Hugo Fischer: Lenin: der Machiavell des Ostens. Erstausgabe hrsg. von Steffen Dietzsch und Manfred Lauermann, Berlin (Matthes & Seitz), o.J. (2017), 327 Seiten
I.
Der Name Hugo Fischer (1897-1975) ist außer Kennern von Biografie und Werk der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger heute kaum jemandem bekannt. Ihn mit der Herausgabe des Buches in Erinnerung zu bringen, ist das Bestreben der Philosophen Steffen Dietzsch und Manfred Lauermann.
Die von ihnen besorgte vorliegende Erstausgabe hat eine verschlungene Genese hinter sich. Das Lenin-Buch sollte im Frühjahr 1933 bei der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg erscheinen. Einige Sätze verweisen darauf, dass Fischer noch zu Beginn des Jahres einige Textpassagen eingefügt hat. So schreibt er im Einleitungskapitel (»Über die Sendung der Deutschen. Das Reich als Potenzierung des nationalen und sozialen Staates«), wo er – unter Bezug auf Hegel – seine Geschichtsvision exponiert: »Für eine antikapitalistische Revolution ist es im nationalsozialistischen Deutschland zu spät: wenn eins klar und deutlich ist, dann ist es dies, daß der moderne Deutsche dem Teufel der Rechenhaftigkeit und des Profitgeistes die Fetzen des Vertrages, den er mit ihm abgeschlossen hatte, ins Gesicht schleudert. […] Zweifellos ist heute in Deutschland die politische Macht des Staates stark genug dazu, diesem niedrigen Teufel, die Stirn zu bieten und ihn in die Knie zu zwingen. 1933 geschieht es zum erstenmal, daß ein deutscher Minister (sic!) den ernstzunehmenden Willen bekundet, die ›soziale‹ Revolution mit der nationalen zugleich durchzuführen.« (16f.)
Angesichts von Hitlers ›Machtergreifung‹ schien es dem Autor dann doch geraten, die bereits gedruckten Bögen wieder einstampfen zu lassen. Einen der wenigen bereits ausgedruckten Buchblöcke gab Fischer an – den im Buch nur an einer einzigen Stelle (S.269) zitierten – Carl Schmitt weiter. Dieser schenkte im Sommer 1948 sein Exemplar mit Widmung Armin Mohler (1920-2003), der ein Jahr später mit seiner Dissertation über die ›Konservative Revolution‹ in Basel bei Karl Jaspers promoviert wurde. Aus Mohlers Nachlass gelangte das Konvolut an den Carl-Schmitt-Experten Günter Maschke, der es an Manfred Lauermann weitergab.
Allein diese Entstehungsgeschichte mag es nahelegen, das Buch unbesehen in die Rubrik ›antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik‹ einzureihen, wie es anno 1962 der Politologe Kurt Sontheimer unter Bezug auf Fischers Reichsgedanken (in dessen 1931 veröffentlichten Aufsatz »Politik und Metaphysik«) vorgezeichnet hat (Sontheimer, 241f.). Wenn es indes darum geht, die Vorgeschichte der »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) in all ihren Facetten auszuleuchten, ist mit derlei Etikettierung wenig gewonnen. Der von Fischer und anderen entwickelte – mit totalitären Zügen ausgestattete – ›Reichsgedanke‹ mag realitätsfern und politisch abwegig gewesen sein. Gleichwohl hatte er nichts gemein mit der durch den Nationalsozialismus im Zeichen unsäglicher Verbrechen ins Werk gesetzten Realität des ›Dritten Reiches‹. Vielmehr war er kennzeichnend für die um 1930 von Karl Jaspers umrissene »geistige Situation der Zeit«. (Jaspers)
II.
