Hans Hipp: „Wachs zwischen Himmel und Erde, 392 Seiten, viele Abbildungen, 49,90 €, Hirmer Verlag, München 2020, ISBN 978-3-7774-3672-2
Ein dickes Buch ist es geworden, das Hans Hipp vorlegt. Sohn Benedikt gab keine Ruh, bis der Vater sein Vorhaben, über den einzigartigen Fundus der Pfaffenhofener Lebzelterei zu schreiben, verwirklichte. Ein Lebenswerk. Ein prachtvoll bebilderter, reich und klug und fleißig mit Quellen und einschlägiger volkskundlicher Literatur belegter Bild- und Text-Band. Über kunstvoll geschnitzte Holzmodel und die aus ihnen gegossenen wächsernen „Kultfiguren“ geht es hauptsächlich.
Eine Rarität ist das Buch wie das Handwerk, von dem es handelt. Anschaulich und einladend, sich darauf einzulassen, ein Handwerk, das es heute so wie ehedem nicht mehr gibt: das des Lebzelters. Eine gewöhnliche „Lebzelterei“, wie sie in manch größerer Stadt Altbayerns anzutreffen war, ist die von Pfaffenhofen an der Ilm nicht. Sie hebt sich heraus – durch ihre vor 400 Jahren begründete seltene Kontinuität, erst heuer mit neuem Leben im „Haus Hipp“ am Hauptplatz 6 der Kreisstadt Pfaffenhofen erfüllt. Wo es ein Konditorei-Café gibt mit Met-Ausschank. Mehr noch: einen „Branchenmix von Kuchen, Torten, Eis und Pralinen über hochwertige Schokoladenerzeugnisse“. Dazu ein „vielseitiges Honigzelten-Sortiment bis hin zu Kirchen- und Opferkerzen“. Dass die liturgischen Objekte zu den Süßigkeiten passen, erklärt sich für den 71-jährigen Hans Hipp „aus dem historischen Berufsbild eines Lebzelters“.
Ein Lebzelter hatte, nach strenger Regel, Lebzelten aus Bienenhonig zu bereiten und zu verkaufen, Met zu sieden und auszuschenken und Bienenwachs auszupressen und zu bleichen. Daraus ergab sich die Herstellung von Kerzen und „gegossenem Wachsbild“ als Votivgaben. Viele davon wurden – aus Dankbarkeit für vom Himmel erfahrene Hilfe und Rettung aus Not und Leid, aber auch als Bitte um Abwendung von Unbill jeglicher Art – in der Pfaffenhofen nahe gelegenen Wallfahrtsstätte Niederscheyern geopfert. Das geht für Hans Hipp aus den alten kirchlichen Aufzeichnungen in so genannte Mirakelbücher hervor. Zehn davon sind noch vorhanden. Das älteste wurde vor 385 Jahren begonnen. Der Benediktinerpater Franz Gressierer, Bibliothekar des Klosters Scheyern, war ein Glücksfall für Hipp: „Ich konnte Pater Franz von meiner Idee begeistern, die Bedeutung der Wachsvotive aus unserer Lebzelterei, über die jahrhundertealten Aufzeichnungen, direkt von den Votanten erklären zu lassen“.
Hipp vermutet, dass „weit mehr Wachsopfer gebracht“ wurden, „als sie in den Mirakelbüchern verzeichnet sind“ und dass sie von Pfaffenhofen stammen, von den Vorbesitzern der Wachszieherei Hans Hipp, die noch viele bis ins 17. Jahrhundert reichende Wachsmodel besitzt. In Pfaffenhofen wurden also die wächsernen Weihegaben gekauft und in der Kirche von Niederscheyern geopfert.“
Was bewog Hipp, eine im deutschsprachigen Raum einzigartige, über Jahre hinweg zustande gekommene umfassende Sammlung von Wachsvotiven aufzubauen? Er wollte „den Glauben, die Schönheit und die Vielfalt dieser `wächsernen Hilferufe` unserer Vorfahren … bewahren.“ Davon legt er in seinem großartigen Werk beredt Zeugnis ab. Dass es keine Selbst-Bespiegelung wurde, also nur den eigenen und Altbestand der Hipp`schen Votivgaben-Model und deren Abgüsse von Heiligen-, Menschen- und Tierfiguren, Leibern, Körperorganen, Köpfen, Häuschen, Fatschenkindern in bewundernswerten, zum Greifen nahen Fotos aufzuführen und zu beschreiben, sondern auch „kunstvoll gestochene Model aus anderen Lebzeltereien“ einzubeziehen, weitet den Pfaffenhofener Fundus auf den ganzen altbayerischen Raum aus. Hinzukommt ein Kapitel über Wachsstöcke und die wächsernen Eingerichte unter Glasstürzen der Firma Gebr. Weinkamer, Salzburg.
Mit besonderem Interesse geht der Leser wohl den „ganzfigürlich“ in Wachs gefertigten Votanten nach. Wer einmal in der ehemaligen Wallfahrtskirche Pürten, in Waldkraiburg eingemeindet, war, hat die reichen feschen Bauersleute ganz in Wachs bewundert, 160 cm bis 80 cm hoch, die Hände gefaltet alle drei, und in Festtagskleidung aus ihrer Zeit – Ende des 17. Jahrhunderts. Ähnliche, noch prächtigere wächserne lebensgroße Votivgaben gab es in Altötting, Tuntenhausen und Maria Einsiedeln. Die wohl schönsten ihrer Art und historisch verbürgten: die auf einem Kissen knienden, ebenfalls betenden Prinzen „Hieronymus“ und „Ignatius Wolfgangus“, die Bayerns Kurfürst Maximilian I. anfertigen ließ, nachdem Gott seine Bitte um Nachwuchs noch im Alter von 63 bzw. 65 Jahren erfüllte. Zu bewundern in der St. Bennokapelle der Münchner Frauenkirche. Solche „Weihestatuen“, die oft mit dem realen Körpergewicht und in physiognomischer Ähnlichkeit in Wachs moduliert wurden, repräsentierten die persönliche Hingabe eines Bittstellers an die himmlische Macht.
Nina Gockerell, die jahrelang die Volkskundeabteilung des Bayerischen Nationalmuseums leitete, fand für ihr schönes Vorwort einen für Hipp & Co passenden Ausspruch des schwäbischen Barockpredigers Abraham a Santa Clara. Er eröffnet den Hipp`schen Schatzbehalter, er soll diese Besprechung beenden: „Wax und Honig … das erste wird fast mehrentheils zu Gottes Ehr angewendet: das andere brauchen die Lettzeltner für Schlecker-Bissel des Menschlichen Appetits“. Ein solches „Schlecker-Bissel“ ist das ganz dicke Buch. Es erfreut Eingeweihte nicht weniger als es Einsteigern in die wundersame Materie des altbayerischen Votivbrauchtums einführt.