Ferruccio Busoni gab des Öfteren und nicht ohne Stolz an, er fühle sich „lateinisch“ in der Seele. Immer sehr intensiv – wenn auch problematisch und widersprüchlich – war in der Tat seine Beziehung zu Italien, wobei er niemals die Möglichkeit in Betracht zog, Bürger des Deutschen Reichs zu werden. Es ist trotzdem nicht zu leugnen, dass er mit der deutschen Sprache, mit der deutschen Kultur und forma mentis besser vertraut war. Die Beherrschung der deutschen Sprache („einer Sprache,“ – nach seiner Definition – „in der ich mich sicherer bewege“), insbesondere auf der gehobenen literarischen Ebene und im künstlerisch-ästhetischem Bereich, überragte jene der italienischen Sprache: in deutscher Sprache schrieb er de facto die theoretischen Abhandlungen, die Artikel, die Opernlibrettos und den größten Teil der Briefe. Niemals dachte er ernsthaft daran, seine Texte, die er später vertonen würde – unter denen sich Doktor Faust längst als der komplexere erweist -, ins Italienische zu übertragen, gerade weil die beschränkte Kompetenz im Umgang mit der poetischen Sprache ihm nicht erlaubt hätte, befriedigende Ergebnisse auf literarischem Gebiet zu erzielen.
Das Interesse des Wunderkindes Busoni für den Faustischen Mythos geht auf die Kindheit zurück: mit Bedauern schrieb der neunjährige Ferruccio 1875 seiner Mutter, er hätte einer Vorstellung von Gounods Faust in Wien, wo er studierte, nicht beiwohnen dürfen. Neun Jahre später in einem Artikel für die Triester Tageszeitung „L’Indipendente“ wies der junge Ferruccio voll des Lobes auf dieses Werk hin und behauptete, dass der „geniale Komponist“ sich „eher vergeistigt als materialistisch, mehr Dichter als Maler erweise, dass er mehr nervös und elegisch als pathetisch“ wirke und dass „seine Musik mehr zum Denken als zum Träumen“ hinführe. Worte, die eine tiefe Kenntnis nicht nur des Werkes an sich, sondern auch von Goethes Faust vorauszusetzen scheinen, wovon das Libretto von Barbier und Carré stammt. Zu jener Zeit hatte Busoni bereits in seinem Repertoire den unwegsamen Faust-Waltz von Gounod/Liszt einbezogen.
Wenn das Interesse für den Faustischen Mythos auf die Kindheit zurückgreift, so liegt der Ursprung des Faust-Projekts in der Jugendzeit. 1882 komponierte der sechsjährige Ferruccio die Höhle von Steenfoll (drittes Stück der „Fantastischen Erzählungen“) nach einer Erzählung von Wilhelm Hauff, in der die Geschichte eines Fischers erzählt wird, der dem Teufel seine Seele im Tausch gegen das Auffinden eines Schatzes verkauft.
Seitdem prägte die Faustische Idee Busonis gesamten existentiellen und schöpferischen Parcours, und dies sowohl auf musikalischem als auf literarischem Gebiet. Eine Art Idee Fixe, die nicht selten beklemmend und schmerzhaft angesichts der Furcht vor einem Vergleich mit Goethe wurde. Als tiefgründiger Kenner des größten deutschen Dichters wollte Busoni aus diesem Grund andere Wege erforschen, selbst in die Grenzgebiete des Mythos – vom Marionettentheater von Karl Simrock bis hin zum polnischen Faust von Jan Twardowski – durchdringen. Busonis Kenntnisse hinsichtlich des Faustischen Mythos und anderer mit Faust verknüpften oder verwandten Mythen waren grenzenlos.
Selbst die Faustischen Elemente im Werk von Franz Liszt übten einen keineswegs zweitrangigen Einfluss auf Busonis Faust-Anschauung aus. Bekannt ist Busonis Verehrung für Liszt, von dem er die kritische Ausgabe vieler Klavierkompositionen herausgab: 76 Bände, alle Originalausgaben: zu jener Zeit handelte es sich gewiss um die umfangreichste und bedeutendste Sammlung auf der Welt.
„Bach ist der Grund des Clavierspiels, Liszt die Spitze“.
„Liszt wäre der Grundstein aller modernen Tongebäude, und als Grundstein stecke er tief in der Erde und bleibe unsichtbar“, schrieb er.
