Man sagt ja den Grünen nach, dass sie das Rad neu erfinden möchten. Dessen bin ich mir aber gar nicht so sicher. Ich vermute eher, dass die Erfindung des Rades unter Grüner Herrschaft die Umweltverträglichkeitsprüfung nach dem von Grünen und Konservativen in die Welt gesetzten Vorsorgeprinzip wegen der dem Rad innewohnenden unübersehbaren Risiken gar nicht bestanden hätte. Aber ich möchte die Grünen hier nicht undifferenziert als Angsthasen hinstellen. Denn übertriebene Vorsicht auf einem Gebiet kann sich bei ihnen durchaus mit Mut, wenn nicht sogar Waghalsigkeit auf einem andern Gebiet paaren. Um etwas Waghalsiges handelt es sich zweifelsohne bei der deutschen „Energiewende“, die nach dem Willen der nicht gewählten EU-Kommission in ganz Westeuropa kopiert werden soll. Noch kein anderes Land hat es allerdings bislang gewagt, worauf sich die Deutschen unter dem Druck der Grünen aller Kartellparteien eingelassen haben: Gleichzeitig aus Kernenergie und Kohlenutzung auszusteigen und diese durch „saubere“, aber witterungsabhängige Energiequellen zu ersetzen.
Inzwischen scheint sich zumindest die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass eine Elektrizitätsversorgung auf der Basis unsteter Energiequellen unbedingt großer Speicher für die Überbrückung so genannter Dunkelflauten bedarf. Da sich Elektrizität aber in großtechnischem Maßstab mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand nicht speichern lässt, verfielen die Promotoren der Energiewende auf eine Idee, die freilich schon über hundert Jahre alt ist: die Produktion von „grünem“ Wasserstoff mithilfe der Elektrolyse von Wasser auf der Basis von „Grünstrom“ aus Solar- und Windkraftanlagen und zum geringeren Teil aus vergorener Biomasse. Der so erzeugte Wasserstoff kann mit einigem technischen Aufwand gespeichert und bei Bedarf mithilfe von Brennstoffzellen wieder in Elektrizität zurückverwandelt werden. Dabei geht die ursprünglich gewonnene Energie aber etwa zur Hälfte in Form von Abwärme verloren. Darüber hinaus soll Wasserstoff anstelle von Kohle bzw. Koks in der Stahl- und Zementindustrie als Reduktionsmittel dienen sowie in Straßen- und Schienenfahrzeugen, Schiffen oder gar Flugzeugen mit Brennstoffzellen-Antrieb oder in herkömmlichen Motoren mit synthetischen Treibstoffen (E-Fuels) eingesetzt werden. Nicht zuletzt soll die Chemieindustrie zukünftig einen ihrer wichtigsten Grundstoffe, die Erdölfraktion Naphtha (Rohbenzin), mithilfe von grünem Wasserstoff synthetisieren, statt ihn aus OPEC-Ländern oder Russland zu importieren.
Eine erste großtechnische Elektrolyseanlage wurde bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Griesheim bei Frankfurt am Main in Betrieb genommen. Ein Wasserkraftwerk an einer nahe gelegenen Staustufe des Mains deckte seinen für damalige Verhältnisse enormen Strombedarf. Wasserstoff war allerdings nur ein Nebenprodukt dieser Anlage zur Spaltung von gelöstem Koch- oder Kalisalz. Ein weiteres Nebenprodukt war das giftige Chlor, das abgesehen von seinem Einsatz als Kampfgas im Ersten Weltkrieg, erst Jahrzehnte später in der Produktion des Kunststoffs PVC eine nützliche Verwendung fand. Hauptzweck der Elektrolyse war zunächst die Herstellung von Natron- oder Kalilauge, die noch heute zu den wichtigsten Grundstoffen der chemischen Industrie gehören.
Auch das Nebenprodukt Wasserstoff (H2) erwies in der Folgezeit als sehr nützlich, da mit seiner Hilfe nach dem Haber-Bosch-Verfahren Ammoniak bzw. Stickstoffdünger hergestellt werden kann und eine Vielzahl chemischer Reduktionen und Synthesen ermöglicht wird. In der EU gibt es zurzeit 300 kleine und mittlere Elektrolyse-Anlagen mit einer Gesamtproduktion von etwa 7 TWh H2. Das sind nur vier Prozent der gesamten Wasserstoffproduktion. Zum allergrößten Teil gewinnt die chemische Industrie den von ihr benötigten Wasserstoff in der Größenordnung von jährlich 115 Millionen Tonnen weltweit nicht über die Elektrolyse von Wasser, sondern aus der Reformierung von Erdgas (Methan). Das hat einen einfachen Grund: Die Herstellung von Wasserstoff über die Elektrolyse von Wasser kostet fast siebenmal so viel Energie wie die so genannte Dampfreformierung von Kohlenwasserstoffen. Dabei wird Erdgas durch Erhitzung in H2 und CO2 aufgespalten. Bei der herkömmlichen Methode der Wasserstoff-Gewinnung entweicht das frei werdende CO2 als inertes, d.h. harmloses Gas ungenutzt in die Atmosphäre. Deshalb bezeichnen die Grünen den auf diesem Weg gewonnen Wasserstoff als „grau“.
