Ex-Bankdirektor John Gabriel Borkman: Unmensch, Machtphantast, Narziss. Ein Ausbeuter, der tief gefallen ist. Grund genug für Armin Petras, ihn in seiner Inszenierung in den Münchner Kammerspielen kurzer Hand unter Tage zu verfrachten. Das grandiose Bühnenbild Olaf Altmanns zeigt das Wohnhaus der Borkmans als Bergwerkstollengewirr.
Im architektonischen Zickzackkurs von oben nach unten. Nur zwei kleine Kammern lassen Bewegungsfreiheit. Die Beklemmung ist spürbar. Ja, sogar aggressiv machend. Zwischen den Szenen wirbeln Unmengen von Papier umher. Geschäftsunterlagen, Kinderzeichnungen – Dokumente eines unterirdischen Lebens.
Innenansichten eines Gefühls
John Gabriel Borkman: „The play to play” in Zeiten der Finanzkrise. Auch wenn Petras Parallelen erfreulicherweise vermeidet. Borkman (André Jung) wollte alles: „es ging darum, alles was dieses Land hervorbringt, alle Quellen der Macht, alle Ressourcen in meine Hände zu bekommen“. Das dafür fehlende Geld nahm er sich und stürzte damit andere in den Ruin. Mit Folgen: fünf Jahre Gefängnis wegen Untreue.
Aber Ausbeuter sind hier auch andere. Allen voran Borkmans Frau Gunhild (Cristin König), in München eine in die Jahre gekommene Blondine, verzweifelt bemüht, einen Rest verlorener Grandezza durch Frisur und Make-Up aufrechtzuerhalten. Und voller Hass auf „den Bankdirektor“, wie sie ihn nennt, den Zerstörer der Familienehre, den sie nach dessen Freilassung für weitere acht Jahre in die obere Kammer des Stollens verfrachtete. Und dort nie wieder aufsuchte. Verachtung und Nichtbeachtung. Die emotionale Höchststrafe des wütenden Weibes, das seither die untere Kammer im Stollen bewohnt.
Gunhilds Hoffnung ruht allein auf dem gemeinsamen Sohn Erhart, der sie aus ihren seelischen Höllenqualen erlösen und die Familienehre durch eine glanzvolle Karriere wiederherstellen soll.
Zwei „Mütter“, ein Sohn, ein Machtkampf
Gunhilds farblose Existenz im Stollen erfährt ein plötzliche Wendung, als ihre feurig-dominante rothaarige Schwester Ella Rentheim – überzeugend verkörpert von Wiebke Puls – nach acht Jahren Funkstille auftaucht und sich holen will, was ihr aus ihrer Sicht zusteht: Erhart, den sie einst an Stelle der überforderten Gunhild aufzog.
Der Besuch der Schwester, der als neckisches, spielerisches Wiedersehen beginnt, wird zum hasserfüllten „Mütter“-Konkurrenzkampf um Erhart. Denn Ella ist sterbenskrank, was sie nicht müde wird zu betonen. Ihre restlichen Tage soll nun ausgerechnet Erhart versüßen.
Eiskalter Narziss
Borkman, der Titelheld – herausragend verkörpert von André Jung –– zeigt im Stollen all seinen eiskalten Narzissmus. Sein ungebrochener Größenwahn blitzt schon beim anfänglichen Besuch des naiven und trotteligen Hilfsschreibers Foldal auf. Borkman prahlt, gibt an und macht sich die Haare schön. Mit Creme – Pomade gibt’s in seinem Stollenkabuff offenbar nicht. Nur die Blässe und das Elend im Gesicht wollen einfach nicht dazu passen. Eine tragische Parodie fast. Später weicht der anfänglich getragene alte Anzug einem Stresemann. Borkman faselt – geradezu berauscht von den eigenen Allmachtsphantasien.
Das Riesenbaby rastet aus
Die fleischgewordene Antithese: Sohn Erhart (Lasse Myhr). Petras zeigt ihn – klischeehaft überrissen – als abgerockten und angeschickerten Verbindungsstudenten mit schlechtsitzendem, dreckigen Anzug, eine Magnumflasche Schampus im Arm. Darunter aber brodelt ein Vulkan, eine Magmakammer jahrelang angestauter Wut des Jungen und des Mannes, der von beiden „Müttern“ emotional ausgebeutet wurde. Und die stehen jetzt vor ihm und fordern eine Entscheidung. Sie oder ich. Ich oder sie. Die Explosion ist unvermeidbar. Erhart schreit, er wütet, er brüllt wirre Monologe ins Publikum – und bleibt dabei doch unbeholfen wie ein Kind. Lasse Myhr macht das sehenswert.
Vor allem aber will Erhart einmal so richtig „provokant“ sein! Tja, was kann das wohl im gescholtenen deutschen Regietheater heißen? Klar, Ausziehen! Ausziehen! Ausziehen! Natürlich. Endlich nackt, greift sich Erhart sofort an sein bestes Stück und wedelt damit fröhlich herum, als gäb’s kein morgen. Als Borkman später seinen Oberkörper freimacht, schaut er ins Publikum und gibt Entwarnung: „keine Angst“. Das sorgt für Gelächter. Für Petras ist Nacktheit eben auch Ironie. Dass Erhart sich schließlich noch in ein viel zu enges Superman-Kostüm quälen muss – gut, sei es halt verziehen.
Ironie des Schicksals: Flucht mit der Großmutter
Ironie des Schicksals: Die Flucht aus den emotionalen Klauen von Mutter und Tante wagt Erhart erst mit der älteren Geliebten Fanny Wilton. Schon der Altersunterschied von sieben Jahren, den Ibsen im Originaltext vorgibt, lässt aufhorchen. Die Geliebte als Mutter Nr. 3? Petras jedenfalls überzeichnet diese Assoziation großartig: seine Fanny Wilton ist mindestens über 60, eine ältliche, angesäuselte und indifferent wirkende Diva im blauen Abendkleid. Die Gummistiefel unter ihrem Kleid entlarven ihre Verkleidung. Erhart jedoch sieht in Fanny sein Glück. Da lassen „Harold und Maude“ grüßen.
Mit im Schlepptau haben die beiden Foldals Tochter Frida (Hanna Plaß), optisch ein „Mädchen“ – fast wie Lucilectric! Sie beglückte das Publikum zuvor mit Songs von Rio Reiser und den Ton Steine Scherben. Selbst begleitet am Klavier, vorgetragen mit schriller Stimme – eine Hommage Petras an die gemeinsame Zusammenarbeit mit dem verstorbenen Sänger.
Dann kommt der Tod. Auch „Borkman“ ist am Ende nur ein „Jedermann“. Und dann fällt der Vorhang. Ein Theater-Erlebnis: weil es vielleicht unser Leben ist.
(c) www.freundederkuenste.de
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