Kein Wunder, dass Liszts Repertoire die Grundlage seiner Konzertprogramme war. Und Busoni fürchtete nicht die schwerwiegenden Verrisse – worauf er öffentlich erwiderte -, als er darauf bestand, es an monografischen Abenden erneut vorzuschlagen. Schließlich gelang es ihm seinen Kampf zu gewinnen, indem er zum Verständnis von Liszts Größe nicht allein in der Geschichte des Klavierspiels beitrug, sondern auch – und dies war eine viel kühnere Aufgabe – in der Musikgeschichte selbst. Der Mephisto-Waltz – eine Komposition, wovon vier Fassungen existieren – wurde 1904 von Busoni (in der Orchester-Version) übertragen und ist gewiss Liszts wichtigster Mosaikstein innerhalb seiner Faust-Anschauung. Komponiert und aufgeführt wurde er in Denver während einer Konzerttournee. In einem Brief an seine Frau Gerda assoziierte Busoni diese Transkription zu drei Dämonen, die ihm im Traum erschienen waren. Gestalten, die in den Gewändern dreier geheimnisvoller Krakauer Studenten, als Mephistopheles Boten, wie wir sehen werden – an zwei entscheidenden Stellen des Doktor Faust wieder in Erscheinung treten werden. Busoni schreibt:
“Ich war in einer alten Stadt und mußte von der Spitze eines gothischen Thurmes, eine äußere Wendeltreppe hinuntersteigen. Ich stieg durch ein Fenster in’s Innere und kam gerade in eine Kapelle, wo Gottesdienst abgehalten wurde (ich glaube “katholischerweise”). Da – ein Zeichen des Priesters – und drei Männer, drei Dämonen, brachten halb durch die Luft und blitzschnell ein Clavier herein – und das war “le piano du Diable”. Nun mußte ich spielen, und zwar, zu der Kirchenceremonie, das gottloseste Zeug, dessen ich mich erinnern konnte. Ich weiß, daß ich unter anderem das Kaspar-Lied aus Freischütz und die Mephistofeles-Serenade von Berlioz spielte. Wurden die Passagen schwer, dann spielte das Ding von selbst! Blitzschnell wurde es wieder weggetragen – ich rief noch: Halt, ich muß noch etwas Religiöses spielen, aber zu spät. Es ist wohl die Schuld des Mephisto-Walzers, an dem ich fleißig schreibe, und der meisterhaft wird. »
Ein Traum zweifelsohne Hofmannscher Ursprungs!
Die herrliche Transkription vom Mephisto-Waltz ist in etwa zeitgleich mit dem großartigen Konzert für Piano, Männerchor und Orchester sowie mit der Turandot-Suite entstanden, Werken mit denen Busoni zum ersten Mal zur vollen künstlerischen Reife gelangte.
Die späteren Elegien für Klavier, die er 1907 begann, markieren den Anfang einer experimentellen Phase – Busoni nannte sie „Wendung“ -, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1912-13 erreichte. Zu jener Zeit fühlte er sich – nach eigener Aussage – „sehr empfänglich“ auf dem Gebiet der künstlerischen Nutznießung im weitesten Sinne: von der Malerei zur Musik, Skulptur, Literatur und Theater. Er beschäftigte sich mit dem Okkultismus, mit der Telepathie, dem Magnetismus und war von der Zukunft obsessioniert. „Der Mensch ist gebaut, um aufwärts gerichtet zu sein, um fortzuschreiten und nach vorn zu schauen“ schrieb er 1912 und nahm dabei den berühmten Aphorismus seines Fausts vorweg: „Nur der blickt heiter, der nach vorwärts schaut“
1912 intensivierte sich seine Beziehung zu Schönberg. Eine Freundschaft allerdings, die oft im Zeichen von Missverständnissen und Unstimmigkeiten stand, welche in die von Schönberg scharf kritisierte Transkription vom Klavierstück op.11, n° 2 gipfelte. Es ist bekannt, wie Schönberg die zweite Ausgabe – von 1910 – von Busonis „Abbozzo di una nuova estetica della musica„las und mit nicht seltener polemischer Akribie mit seinen Anmerkungen versah. Dabei handelte es sich um einen visionären und prophetischen Text, der als unverzichtbarer Mosaikstein der Musikwissenschat und der Musikphilosophie des XX. Jahrhunderts anzusehen ist.
Im Juni 1913 wurde in Busonis Berliner Wohnung Schönbergs Pierrot Lunaire (weniger als ein knappes Jahr vor der Berliner Uraufführung) in Gegenwart u.a. des Verfassers selbst (der das Ensemble dirigierte), von Mengelberg, Schnabel und Varèse gespielt. Busoni drückte seinen unbändigen Enthusiasmus in einem Brief an Egon Petri aus, der zu den stärksten in seiner Korrespondenz zählt. Er nannte den Pierrot „ein höchst geistreiches neues Werk, ein Musterzusammenspiel“. Zu jener Zeit – muss man dazu sagen – war Busoni weitaus bekannter und gewichtiger als Schönberg.