Hugo Fischer, als Kriegsfreiwilliger im Weltkrieg schwer verletzt, wurde 1921 in Leipzig mit einer Dissertation bei Felix Krüger über »Das Prinzip der Gegensätzlichkeit bei Jakob Böhme« promoviert, 1926 habilitierte er sich mit »Hegels Methode in ihrer ideengeschichtlichen Notwendigkeit«. Obgleich Verfasser weiterer Bücher über Nietzsche (1930) und Marx (1932), gelangte er jahrelang nicht über die Position eines Privatdozenten hinaus. In Leipzig beeindruckte er Ernst Jünger, der 1923 ein – nach wenigen Semestern abgebrochenes – Studium der Zoologie und Philosophie aufgenommen hatte sowie dessen Bruder, den Juristen Friedrich Georg Jünger. Die hohe Bedeutung Fischers als Lehrer und Freund Ernst Jüngers – im Sommer 1935 unternahmen sie gemeinsam eine Norwegen-Reise – tritt in dessen Tagebüchern hervor, wo er den Philosophen als »Magister«, zuweilen als »Magus« oder »Nigromontanus« apostrophiert.
Über Ernst Jünger gelang es dem befreundeten Ernst Niekisch (1889-1967), Fischer als Autor für seine 1926 gegründete Zeitschrift Widerstand zu gewinnen. In Niekischs Widerstandsverlag erschien 1929 Das Leben Nicolo Machiavellis aus der Feder des italienischen Journalisten Giuseppe Prezzolini. Adnote: Das Machiavelli-Thema war in der Zwischenkriegszeit en vogue: 1926 erschien das Buch Von Machiavelli bis Lenin. Neuzeitliche Staats- und Gesellschaftstheorien des sozialdemokratischen Neukantianers Karl Vorländer. (70 Fn.) Carl Schmitt schrieb 1927 einen kürzeren Aufsatz Macchiavelli. (Lauermann, 159)
Vornehmlich in Niekischs Widerstand proklamierten weit rechts angesiedelte Intellektuelle ihren antiliberalen Protest gegen den Westen und das ›System von Versailles‹. Die nationalrevolutionäre Programmatik gründete auf der »totalen Mobilmachung« (Ernst Jünger, 1930) der Nation sowie auf dem Zusammengehen Deutschlands mit dem seit Rapallo (1922) und dem Berliner Vertrag (1926) verbündeten Sowjetrussland. Ex oriente lux: Im Jahre 1932 unternahm Niekisch mit einer Reisegruppe, darunter der 1942 als Widerstandskämpfer hingerichtete Arvid Harnack, der Geopolitiker Adolf Grabowsky sowie der aus der ›Heidelberger Schule‹ stammende Nationalökonom Emil Lederer eine von dem Gießener Professor Friedrich Lenz und dessen ›Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft‹ (Arplan) organisierte Reise in die Sowjetunion. (Niekisch, 216f.)
Maßgeblich aufgrund ihrer ›Ostorientierung‹ firmierte der nationalrevolutionäre Zirkel um Niekisch und die Brüder Jünger bei Sympathisanten wie bei Feinden – als Intimfeinde die antibolschewistischen Nationalsozialisten – als ›Nationalbolschewisten‹. Die Bezeichnung lässt sich auch auf den provokativ gemeinten Satz Niekischs zurückführen: »Wir sind keine Bolschewisten, aber wir sind des Bolschewismus fähig.«
Mit einer Berufung auf einen Lehrstuhl hatte der Privatdozent Fischer – obgleich unterstützt von Felix Krüger sowie dessen Leipziger Kollegen Arnold Gehlen und Hans Freyer – in den 1930er Jahren kein Glück. Als man ihm im Sommer 1938 eine außerordentliche Professur anbot, befand er sich zu einem Kururlaub in Norwegen. Unter dem Eindruck der »Niekischaffaire« (so Fischer in einem Brief vom April 1938 an die nach Chicago emigrierte Familie Manheim, zit. 321.) – Niekisch wurde 1937 verhaftet, 1939 zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt – und der Gefahr einer Verhaftung hielt es Fischer für ratsam, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Im Juli 1939 siedelte er endgültig von Norwegen nach England über. Dort steuerte er 1943 zu einem Band In Tyrannos. Four Centuries of Struggle against Tyranny in Germany einen Beitrag über Hegel bei (vgl. Nachwort, 320, 304-5). Als mit Sanskrit-Studien vertrauter Gelehrter wurde er 1949 als Gastprofessor für westliche Philosophie an die Universität Benares berufen. Anno 1956 kehrte er, mit einer außerordentlicher Professur an der Universität München betraut, nach Deutschland zurück.
III.
