Wie wir sind, hängt in erheblichem Maße von uns selbst ab. Dass wir sind, ist weder unser Verdienst noch unser Fehler. Als mehr oder weniger handlungsfreie und intelligente Wesen können wir in begrenztem Maße unser Sosein gestalten: unser Leben in jenem elastischen Rahmen fristen oder planen, der uns durch eine hohe oder niedrige „soziale Geburt“ vorgegeben ist – oder alle scheinbar vorgezeichneten Bahnen transzendieren. Was hingegen unser Dasein angeht, hatte niemand die Wahl, es zu wählen oder abzulehnen. So gesehen ist das Dasein eine existentielle Zwangsjacke, die uns angezogen oder besser: angezeugt wurde. Ablegen kann sie nur, wer den Freitod wählt; sie anzulegen hatten wir keine Wahl. Aus dem Umstand, dass man uns zwar begrenzt für unser Sosein verantwortlich machen kann, nicht aber für unser Dasein, soll hier die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle Geborenen abgeleitet werden: Keine Person kann etwas dafür, dass sie gezeugt und geboren wurde. Indem man jedoch circa 20 Jahre nach der Geburt von ihr verlangt, sie möge ihr Dasein fortan gefälligst aus eigener Kraft fristen, behandelt man sie geradewegs so, als hätte sie sich selbst gezeugt, wofür sie nun die Konsequenzen zu tragen habe. Kausal verantwortlich für ihr Dasein sind indes die Eltern der betreffenden Person, sozial und ideologisch die Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurde.
Im Sinne einer Umkehrung der altüberlieferten nativistischen Denkungsart wies bereits Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten darauf hin, dass Eltern es ihren ungefragt gezeugten Kindern schuldig sind, sie zu versorgen. Statt von den zustimmungslos gezeugten Kindern auch noch Dankbarkeit für das unfreie – da von Seiten der Kinder notwendigerweise zustimmungslose – Gezeugtwordensein zu verlangen, spricht Kant von elterlicher Versorgungspflicht. Kinder, so Kant, haben „ein ursprünglich-angebornes (nicht angeerbtes) Recht auf ihre Versorgung durch ihre Eltern, bis sie vermögend sind, sich selbst zu erhalten.“ (Kant, Metaphysik der Sitten: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1. Teil, § 28) Kindliches Versorgungsrecht und elterliche Versorgungspflicht lässt Kant bis zur Erwerbsfähigkeit des Kindes gelten.
Entscheidend ist nun die Frage, wie oder ob wir die von Kant eingeleitete Umkehrung der nativistischen Denkungsart weiterdenken können oder müssen. Denn was geschieht, wenn das Kind „vermögend“ geworden ist, sich selbst zu erhalten? Halten wir uns an Kant: Die Zeugung eines Menschen ist für ihn keine reine Privatangelegenheit, sondern mit einem erzieherischen Auftrag verbunden, denn es handle sich um einen Akt, „wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt… haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen.“ (Ebd.) Die elterliche Erziehung des Menschengeschlechts muss Kant zufolge also darin bestehen, aus jedem zunächst einwilligungslos daseienden Menschen einen Daseienden aus Überzeugung zu formen. Ein solcher Daseiender aus Überzeugung, dürfen wir mutmaßen, würde zufrieden die nächstschlechte Arbeit annehmen, um „sich selbst zu erhalten“. Muss er das? Mitnichten! Auch der nunmehr volljährig oder erwerbsfähig gewordene Mensch ist nach wie vor keine Person, die auf irgendeinen Wunschzettel notiert hätte, das „Geschenk“ des Lebens erhalten zu wollen.
Im Falle erwerbsfähig oder volljährig gewordener Personen sind die Eltern aus der von Kant geforderten Verbindlichkeit entlassen. Anstelle der Eltern ist es nun Sache der Gesellschaft, die Grundversorgung der groß gewordenen Kinder zu übernehmen. – Eine Aufgabe, die sie am besten löst, indem sie ihnen ein bedingungsloses Existenzgeld zukommen lässt.
Ein solches nativistisches bedingungsloses Grundeinkommen ist in erster Annäherung als Kompensation dafür anzusehen, dass jedem Gezeugten und Geborenen das Pensum des Lebens mit den durchzumachenden Mühen, Krankheiten und Abschieden sowie dem je eigenen Sterben zugemutet wird. Sofern ein Staat seinen Bürgern niemals gänzlich von der Fortpflanzung abraten wird – Staatsziel wäre dann das „Absterben des Staates“ –, ist er gehalten, seinen Bürgern lebenslang die finanziellen Ressourcen für ein (mit Rücksicht auf Ort und Zeit unterschiedlich zu bestimmendes) menschenwürdiges Dasein zukommen zu lassen.