Im März 1912 besuchte Busoni die Futuristen-Ausstellung in Paris. Blenden ließ er sich von Umberto Boccionis Bild „Città che sale“ („Die Stadt erhebt sich“), das er für einen Betrag erwarb, den die Kunsthändler für töricht hielten, und dies nicht nur um dem in Schwierigkeiten geratenen Freund Boccioni, sondern um der gesamten futuristischen Bewegung zu helfen. Es waren gerade die Spannung gegenüber der Zukunft und der vitalistische Elan des Strebens, die diesem phantastischen Gemälde innewohnen – einer Verherrlichung des industriellen Fortschritts mit seinem unaufhaltsamen Fortschreiten -, die auf Busoni Eindruck machten und zum Kauf bewogen. Seiner Frau gestand er trotzdem: „Leider sehe ich auch diese Leute ‚altmodisch‘ werden“.
Am 13. April fand in Hamburg die Uraufführung der Oper Die Brautwahl statt, woran er fast sechs Jahre lang gearbeitet hatte und die in der von esoterischen und Faustischen Elementen durchdrungenen Erzählung des von ihm verehrten Hoffmann ihren Ursprung hatte.
Am 8. Juli beendete er die Sonatina Seconda, eine visionäre, atonale Komposition hier und da ohne Taktaufteilung, die ausgerechnet unter dem Einfluss des Gemäldes „Città che sale“ stand, welches in seinem Berliner Musikzimmer hervorstach.
Das dynamische Durcheinander aus Menschen, Pferden und Fabriken, woraus Boccionis Monumentalwerk bestand, findet sein musikalisches Äquivalent in der Sonatina, in der sich die Musik gewaltsam, chaotisch, instabil erhebt. In seinem Berliner Tagebuch schrieb Busoni:
„In der Nacht, beleuchtet von dem magischen Licht, das aus dem unteren Zimmer durchsickert, gewinnt Boccioni in dem Musikzimmer ein seltsames, magisches Aussehen…“
Nach Roman Vlads Ansicht überragte die Sonatina Seconda 1912 aufgrund ihrer Modernität und Kühnheit sowohl Schönberg als Webern. Aufgeführt wurde sie zum ersten Mal in Mailand am 13. Mai 1913, in einer explosiven Atmosphäre mit zahlreichen Futuristen – darunter Boccioni und Marinetti –die bereits Position genommen hatten, um den Komponisten-Ausführenden von den vehementen Protesten aus dem Publikum in Schutz zu nehmen.
Die Sonatina Seconda ist die erste Komposition von Busoni, die mit Doktor Faust eng verbunden ist und insbesondere, wie im Falle vom Mephisto Waltz – mit den drei dämonischen Gestalten als Mephistopheles Boten.
Kurz danach scheitert in Paris der Plan in Zusammenarbeit mit Gabriele D’Annunzio zur Gründung einer nationalen Oper, in deren Fokus die Gestalt von Leonardo als eine Art italienischer Faust stehen sollte, „kein historischer Leonardo, sondern ein symbolischer Leonardo, dem das mystische Element hinzuzufügen wäre.“ Auf dem Gebiet der Komposition schließt die experimentelle Phase mit dem Nocturne Symphonique, das Busoni im Juli 1913 zu Ende führt. Seiner Frau schreibt er in der Tat:
„Mit dem Nocturne Symphonique werde ich die Reihe vorbereitender Arbeiten vorläufig als abgeschlossen betrachten müssen; womit nicht ausgesprochen ist, dass ich “cammin facendo” nicht mein musikalisches Vocabularium stetig vermehre.“
Diese Komposition, als symphonisches Pendant zur Sonatina Seconda, ist ein weiteres visionäres, geheimnisumwittertes, okkultes Werk, das das reflektiert, was Busoni schrieb, nachdem er einen Vortrag von Schönberg gehört hatte:
„Die Theorie der Komposition lehrt nur das Bekannte. Der Schaffende will jedoch das Unbekannte. Das Unbekannte aber ist vorhanden“.
Selbst das thematische Material des Nocturne Symphonique – wie jenes der Sonatina Seconda – fließen in den Doktor Faust, „eine auch für Italien eminente und wichtige Arbeit, die Summe von all dem ich fühle und weiß“, wie er es selbst definierte.