In seinen Erinnerungen beschrieb Niekisch Hugo Fischer als skurrilen, so zerstreuten wie tiefsinnigen Philosophen, dessen »Gesprächen von früh bis abends standzuhalten«, einige Anstrengung kostete. Anerkennende Worte fand er für »die besondere methodologische Eigenart Fischers […], schlagkräftige Zitate auszuwählen und den Gehalt solcher Zitate bis ins letzte auszuschöpfen.« (Niekisch, 193).
Inwieweit Jüngers ›Magister‹ diese Methode im vorliegenden Werk erkenntnisförderlich zur Anwendung gebracht hat, muss offen bleiben. Der Leser ist genötigt, sich auf eine eigenwillige Sprache, durchsetzt mit nicht immer geglückten Denkfiguren und Sprachbildern, einzulassen. So heißt es im Einleitungskapitel: »Speziell die Aufgabe einer Philosophie des Politischen liegt nicht darin, auf Naheliegendes hinzuweisen und Naheliegendes aufzuklären. Dinge, die uns in die Hand gespielt werden, können wir mit dem gesunden Menschenverstand fassen. Die in Jahrtausenden erworbenen Erkenntnisorgane und Begriffstechniken der Philosophie sind dann in Anwendung zu bringen, wenn die schwersten Erkenntnisaufgaben anzugreifen sind. Die Erkenntnistechnik der modernen Philosophie ist im Grund kompliziert, und die geistigen Kapitalien, die in die kunstvolle Erkenntnisapparatur investiert sind, würden sich verzehren, wenn die Apparatur nicht für die Ziele eingesetzt wird, für die sie eben bestimmt, ausgebildet und geeignet ist.« (18).
Eine schlüssige Explikation dieser ›komplizierten‹ Erkenntnistechnik findet indes nicht statt. Nur mit Mühe erschließt sich der Zugang zu der in den »Jahren der Entscheidung« (Oswald Spengler, 1933) von Fischer verfochtenen politischen Philosophie: eine spezifische ›Metaphysik‹ der Geschichte und des Politischen, sprich: des an Machiavelli geschulten, zweckdienlichen Umgangs mit Macht im Dienst der ›Sache‹. Die ›Sache‹ – die Schaffung eines überstaatlichen, transnationalen ›Reiches‹ – ist die historische Mission der dazu Berufenen – exemplarisch dafür die Persönlichkeit eines Lenin.
Dass es Fischer nicht um eine Biografie, sondern um Ausdeutung seiner politischen Philosophie ging, ist evident. In der Endphase der Weimarer Republik – etwa acht oder neun (s.o.) Jahre nach Lenins Tod (21.01.1924) – schreibt er folgendes: »Der Deutsche ist politisch mobilisiert und aktiviert.Es besteht keine Gefahr, daß er sich in unfruchtbaren Grübeleien und entlegenen Spekulationen verliert…; und gerade darum ist heute wieder eine Philosophie möglich, am Platze und notwendig, die kühn und unbedenklich auf dem Felde der Weltpolitik Umschau hält.« In gewissem Widerspruch dazu heißt es im nächsten Satz, es sei »kein Zweifel, daß es zuerst die Deutschen des Weltkrieges waren, die die Bedeutung des slawischen Staatengründers erkannten und vielleicht besser übersahen als die Russen selbst (Ludendorff und Graf Brockdorff-Rantzau).« Politische Praktiker seien in Deutschland, »moderner und weitsichtiger als der Theoretiker, obgleich Deutschland als das Land der Theorie verschrien ist.« Weiter: Erst seit kurzem werde es »möglich, das politische ›Massiv‹ Lenin ähnlich unbefangen, frei von veralteten Parteiideologien, zu überschauen, wie es zuerst der Lehrer Mussolinis, der französische Philosoph Sorel, überschaut hat. Es ist möglich, daß in Zukunft die ›deutsche Wissenschaft der Politik‹ einen Lenin besser verstehen wird, als die parteioffiziöse Wissenschaft Rußlands ihn bislang versteht.« (19)
