Fantastisch und wunderbar

Rötkäppchen-Szenerie Foto: Hans Gärtner

Fast ganz Europa erfindet neue Bilder zu alten Märchen – die Internationale Jugendbibliothek in München zeigt eine repräsentative Auswahl in ihrer Schatzkammer-Mansarde

Man steigt im Märchenschloss die Treppen hoch. Man landet unterm Dach. Man duckt sich und schaut sich um: In den Vitrinen werden Märchenbilder von Künstlerinnen und Künstlern aus 17 EU-Ländern ausgestellt. Allen voran: „Rotkäppchen“, eines der vielen Märchen, die die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm vor zweihundert Jahren zusammengetragen haben. Ihre zweibändige Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“, 1812 bis 1815 erstmals erschienen, sind das Werk deutscher Sprache, das weltweit am meisten übersetzt wurde. Mit Betonung auf „weltweit“. Was nicht viele wissen. Was aber Christiane Raabe, Direktorin der im Schloss Blutenburg im Münchner Stadtteil Obermenzing untergebrachten Internationalen Jugendbibliothek (IJB), dazu brachte, die Jahresausstellung als besonderen Beitrag zum europäischen Kulturerbe-Jahr 2018 auffassen zu lassen.

Da sind folgerichtig nicht nur deutsche – bis Ludwig Emil Grimm und Ludwig Richter zurückreichende – sondern jede Menge „ausländische“ Märchenbilder zu bewundern. Diese in Betracht zu ziehen, heißt: sich verabschieden von treu-deutschen Bildüberlieferungen, sich einzulassen auf illustrative Märchen-Welten oft ganz anderer, nämlich freiheitlicher, zeitloser, auch provozierender Art. Abschied nehmen von Klischees, heißt es da. Ohne Fantastik und Wunder zu leugnen. Die gezeigten Beispiele moderner Märchenillustration erfordern Um-Denken und „Um-Schauen“. Denn die Auswahl zeitnaher Märchen-Panoramen kann durchaus irritieren.

Dazu passt gar nicht die unterm Dach ausgebreitete Szenerie mit roter Mütze und Pyrenäenwolf in einem echten Trocken-Waldstück. Sie lenkt eher den Blick zurück als dass sie ihn auf die in den aufgeschlagenen Bilderbuch-Seiten gewagten, witzigen, abstrahierten Märchen-Bilder stoßen lässt. „Rotkäppchen“ ist das am häufigsten gewählte Märchenbild-Motiv in Europa. Roberto Innocenti versetzt das unerschrockene Mädchen, das den langen Weg durch den dunklen Wald mit drohenden Gefahren wagt, um die Großmutter zu besuchen, in ein Großstadt-Chaos. Claudia Palmarucci fasst „Die Bremer Stadtmusikanten“ als Arbeiterparabel auf, die Tschechin Kveta Pacovska abstrahiert die Story auf viel Weiß, Schwarz und Rot. „Die Künstlerinnen und Künstler spielen mit den erzählerischen Strukturen der Märchen und machen deutlich, wie dehnbar die Märchenstoffe sind“, so der Begleittext.

Nicht etwa Stoff-Gruppen, sondern den typischen fünf Handlungselementen und Erzählstrukturen der Grimm`schen Märchen folgt die Schau: Aufbruch und Weg mit Bewährungsprobe, Versuchung und Bedrohung, Einsamkeit des Ausgesetzseins, Überwindung der kritischen Lage bis zum glücklichen Ende. Jedes Märchen hat ein Happy-end. Das gehört zu dieser Gattung Kinderliteratur wie so manche Regeln, die nur das Märchen kennt: das Wünschen, das Gut-Böse-Schema, das Hell-Dunkel-Spiel, die Dreiheit, der Gegensatz von Machtlosen und Mächtigen …

Ab 1. März ist (bis 29. September) in der Wehrgang-Galerie eine Ergänzung zur Jahresausstellung zu sehen mit etwa 80 Illustrationen zu Grimms Märchen aus 7 Jahrzehnten. Lisbeth Zwerger, Nikolaus Heidelbach, Susanne Janssen und Binette Schroeder (die heuer 80 wird) bilden den Schlusspunkt einer Reihe, die mit Märchen-Bildern der Nachkriegszeit anhebt. Berücksichtigt wird der gesamte deutschsprachige Raum, auch österreichische und Schweizer Bilderbuchkünstlerinnen und -künstler kommen „zu Wort“. „Europa illustriert die Grimms“ heißt dann die IJB-Tagung für Fachleute und interessierte Laien (28. Februar bis 1. März). Anmeldung und Infos unter www.ijb.de.

Foto (Hans Gärtner)

Zum europaweit meistbebilderten Grimm-Märchen wurde eine Trockenwald-Szenerie mit Wolf und roter Wollmütze unterm Dach der IJB im Märchenschloss Blutenburg installiert.

Finanzen

Über Hans Gärtner 493 Artikel
Prof. Dr. Hans Gärtner, Heimat I: Böhmen (Reichenberg, 1939), Heimat II: Brandenburg (nach Vertreibung, `45 – `48), Heimat III: Südostbayern (nach Flucht, seit `48), Abi in Freising, Studium I (Lehrer, 5 J. Schuldienst), Wiss. Ass. (PH München), Studium II (Päd., Psych., Theo., German., LMU, Dr. phil. `70), PH-Dozent, Univ.-Prof. (seit `80) für Grundschul-Päd., Lehrstuhl Kath. Univ. Eichstätt (bis `97). Publikationen: Schul- u. Fachbücher (Leseerziehung), Kulturgeschichtliche Monographien, Essays, Kindertexte, Feuilletons.