Als er die Sonatina Seconda und das Nocturne Symphonique komponierte, hatte Busoni noch nicht den Entschluss gefasst, eine auf dem Faustischen Mythos basierenden Text zu vertonen, obwohl er bereits 1910 die ersten drei Szenen des Librettos entworfen hatte. Aber die um sich greifende Fahlheit, die gespenstischen, beklemmenden Atmosphären, welche die bevorstehende Kriegskatastrophe voraussahnen ließen und die sich in vielen anderen Seiten des Werkes wiederfinden, darunter die mutlose Sarabande, gaben meiner Ansicht nach einen entscheidenden Impuls zur Realisierung des Monumentalprojekts.
Einige Monate vor Kriegsbeginn hatte Busoni eine Reise in die Vereinigten Staaten geplant. Bis zum Herbst 1914 blieb er unschlüssig. Er beschloss schließlich, den mit den amerikanischen musikalischen Einrichtungen abgeschlossenen Vertrag einzuhalten, auch um mehr Bedenkzeit hinsichtlich seiner Pläne zu gewinnen: in Deutschland bleiben, nach Italien umzuziehen oder in ein vom Krieg nicht betroffenes Land ins Exil zu gehen? Wenige Tage vor seiner Abreise nach Amerika, Ende 1914, schrieb er „auf einmal ohne Zögern, wie wenn er inspiriert wäre“… das Libretto vom Doktor Faust. Wie wenn er inspiriert wäre…oder wie wenn er auf die eigene Kunst dramatisch oder feierlich schwören möchte, dass er nach Kriegsende um jeden Preis nach Berlin zurückkommen würde, um es – das Werk – zu Ende zu schreiben. Und es ist das, was geschah, wie wir sehen werden.
Anfang Oktober 1915 zog Busoni mit Frau Gerda und Sohn Raffaello (Benvenuto, der Erstgeborene, blieb in den Vereinigten Staaten) nach Zürich, wo er politisches Asyl beantragte und erhielt und wo er eine Wohnung in der Scheucherstraße 36 mietete, in der gleichen Straße, in der auch der junge Elias Canetti wohnte, der sie in seinem autobiographischen Roman Die gerettete Zunge verewigte.
Die ersten Monate des Exils auf Schweizer Boden verliefen bei dem Versuch, die Mauer der Einsamkeit, der Isolierung und des Schmerzes zu überwinden, die durch die neue Lage aufgerichtet wurde. Dem Musiker gelang es ein neues Beziehungsnetz wiederaufzubauen, indem er solide und aufrichtige Freundschaftsverbindungen herstellte, und dies insbesondere mit Volkmar Andreae, Hans Huber und Philip Jarnach, der recht bald sein Assistent wurde. Die durch Krieg und Exil bewirkte innere Zerrissenheit, war dennoch an sich verstörend und wurde zum regelrechten Leitmotiv seiner Korrespondenz: Metaphern wie Riss, Amputation, wegschneiden, unterbrechen, gerade Linie, ligne droite, filo della vita, troncare, amputare sowie andere Wörter, die semantisch mit dem Begriff „Unterbrechung“ zu verknüpfen waren, zählten zu den Wörtern eines wahrhaftigen Exillexikons.
„Dieser Krieg ist für mich geradezu tragisch. Man sollte jetzt 15 Jahre alt sein oder 70, aber nicht 50 wie ich fast bin; das heißt Einem zwei gesunde Beine ohne Narkose wegschneiden“, schrieb er 1916. Und bitter waren die brieflichen oder verbalen Ausbrüche vor Schülern und Freunden, “erschrockenen Zeugen” – wie Jakob Wassermann es formulierte – “ seines Schmerzes und seiner titanischen Auflehnung gegen ein ihm vollkommen sinnlos erscheinendes Weltgeschehen.” “Mein Leben hat einen Riss, und oft erkenne ich es kaum als das eigene”, schreibt er zum Beispiel im Oktober 1915 an Leo Kestenberg.
Das ist der existentielle Kontext, in dem die Musik des Doktor Faust Gestalt annahm. Wie immer in den Stunden der Verzweiflung wurde die Arbeit für Busoni zum Rettungsanker. Auf dem Gebiet der künstlerischen Schöpfung erlitt die “gerade Linie” weder Risse noch Brüche. Obwohl er, wie wir wissen, das Libretto Ende 1914 vollendet hatte, setzte er in Zürich seine Recherchen im sowohl literarischen als musikalischen Bereich über den Mythos unermüdlich fort: eine Notiz vom 4. Juni 1916 dokumentiert seine beinah vollständige Kenntnis der Quellen. Nach dem Entwurf des ersten musikalischen Opernplans komponierte er im September des gleichen Jahres einige Skizzen.