Unter dem Eindruck der verbreiteten Dostojewski-Verehrung sieht Fischer in Lenin den Protagonisten der »slawischen Geistestechnik«. »[E]in Lenin verfügt über denselben, düsteren wühlenden und radikalen Intellekt, über den ein Dostojewski verfügt. Die Tätigkeit dieses Intellekts ist von der Revolutionseschatologie des Ostens umwittert.« Mithin sei Lenin »ebenso politischer Eschatolog, wie Dostojewski religiöser Eschatolog gewesen ist.« Daraus folgt: »Der Intellekt des eschatologischen Politikers durchschneidet das Politische und verfolgt es ruhelos und rücksichtslos bis in elementare Voraussetzungen zurück, an deren Ort von einem ›Staat‹ in unserem Sinne nichts mehr zu erkennen ist.« (Ibid)
Fischer unterscheidet die deutsche von der slawischen und der romanischen Geistestechnik. »Das politische Organ des Deutschen ist die metaphysische Intuition.« (20) Das romanische Organ trete bei Mussolini, begabt mit dem »großen dunklen Auge des Vollblutitalieners« und visionärem Blick hervor (19f.). Als Vorbild für Deutschland – »Italia docet« hatte im November 1922 (nach Mussolinis ›Marsch auf Rom‹) der Dostojewski-Herausgeber Arthur Moeller van den Bruck verkündet – tauge Italien indes nicht, denn – im Blick auf den Dreißigjährigen Krieg sowie die deutsche Industriegeschichte im 19. Jahrhundert – verfüge Deutschland »über einen reicheren Fonds an geopolitischen und sozialen Elementargewalten als Italien.« Mit politischen »Elementargewalten umzugehen, das lernen wir eher von Rußland, weil hier seit mehreren Generationen alle politisch-sozialen Elementargewalten, die es heute auf der Erde gibt, überreich vorhanden und entfesselt sind.« (22) Daher sei von Lenin auch mehr zu lernen als von Mussolini.( 62-65)
Für Fischer ist Lenin »ebensowenig ein ›Kommunist‹, wie Richelieu ein ›Monarchist‹ gewesen ist« (21), sondern ein Techniker der Macht, den die Gründlichkeit des Slawen und dessen »wühlender Intellekt« befähige, »die düsteren sozialen Elementargewalten [zu erfassen].« Die »Gründlichkeit des Deutschen« manifestiere sich in der Synthese »seiner metaphysischen, seiner religiös bestimmten Intuition.« Das lichte, Hölderlinsche Element führe den Deutschen zum Nationalismus, das düstere Element, der »lutherische Anteil seines Wesens«, führe zum Sozialismus. (Ibid)
Anders als etwa Niekisch, der ähnliche Gedanken zu exzessiver, schwer verdaulicher Radikalität steigerte, kommt der Philosoph Fischer zu einer gemäßigten Version der ›deutschen Sendung‹: »Der Deutsche hat nicht die Absicht, den Nationalismus mit der romanisch-nihilistischen Folgerichtigkeit eines Clemenceau bis zur Vernichtung ›der anderen‹ Nationen durchzuführen und er hat ebensowenig die Absicht, den Sozialismus, zu dem ihn seine andere Teileigenschaft führt, mit der tatarischen Wut eines Lenin zu verwirklichen.« (22) Die radikale Absicht fehle dem Deutschen nicht aus fehlender – im Weltkrieg auf einzigartige Weise bewiesener – Opferbereitschaft, sondern »weil sie nur eine Komponente der wirklichen in der Tiefe liegenden Absicht ist.« (Ibid) Damit ist offenbar die in der ›Metaphysik‹ der Geschichte selbst angelegte Tendenz zum ›Reich‹ gemeint.