Solange er keine dezidiert antinatalistische Politik verfolgt, ist der Staat als Nachfolger partikulärer Elternpflichten anzusehen – und zugleich als existentieller Gesamtschuldner, unter dessen pronatalideologischem Schutz Eltern ihre Nachkommen guten Gewissens „ins Dasein treten ließen“. Hier fungiert das nativistische Grundeinkommen näherhin als ein Schadensersatz, den der Gesamtschuldner zumindest all jenen Bürgern lebenslang zu gewähren hat, die geltend machen, dass sie die eigene Existenz nicht erbeten haben und in Ansehung der elterlich und staatlich gutgeheißenen Daseinszumutungen unzufrieden sind.
Damit ist die Frage nach der Bedingungslosigkeit des nativistischen Grundeinkommens aufgeworfen: Sollte es auch denen in vollem Umfang gewährt werden, die – selbst Eltern geworden – das Dasein offenbar bejahen, welches sie schließlich – wenn es unerträglich wäre – eigenen Kindern doch wohl nicht zumuten würden? Entscheidet sich jemand für Nachkommen, so vollzieht er eine rückwirkende Konfirmation seines Daseins in mindestens dreierlei Hinsicht:
1. Er bestätigt im Nachhinein, dass es gut ist, ohne Wahl in die Welt gesetzt zu werden.
2. Er bekundet, dass die Welt, in die er hineingesetzt wurde, insoweit zumutbar ist, dass man gemäß seiner Zeugungsfolgenabschätzung weitere Menschen in sie hineinbringen kann.
3. Er bringt zum Ausdruck, dass er selbst so gelungen und als Erzieher geeignet ist, dass es unbedenklich ist, die eigene Erbmasse paritätisch in einem neuen menschlichen Organismus Gestalt und Bewusstseinsinhalte annehmen zu lassen und mit den ihm zu Gebote stehenden erzieherischen Mitteln zu formen.
Trotz dieser dreifachen rückwirkenden Daseinskonfirmation, die jeder sich Fortpflanzende zumindest implizit tätigt, sollte ein Existenzgeld bedingungslos auch an Eltern ausgezahlt werden. Dies gebietet nicht allein die praktische Dimension politischer Gerechtigkeit, sondern zudem die Überlegung, dass nicht Wenigen das ihnen zugemutete Dasein erst recht unerträglich schiene, wenn sie durch ihre – die erlebte Sinnlosigkeit fortzeugende – Weise der Sinnstiftung finanzielle Einbußen erlitten.
Die Forderung nach einem nativistischen bedingungslosen Grundeinkommen bricht mit der Idee des „Sozialschmarotzertums“. Das Existenzgeld macht Ernst mit der Einsicht: Niemand kann für seine Geburt. Mag unser Sosein (die Frage, wie wir sind) in unseren Verantwortungsbereich fallen, so kann doch niemand für sein Dasein. Wer unverschuldet ins Dasein geraten ist (und wer wäre das nicht), hat einen Anspruch auf Mittel zur Daseinsfristung. Das Existenzgeld ist ein notwendiges Requisit, um der Existenzangst begegnen zu können, die jeden überkommen kann, der – Kantisch erwerbsfähig geworden – andernfalls gezwungen wäre, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, indem er einer sinnentleerten Beschäftigung nachgeht.
Niemandem ist es beschieden, zum Daseinsbeginn Nein zu sagen. Das nativistische Grundeinkommen fundiert die Freiheit, als mündiger Bürger nicht zu allem Ja sagen zu müssen. Als Existenzgeld fungiert es als rückwirkende Wiedergutmachung dessen, dass man uranfänglich nicht Nein sagen konnte. Ein Staat, der seinen Bürgern ein Existenzgeld verwehrt, behandelt sie so, als hätten sie – wie in Samuel Butlers Roman Erewhon der Fall – als präexistente Wesen die Conditio in/humana freiwillig angestrebt, weshalb sie jetzt keine Forderungen stellen dürften (siehe meinen Artikel Seinsunwilligkeit vor dem Schleier gebürtlichen Nichtwissens – von John Rawls zu Samuel Butler: http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_3296/)
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