Diese ersten musikalischen Versuche um die Faustische Gestalt entstanden mitten im Schmerz durch Umberto Boccionis tragischen Tod, mit dem Busoni, wie wir wissen, eng freundschaftlich verbunden war (man erinnere sich daran, dass der Maler einige Monate davor ein Monumentalportrait des Musikers in Lebensgröße gemalt hatte): “Die Bitterkeit, die in mir angesammelt ist, ist verzehrend. Mit allen Kräften versuche ich mich durch die Arbeit halten”, schrieb er an Egon Petri. Aber die tatsächliche Komposition des Doktor Faust begann erst nach den Zürcher Vorstellungen des Arlekin und der Turandot ab dem 13. Juli 1917. Er schrieb an Jella Oppenheimer im September 1917:
„Ich bin froh, diesen neuen Gesellen – dieses neue Werk in fieri – zu haben, mit dem ich mich täglich beschäftigen kann, wie es mir gefällt, und das kontinuierlich Gestalt annimmt in meinen Händen.”
Busoni war entschieden, den 1907 mit der “Wendung” eingeschlagenen künstlerischen Parcours nachzugehen.
Aber wer ist Busonis Faust und unter welchen Gegebenheiten wird er zum Protagonisten?
Nach einer kurzen Symphonie, die auf musikalischem Gebiet die komplexe Opernstruktur in nuce zusammenfasst, erhält Faust, Dozent an der Universität Wittenberg, im ersten Prelude den Besuch von drei geheimnisvollen Krakauer Studenten, die ihm ein Buch mit dem seltsamen Titel “Clavis Astartis Magica” als Geschenk überbringen. Die Erscheinung ist geheimnisträchtig, übernatürlich. Allein geblieben ruft Faust euphorisch aus: “Nun weiß ich, wer sie sind.”
Dieses Vorspiel I., worin Busoni, wie ich gesagt habe, Teil vom thematischen Material der Sonatina Seconda und des Nocturne Symphonique einfließen ließ, wurde Ende September in Zürich beendet.
Darüber schrieb er seiner Frau Gerda:
„Die neue Partitur sah ich heute so objektiv als möglich durch und fand, sie gehört zu meinem Besten. Diese Partitur gibt mir wieder Anspannung auf längere Zeit und ist mir auch Symbol für das Ende des Krieges. Der Kreis schließt sich wieder einmal“.
Im Zweiten Prelude beschwört Faust um Mitternacht mit Hilfe des magischen Schlüssels, aber vom magischen Kreis geschützt, die fünf Teufelsgeister, die ihn enttäuschen. Er steigt dann aus dem magischen Kreis und ruft entmutigt aus:
„So wäre dies der ganze Höllenprunk! Wie steht doch eines Menschen Geist darüber! In ihm ist des Gottes Hauch. Wie ich euch verachte, die ihr hier gedämmert, und nun dunkelt, ihr Dünkelhaften! Ich kehre mich ab von euch. Welchem Wahn gab ich mich hin! Arbeit, heilende Welle, in dir bade ich mich rein!“
Und hier erscheint zum ersten Mal – dabei handelt es sich um eine wahre Prolepse – das Thema der Sarabande, die wir später im Laufe der Oper in ihrer Vollständigkeit als selbständige Seite, als Symphonisches Intermezzo, hören werden. Es ist die Musik von Fausts Gewissen, von seinem Streben, seines sich Richten nach edlen, höheren Idealen mit der alleinigen Kraft seiner Innerlichkeit, seines Wissens, seiner unaufhörlichen, unermüdlichen Suche jenseits der teuflischen Lüge. Jedoch plötzlich, ohne heraufbeschworen zu werden, erscheint Mephistopheles, der sich selbst als schnell wie der menschliche Gedanke definiert und sich bereit erklärt, all seine Wünsche zu erfüllen. Faust verlangt von ihm keineswegs die Jugend, sondern das Genie (“Gib mir Genie”) und die mit dem Genie unvermeidlich verknüpfte Qual (“Gib mir auch sein Leiden”).
Hier wird Faust zur erschütternden autobiografischen Gestalt und scheint Thomas Manns Adrian Leverkühn vorwegzunehmen. Dies selbst obwohl der Autor vom Doktor Faustus – mit dem Unbehagen desjenigen, der lügt – stets verneint hat, – Busonis Doktor Faust zu kennen.