Grauer Wasserstoff eignet sich nicht für die von den Grünen aller Parteien geforderte „Dekarbonisierung“ der Produktion. Wird das nach dem traditionellen Verfahren freiwerdende CO2 jedoch aufgefangen und in unterirdische Hohlräume verpresst, spricht man von „blauem“ Wasserstoff, der den ideologischen Vorgaben der grünen „Energiewende“ schon näher kommt. „Türkis“ heißt der Wasserstoff, der entsteht, wenn die thermische Spaltung von Erdgas so gesteuert wird, dass dabei kein CO2-Gas, sondern fester Kohlenstoff anfällt. Als „grüner“ Wasserstoff wird hingegen nur Wasserstoff anerkannt, der durch die elektrolytische Spaltung von Wasser mithilfe von „Grünstrom“ entsteht. Das ist allerdings die mit Abstand teuerste Variante der Wasserstoff-Erzeugung. Nach einer Übersicht im „Wall Street Journal“ vom 8. Oktober 2020 kostet die Erzeugung von einem Kilogramm grünem Wasserstoff bis zu 19 Dollar. Blauer Wasserstoff ist dagegen schon für 3 Dollar und grauer Wasserstoff für nur 1,50 Dollar je Kilo zu haben.
Ein rotes Tuch ist demgegenüber für die Grünen offenbar der Einsatz von Kernreaktoren für die elektrolytische oder thermische Wasserstofferzeugung. Wohl deshalb wird der so gewonnene Wasserstoff als „rot“ klassifiziert. In ihrer kürzlich erschienen Untersuchung der aktuellen und zukünftigen Kosten der Wasserstoffproduktion geben die beiden führenden Chemie-Ingenieure Alessandro Clerici und Samuele Furfari die Kosten der Herstellung blauen Wasserstoffs durch abgeschriebene und in ihrer Laufzeit verlängerte französische Kernkraftwerke mit zweieinhalb Euro je Kilo an. In dem Anfang Juli 2021 von Katherina Reiche (CDU) in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats (NWR) vorgestellten „Wasserstoff Aktionsplan Deutschland 2021-2025“ wird roter Wasserstoff von vornherein ausgeklammert. Der heutige Wasserstoffbedarf der deutschen Chemieindustrie wird in diesem Dokument mit 1,1 Millionen Tonnen im Jahr angegeben. Schon bis zum Jahre 2035 werde sich dieser Bedarf mehr als verdoppeln. Die Hälfte davon soll grün sein. Der Einsatz von blauem Wasserstoff soll lediglich für eine Übergangszeit geduldet werden. Ein beträchtlicher Teil des grünen Wasserstoffs soll aus europäischen Ländern importiert werden, die über günstigere Produktionsbedingungen als Deutschland verfügen. Dafür bedürfe es jedoch „eines robusten Zertifizierungs- und Trackingsystems“, um die Herkunft des Wasserstoffs verfolgen zu können.
Über den vorläufigen Einsatz von blauem Wasserstoff gibt es in Deutschland schon jetzt einen handfesten Streit zwischen interessierten Industriekonzernen und der grünen Lobby. Der Stahlkonzern Thyssen-Krupp Steel möchte im Rahmen des Projekts „H2morrow“ sein Duisburger Stahlwerk in Zusammenarbeit mit dem norwegischen Energiekonzern Equinor auf den Einsatz von blauem Wasserstoff als Reduktionsmittel umstellen. An der niederländischen Küste über eine bestehende Pipeline angelandetes norwegisches Erdgas soll durch autotherme Reformierung in H2 und CO2 aufgespalten werden. Das abgeschiedene CO2 soll über eine weitere Pipeline in Hohlräume zweieinhalb Tausend Meter unter dem Grund der Nordsee geleitet werden. Doch in ihrer Nationalen Wasserstoff-Strategie erkennt die deutsche Bundesregierung diesen Einsatz von blauem Wasserstoff auf Druck der Grünen und ihrer führenden Lobbyistin Prof. Claudia Kempfert, wie Daniel Wetzel am 13. Juli 2921 in DIE WELT berichtete, nicht als nachhaltig und förderungswürdig an. Deshalb wird das Projekt „H2morrow“ wahrscheinlich nicht in Deutschland realisiert werden.
