Das Signalwort ‚Katyn’, die Abbildung einer jungen Pilotin auf dem Buchumschlag und die Aussage der amerikanischen Flugpionierin Amelia Earhart (1897-1939) „Der Flug ist das Leben wert“ (vgl. S. 5) bilden die ersten Leitlinien dieses außergewöhnlichen Briefromans der polnischen Autorin Maria Nurowska. ‚Katyn’ – das ist der reale und zugleich symbolbeladene Ort in der Nähe von Smolensk, an dem im Zeitraum zwischen April und Anfang Mai 1940 etwa 4400 polnische Offiziere vom sowjetischen Geheimdienst erschossen wurden. Sie waren in der zweiten Hälfte des September 1939 nach der Kapitulation der polnischen Armee in sowjetische Gefangenschaft geraten und auf Befehl Stalins unter brutaler Mißachtung des Völkerrechts ermordet worden. Unter ihnen befand sich auch eine Frau, die bekannte Fallschirmspringerin und Angehörige der polnischen Luftwaffe,Janina Lewandowska. Die älteste Tochter des polnischen Generals Dowbor-Muśnicki, eine eigenständige, hochreflektierte Persönlichkeit mit außergewöhnlichen technischen und musischen Gaben, bildet in dem vielschichtig konstruierten Roman die reale und zugleich fiktive Handlungsträgerin. Persönliche Briefe von ihr sind verschollen. Erst der zufällige Fund von zahlreichen Briefen aus den Gräbern der in Katyn ermordeten polnischen Offiziere ermöglichte der Autorin den Zugang zu Briefdokumenten, in denen die Protagonistin häufig genannt wurde.
Der Plot dieses außergewöhnlichen Briefromans setzt mit einer schockierenden Nachricht ein. Der in Blackpool lebende Mieczysław Lewandowski, Ehemann von Janina, erhält 1997 aus Polen ein Päckchen mit einem Brief und einem gesondert verpackten Notizheft mit Angaben über den Absender. Ein gewisser Professor Popielski, in der Zwischenzeit verstorben, habe 1945 von Professor Gerhard Butz, Leiter der Exhumierung der Leichen in Katyn, sieben Schädel erhalten. Aus Furcht vor dem sowjetischen Geheimdienst NKWD wie auch dem polnischen Sicherheitsdienst habe er diese Schädel heimlich aufbewahrt. Bei der nach 1990 erfolgten ersten Inspizierung der Schädel im heimlichen Aufbewahrungsort, dem Institut für Rechtsmedizin in Breslau, stellte sich heraus, dass ein Schädel von einer Frau, vermutlich der im Frühjahr 1940 in Katyn erschossenen Janina Lewandowska, stammte.
Der an diese Einführung sich anschließende Briefroman in der vorzüglichen Übersetzung von Marta Kijowska besteht aus zwei Textblöcken: 1) den in kursiven Lettern abgedruckten fiktiven Briefen von Janina Lewandowska aus Koselsk, einem der vom NKWD im Spätherbst 1939 eingerichteten Gefangenenlager. Datiert zwischen Dezember 1939 und April 1940, übermitteln sie aus der Position einer Ich-Erzählerin sowohl eine Fülle von biografischen Angaben aus der Kindheit, der Jugend und aus den turbulenten Berufsjahren von Janina als auch ausführliche Berichte über ihr Leben und Wirken als Kriegsgefangene im Lager von Koselsk. Ein beträchtlicher Teil dieser fiktiven Aufzeichnungen besteht aus leidenschaftlichen Bekenntnissen zu „ihrem Mietek“, von dem Janina nach ihrer abrupten Trennung in Poznan kurz vor dem Überfall der Hitler-Armeen auf Polen keine Nachricht mehr erhalten hat. Und 2) den in der Gestalt eines personalen Er-Erzählers umgesetzten Bericht von Mieczysław Lewandowski über seine abenteuerliche Flucht aus seinem okkupierten Vaterland nach Westeuropa und England, wo er als Kampfflieger in der Royal Navy eingesetzt den Zweiten Weltkrieg überlebte.
Worin bestehen die besonderen narrativen und kompositionellen Fähigkeiten der Autorin, unterschiedlich konstruierten Plots so miteinander zu verknüpfen, dass die beiden Textblöcke eine beinahe in sich geschlossene Einheit bilden? Zunächst ist die stilistische und syntaktische Gestaltung der Briefe von Janina zu loben. Die Erinnerungen an ihre Kindheit mit der früh verstorbenen Mutter, die Beschreibung ihres strengen Vaters, der die Erziehung der vier Kinder übernehmen musste, seine Entlassung aus dem Armeedienst als General aufgrund seiner harschen Kritik an der Politik des damaligen Staatschefs, Marschall Piłsudki, das Leben auf dem Gutshof Patorowo in der Nähe von Posen – all diese Passagen vermitteln einen anschaulichen Eindruck vom Leben in der zweiten polnischen Republik. Ebenso dicht ist die Darlegung des rauen Alltags im Gefangenenlager Koselsk. Janina erweist sich dort in der einfühlsamen Beschreibung von Seiten ihrer Erzählerin als kluge Beraterin von oft verzweifelten Männern. Andererseits ist es auch ihre enge Freundschaft mit Pater Ziółko, der ihr seelsorgerisch beisteht, ihr Selbstbewußtsein stärkt. Dazu gehören ihre Lager-Auftritte als Sängerin und Kabarettistin, ihre couragierte Selbstbehauptung und ihre psychischen Nöte, ihre Lebensklugheit und manche andere Eigenschaften, die überzeugend beschrieben werden. Ebenso eindrucksvoll ist die Beschreibung ihrer feministischen Einstellung gegenüber den meist in paternalistischen Vorurteilen befangenen Männern.
Und noch eine andere hoch zu lobende Qualität dieses Briefromans. Aufgrund der zeitverschobenen Perspektive aus der Sicht zweier Zeitzeugen, die in den kriegerischen Strudel des Weltkrieges geworfen werden, entsteht ein überzeugender Einblick in die tragische Geschichte Polens zwischen 1920 und 1945 unter Nutzung ganz unterschiedlicher Quellen. Sicherlich aber hätte das Nachwort von Maria Nurowska in der deutschen vorliegenden Fassung noch etwas ausführlicher sein können. Die deutschsprachigen Leser/innen, die bereits in den 1980er und 1990er Jahren ihr wachsendes Interesse an der Lektüre von Nurowskas Romanen zeigten, wären gerne noch eindringlicher in das ungewöhnliche Leben der Irena Lewandowska eingeweiht worden. Übersetzte Auszüge aus den ausführlichen Interviews mit der Autorin aus Anlass dieser „Briefe aus Katyn“ in polnischen Zeitschriften würden der Erfüllung dieses Wunsches sicherlich gerecht werden!
Maria Nurowska Briefe aus Katyn. Aus dem Polnischen von Marta Kijowska. Berlin (Verlag Ebersbach & Simon) 2020. 240 S., 22, 00- €. ISBN 978-3-86915-208-0.