Als Gegenleistung verlangt Mephistopheles, dass Faust – nach Erfüllung seiner Aufgabe – ihm diene. Angesichts seiner schroffen Ablehnung erinnert ihn Mephistopheles daran, dass Gläubiger auf seine Spur sind. Und ausgerechnet in jenem Augenblick klopfen sie an seiner Tür. Auf Fausts Befehl hin, vernichtet sie Mephistopheles. Als in weiter Ferne süße Osterchöre zu den auf einmal dramatisch hektisch werdenden Worten des „Credo” erklingen, schließt Faust mit seinem eigenen Blut einen Pakt mit dem Teufel.
Ein großer Teil dieses Vorspiels II. wurde während des ersten Halbjahres 1918 komponiert, und dies immer in Zürich. Aus dieser Zeit stammt auch das Lied des Mephistopheles, nach Goethes Text, dessen Musik an einem anderen – immer von Mephistopheles gesungenen Text “Dort war ein Dummer Herzog” – im Zweiten Bild von Doktor Faust adaptiert wird.
Es folgt ein szenisches Intermezzo: in einer romanischen Kapelle im Inneren der Kathedrale, fleht ein Soldat, Margarethes Bruder, Gott, eines Tages den Unbekannten treffen zu dürfen, der für das Unglück seiner Schwester verantwortlich ist. Faust befiehlt Mephistopheles, ihn sofort zu vernichten. Sechs Soldaten drängen dann in die Kirche, verwechseln Margarethes Bruder mit einem Mörder und töten ihn. Mephistopheles jubelt, denn er hat drei Ziele erreicht:
- einen in der Kirche begangener Frevel
- die Verdammnis eines Soldaten, der bei Planung eines Verbrechens gestorben ist
- eine neue Sünde auf Fausts Gewissen, der an allen Missetaten schuldig ist
Dieses Szenische Intermezzo, als Busonis originelle Erfindung, wurde im Dezember 1917 abgeschlossen, wie die anfängliche Symphonie. Im September 1918 kann Busoni einigen Freunden verkünden, dass die Hälfte der Oper (1500 Takte) vollendet ist.
Das erste Bild der Haupthandlung folgt. Im herzoglichen Park von Parma findet ein großes Fest anlässlich der Hochzeit des Herzogs. Faust erscheint. Bevor er seine Zauberkünste offenlegt, befiehlt er der Sonne, sich zu verdunkeln. Dann erfüllt er die Wünsche der Herzogin und beschwört in der Reihenfolge
- König Salomon, während er die Harfe spielt
- Die Königin von Saba
- Sanson und Dalila
- Johannes, den Täufer, und Salome.
Die Ähnlichkeit von Faust und der Herzogin mit den heraufbeschworenen Schattenwesen hinterlässt einen tiefen Eindruck bei den Anwesenden. Der Mörder, der Johannes, den Täufer, umlegen muss, trägt andererseits die Züge des Herzogs. Plötzlich schreit die Herzogin: “Der Täufer darf nicht sterben!”. So verrät sie ihre Gefühle für Faust und flüchtet mit ihm, wie von höherer Kraft gezwungen, während die Sonne wieder zu scheinen beginnt.
Hier fügt sich eine neue Handlungsunterbrechung mit der Sarabande (Symphonisches Intermezzo) ein, die wir teilweise und als Prolepse im Vorspiel II. bereits gehört haben. Es handelt sich zweifelsohne um den Gipfel der Busonischen Symphonik, um eine gewaltige Synthese der metaphysischen und ethischen, der magischen und menschlichen Beweggründe, die die ganze Oper tragen. An dieser Stelle der Oper positioniert, verbleibt die Sarabande noch genialer Weise proleptisch gegenüber der Handlung. Erst in dem darauffolgenden Bild erfährt man von den schmerzhaften Ereignissen, die Faust dazu bewogen haben, Mephistopheles und die Magie zu verlassen, um sich des eigenen Gewissens und der eigenen Innerlichkeit wieder zu bemächtigen. So wird er den letzten Abschnitt seines Lebens in Richtung eines aus Idealen bestehenden neuen, erhabenen Horizontes lenken.
Sowohl die Sarabande als die Tänze am Parmas Hof wurden zwischen 1918 und 1919 in Zürich mit von der Oper getrennten symphonischen Stücken komponiert. Erst später, wie wir sehen werden, wurden sie Bestandteil davon und zwar 1921 nach der Rückkehr nach Berlin.