Die EU-Kommission plant in ihrer „Wasserstoff-Strategie für ein klimaneutrales Europa“ zwischen 2025 und 2030 den Aufbau von Kapazitäten für grünen Wasserstoff in der Größenordnung von 10 Millionen Jahrestonnen. Dafür brauche man eine Elektrolyse-Kapazität von 40 Gigawatt (GW), erklärt die EU-Kommission. Clerici und Furfari haben nachgerechnet und kommen stattdessen auf 50 GW. Überdies konnten die beiden Ingenieure nachweisen, dass die EU-Kommission bzw. ihre grünen Berater mit einer unerreichbar hohen Effizienz der Elektrolyse-Anlagen gerechnet haben. Um mit 50 GW 10 Mio. Tonnen (oder 333 TWh) H2 zu erzeugen, müssten die von Windrädern und Fotovoltaik gespeisten Anlagen 8.760 Stunden im Jahr laufen. Realistisch seien aber auf der Basis der Zahlen von Eurostat im europäischen Schnitt nur 2.050 Stunden für Windräder und 1.150 Stunden für Solarpanele. Deshalb brauche man in der EU 157 GW zusätzliche Windkraft-Kapazitäten und 105 GW zusätzliche Photovoltaik-Kapazitäten, um die Ziele der Kommission zu erreichen. Insofern erscheint realistisch, was der Chef des Industriegase-Konzerns Linde, Wolfgang Reitzle, kürzlich vorrechnete: Um die Forderungen der Grünen in Sachen Erneuerbare Energien und grünem Wasserstoff eins zu eins umzusetzen, brauche man allein in Deutschland über 300.000 Windräder. Dafür reicht der Platz nicht aus. Dr.-Ing. Erhard Beppler hat das vor kurzem hier bestätigt.
Clerici und Furfari halten sich in ihrer Kostenschätzung der Produktion von grünem Wasserstoff an die Vorgaben der Internationalen Energie-Agentur (IEA). Zurzeit kostet grüner Wasserstoff bis zum 17-Fachen des Marktpreises von Methan (ohne CO2-Steuer). Dieser lag im vergangenen Jahr im EU-Durchschnitt bei 13€/MWh. Die obige Abbildung zeigt die Ausgangslage, das unten stehende Bild die „offizielle“ Zielprojektion. Die EU-Kommission „verspricht“ bis zum Jahre 2050 einen Selbstkostenpreis für grünen Wasserstoff von einem Euro je Kilo. Erreichbar sei das nur bei einem CO2-Preis von mindestens 100 Euro je Tonne, betonen Clerici und Furfari. Sie halten einen solch hohen CO2-Preis in einer globalisierten Welt aber nicht für durchsetzbar, zumal die Einführung der von der EU-Kommission geforderten „Carbon Border Tax“ zum Schutz des durch den „Green Deal“ der EU verteuerten Lebens von 450 Millionen Europäern gegen außereuropäische Konkurrenz bei Fachleuten als illusorisch gilt.
Samuele Furfari, der als früherer hoher Beamter der EU-Generaldirektion Energie und als heutiger Präsident der europäischen Gesellschaft der Ingenieure und Industriellen über tiefe Einblicke in energiepolitische und technische Zusammenhänge verfügt, fürchtet deshalb, dass das ehrgeizige Wasserstoff-Programm der EU-Mitgliedsstaaten andere Bereiche der Daseinsvorsorge kannibalisieren wird. Knappheiten an allen Ecken und Enden werden wohl zur Rationierung von Ressourcen führen. In einer früheren Veröffentlichung wies Furfari überdies auf die lange Liste von technischen und ökonomischen Fehlschlägen früherer Versuche der Wasserstoffherstellung aus Kohle oder Biomasse hin. Er hätte dabei auch die Studie „Technik und Wirtschaft im Dritten Reich. Ein Arbeitsbeschaffungsprogramm“ (Heft 38 der Nationalsozialistischen Bibliothek) von Dr. Ing. Franz Lawaczeck, München 1933, erwähnen können. Diese Schrift zeigt m.E., in welchem ideengeschichtlichen Zusammenhang die aktuelle Wasserstoff-Utopie zu verorten ist, denn Wasserstoff spielt darin bereits eine zentrale Rolle.
CAPEX = Investitionskosten schlüsselfertiger Elektrolyse-Anlagen
LCOH = Nivellierte Selbstkosten der H2-Produktion