg und die Vertreibung der Schlesier nur vom Hörensagen oder aus Geschichtsbüchern. Was ist an diesem 550 Seiten umfassenden Buch so faszinierend, dass es dem Verfasser bei Lesungen volle Säle verschafft, wo es doch kaum noch Schlesier gibt? Marcel Krueger wiederum ist 1977 in Solingen geboren, hatte aber eine ostpreußische Großmutter, die 1923 als Bauerntochter geborene Cäcilie Anna Barabasch. Sie wurde am 10. Februar 1945, ein Vierteljahr vor Kriegsende, über Mohrungen, Heilsberg, Insterburg in ein russisches Arbeitslager verschleppt, von wo sie am 20. November 1949 zu ihren Verwandten, die inzwischen nach Westdeutschland geflohen waren, zurückkehrte. Dieses 264 Seiten starke Buch „Von Ostpreußen in den Gulag. Eine Reise auf den Spuren meiner Großmutter“ wird seinen Weg bei den Lesern machen.

Axel Dornemann (Herausgeber): „Heimwehland. Flucht, Vertreibung, Erinnerung. Ein literarisches Lesebuch“, 780 Seiten, 38.00 Euro, Georg-Olms-Verlag, Hildesheim 2018

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Über Jörg Bernhard Bilke 258 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.