Busoni verließ Zürich im September 1920 mit dem Titel eines Doktors honoris causa, der ihm von der Helvetischen Universität verliehen wurde. Ihm wurde die Möglichkeit geboten, in Paris, London oder Rom zu leben. Bis zum Schluss war er zögerlich. In seinem Inneren hegte er jedoch nie Zweifeln: er hätte niemals auf Berlin verzichten können, wo er seine Turris Eburnea mit seiner Bibliothek, seinem Musikzimmer, seinen Boccioni-Bildern…hinterlassen hatte. Und nach Berlin wurde er von vielen Intellektuellen zurückgerufen – u.a. vom jungen Hermann Scherchen – damit er mit seinem Charisma, seinem ethischen Gewicht und seiner unermesslichen Bildung zur künstlerischen (und nicht nur musikalischen) Renaissance der Hauptstadt der Geschlagenen beitragen könne.
Die preußische Metropole war darüber hinaus seine inspirierende Muse: der privilegierte Ort, an dem ihm – in seinen arbeitsamen und einsamen Nächten – gegeben war, nach dem höchsten Ziel seines Lebens zu trachten: nämlich nach dem Kunstwerk.
Und wo er davon überzeugt war, zu beenden, was er dort begonnen hatte: den Doktor Faust. Und es war gerade das Monumentalprojekt Doktor Faust, welches das “prangende Berlin” mit dem “finsteren Berlin” vom Jahre 1921 verband. Die Schweiz, Zürich und die Wohnung in der Scheuchzerstrasse 36 waren die Orte, die schließlich – gemeinsam mit dem Krieg zwischen seinen beiden Heimaten – eine tiefe Identitätskrise ans Licht brachten, deren offensichtlichster Aspekt das Bewusstsein war, dass er keine Heimat mehr habe („heimatlos“.) Deswegen wurden die “Zürcher-Jahre “ zu “Passions-Jahren”, hier liegt der Grund für seine widersprüchliche Beziehung zum Exilland: der Grund für seine Gleichgültigkeit, für seine Verachtung, für seine Ironie, aber auch, wie immer paradoxerweise, für seine Dankbarkeit gegenüber der “Zufluchtsstadt”, wie er es nannte.
1921 arbeitete er wieder an der Komposition des Doktor Faust. Im zweiten Bild der Haupthandlung finden wir Faust – nach seiner Flucht mit der Herzogin – in einer Wittemberger Wirtschaft inmitten einer Studentenfeier, wo katholische und protestantische Studenten heftig miteinander diskutieren.
Am Ende des theologischen Disputs wird Faust dazu eingeladen, von seinen Liebesabenteuern zu erzählen. Voller Sehnsucht richtet er seine Gedanken sofort an die Herzogin, die er vor einem knappen Jahr verlassen hat. In diesem Augenblick erscheint Mephistopheles, der ihm den Tod der geliebten Frau verkündet und ihm als “letztes Andenken” die Leiche eines Neugeborenen zu Füßen wirft. Gleich darauf verwandelt er aber den kleinen Körper in ein Bündel und legt Feuer: hinter den Flammen erkennt Faust das Bild von Helene von Troia, als Personifizierung der idealen Schönheit und der vollkommenden Perfektion. Als er aber versucht, sie zu umarmen, verschwindet das Bild und er muss zugeben, dass der “Mensch nicht imstande ist, die Perfektion zu erreichen”. Faust denkt dann über seine wahre Sendung nach und beschließt für immer auf die Magie zu verzichten. Es erscheinen wieder die drei Krakauer Studenten, um die Rückgabe der “Clavis Astaris Magica” zu fordern. Sie verkünden auch, dass er am gleichen Tag um Mitternacht sterben wird. Aber Faust fürchtet sich nicht mehr vor dem Tod, er ist sich bewusst, dass seine Stunde geschlagen hat.
„Vorbei, endlich vorbei! Frei liegt der Weg, willkommen du meines Abends letzter Gang, willkommen bist du!“
Auf seinen Gesang einer friedlichen Annahme des Schicksals legt sich nun – lyrisch und mit grenzenlosem Mitgefühl in der Geigenmelodie – das abschließende Thema der Sarabande, das – erblassend – in die plötzliche Helligkeit eines perfekten Akkords in C-Dur mündet.
Im letzten Bild, auf einer verschneiten Straße nach Wittenberg, nährt sich Faust einer Kirche, von der ein Chorgesang hervorgeht, der den Tag des Jüngsten Gerichts ankündigt. Auf den Stufen erblickt er eine Bettlerin mit einem Kind; in dem Augenblick, in dem er beginnt, ihr zu Hilfe zu kommen, sieht er vor sich die Herzogin, die ihn ermahnt: « Noch ist es Zeit, vollende du vor Mitternacht das Werk». Sie gibt ihm das aus ihrer Liebe geborene Kind, und verschwindet. Faust interpretiert die Geste als Aufforderung, den verlorenen Glauben wieder zu erlangen. Der Zugang zur Kirche wird jedoch vom Schatten des ermordeten Soldaten, Margaretes Bruder, versperrt. Er kniet dann zu Boden vor einem Kruzifix. Aber beim schwankenden Licht der Lampe des Nachtwächters (ein verkleideter Mephistopheles) verwandelt sich plötzlich das Bild des Erlösers in die Gestalt der Helene. Faust begreift dann, dass die christliche Gnade ihm nicht gegönnt ist. Er legt das Kind zu Boden, indem er auf Gott und Satan schimpft. Es folgen grundlegende Versen, die unerklärlicherweise von Philippe Jarnach nicht vertont wurden. In seiner Vervollständigung für die Aufführung in Bologna vom Jahre 1985 wurden sie von Anthony Beaumont wiedereingefügt.
„Euch zum Trotze, euch allen, die ihr euch gut preiset, die wir nennen böse, die ihr, um eurer alten Zwistigkeiten Willen, Menschen nehmet zum Vorwand und auf sie ladet die Folgen eures Zankes. An dieser hohen Einsicht meiner Reife bricht sich nun euere Bosheit. Und in der mir errung’nen Freiheit erlischt Gott und Teufel zugleich“.
Vor der Leiche des Kindes ruft er dann aus:
„So wirke ich weiter in dir, und du zeuge fort und grabe tiefer und tiefer die Spur meines Wesens bis an das Ende des Triebes. Was ich verbaute, richte du grade, was ich versäumte, schöpfe du nach. So stell’ ich mich über die Regel, umfasse in Einem die Epochen und vermenge mich den letzten Geschlechtern, Ich, Faust, ein ewiger Wille!“
Gleich danach stirbt er und überlebt jedoch nach seiner Umwandlung in einem nackten Jungen, der aus der Leiche des Kindes emporgeht. Der Junge bewegt sich in Richtung der Stadt und trägt mit sich einen blühenden Zweig in der Hand. Der Nachtwächter (nochmals der verkleidete Mephistopheles) beleuchtet – indem er Mitternacht ankündigt – mit seiner Laterne Fausts sterbliche Überreste: «Sollte dieser Mann verunglückt sein? », ruft er zynisch aus. Er lädt den Körper auf die Schulter und geht.
Dieses Ende wurde ihm von Ludwig Rubiner vorgeschlagen. Die langen Gespräche mit dem jungen Philosophen und deutschen Schriftsteller in Zürich führten Busoni zu einem Ende, das sich von dem vom Jahre 1914 unterschied. Dieses Ende entstand unter dem gewaltigen Einfluss der utopischen Auffassungen eines Neuen Menschen, die der Schriftsteller in dem Theaterstück Die Gewaltlosen entwickelt hatte, woran er in jenen Jahren in Zürich arbeitete. In den letzten Szenen von Rubiners Drama opfern die Pazifisten ihre Existenz und legen somit ein Zeugnis über die Kraft der Gewaltlosigkeit ab. Deren Martyrium erleuchtet das Volk und führt es zur Verbrüderung. Der Tod der Pazifisten und der ewige Fortbestand ihres «Geistes» und ihres « Willens » offenbaren eine verblüffende Analogie mit Fausts Tod und dem Fortbestand seines « Willens » in seinem Sohn.
Auf musikalischem Gebiet war es Busoni nicht gegeben, seinen Faust zu vollenden. Beim Takt 489 des letzten Bildes legte er für immer den Stift nieder und mit einem Schlüssel sperrte er die Partitur in einer Schublade ein, nachdem er die Verse vertont hatte:
„O beten, o beten, wo die Verse finden?“
Wenn die Suche nach dem Wort metaphorisch einer Suche nach Identität gleichkommt, so war es Schicksal, dass Busoni das Werk seines Lebens nicht vollenden durfte.
Gesprächskonzert aus der Reihe „Faust – Ein europäischer Mythos“ zu Ferruccio Busonis Oper „Doktor Faustus“ am 16.06.2018 im Vortragsaal des Italienischen Kulturinstitut in München mit dem Schweizer Busoni-Experten Laureto Rodoni und dem venezianischen Pianisten Igor Cognolato am Flügel.
Übersetzung: Anna Zanco-Prestel