Im Nachwort betonen die Herausgeber Dietzsch/Lauermann das Europäertum des Philosophen Fischer. Anno 1930 hatte dieser seine Position in einer Festschrift für Thomas G. Masaryk, den Staatsgründer der Tschechoslowakei, wie folgt beschrieben: »Der Realist ist weder Chauvinist noch Paneuropäer, er ist schlichtweg Europäer.« (Zit. 301; s. auch Dietzsch). Aus dem von hohem nationalen Pathos getragenen Lenin-Buch lässt sich das ›Europäertum‹ nur mit Anstrengung herauslesen, und zwar dort, wo er – gemäß Lenins übernational, aber auch großrussisch inspiriertem Vorbild -– die bestehenden Nationen im künftigen ›Reich‹ integriert – hegelianisch aufgehoben – sieht. Dabei klingt – im Widerspruch zu seiner sonstigen Argumentation – an einer Stelle sogar eine relativierende Kritik an dem ›osteuropäisch-slawischen Staatengründer‹ durch: »Lenins politisches Denken ist einschichtig, es reicht bis an die Grenzen der politischen Modernität, der Totalität des Staates, aber nicht darüber hinaus.« (26) Lenins modernisierendes Konzept eines ›sozialistischen Staates‹ erscheint Fischer noch zu sehr verhaftet im ›Positivismus‹ des 19. Jahrhunderts. Hingegen: »Die Aufgabe der Deutschen, die ihnen durch ihre ganze Geschichte vorgezeichnet, zu der sie sich seit der Scholastik, seit Leibniz und Hegel die Begabung erworben haben, besteht darin, die Exponiertheit des fertigen modernen Staates zu durchschauen und dadurch zu überkompensieren, daß sie den Staat in der Form des Reiches wieder in die realste Realität der Metaphysik zurückzuversetzen.« (27)
Zur ›Metaphysik‹ des ›Reiches‹ gehört die Überwindung der »ahasverischen Wurzellosigkeit und Heimatlosigkeit des ›Dämons der Modernität‹ , verwurzelt in kapitalistischer Rechenhaftigkeit, Technik und Aufklärung (30) – anders ausgedrückt: der Entfremdung. Adnote: Abwegig ist die in der FAZ-Rezension angestellte Assoziation, in dem Adjektiv ›ahasverisch‹ eine antisemitische Note (»die einzige, wenngleich gespenstische antijüdische Bemerkung in dem Buch«) erkennen zu wollen (Plaggenborg). Evident ist die Nähe zu Ernst Jüngers Analyse der technischen Moderne in Der Arbeiter: »Aus dem in Branchen, Klassen, Ständen, Schichten gespaltenen Volk wird ein einziges Arbeitsvolk, eine einzige Betriebsgesellschaft. Das ist der moderne Mythos des Sozialismus.« (31).
IV.
Hugo Fischer proklamiert: »Das Endziel der Politik ist der Frieden.«(44) Er versteht darunter keinen bürgerlich bequemen Ruhezustand, sondern einen Frieden, wie er aus Phasen radikaler Friedlosigkeit, aus Kriegen, Bürgerkriegen und Zusammenbrüchen hervorgehe. Einen »tieferen Begriff vom Frieden« besaßen ein Alexander d. Gr., ein Cäsar (!), ein Augustinus (48). In diesem Sinne habe auch Lenin bei all seinem naturwüchsigen Realismus – in seinen letzten Äußerungen abgemildert durch »eine Wärme, die seinen früheren Schriften fehlt« (45) – der Frieden als Endziel vor Augen gestanden: »Lenins weltgeschichtliche Bedeutung wird darin bestehen, daß er, der mit dem Geist der Friedlosigkeit auf vertrautem Fuße stand, an die Frage der pax terrena wieder gerührt hat.« (48f.)
Was also macht Lenin zu einer epochalen, alle Zeitgenossen überragenden historischen Figur? In Fischers Augen »steht da auf einmal dieser Mann, der selbst es nie für nötig gefunden hat, darüber nachzudenken, wo er als moderner Mensch eigentlich seinen Halt hat? Er steht da, er geht auf die Dinge der Welt ein, er handelt, und damit gut. Er fragt niemals, wie es noch Napoleon tut, ob er eine Bestimmung hat, er ringt mit keinem Gott um seine Aufgabe, er legt sich auch nichts zurecht. In keinem wichtigen Augenblick seines politischen Handelns spielt jene materialistische Surrogatmetaphysik, der er als dilettierender Philosoph nahesteht, eine Rolle. Lenin ist zuweilen ›noch Geist‹, Materialist, Marxist, Heglianer (sic!), Atheist, und was es alles für schöne Dinge gibt, aber als politische Natur schiebt er diesen Geist beiseite. Seine Sprache ist nicht geistvoll, sondern naturnah. Aus seiner ganzen Natur läßt sich eine Philosophie machen, ein halber und gebrochener Geist ist für jede Philosophie verdorben.« (51) – Es steht dahin, ob Fischers kommunistische Zeitgenossen an diesem Charakterbild ihres Heros hätten Gefallen finden können – nicht anders als heutige versprengte ›Marxisten-Leninisten‹ oder späte Adepten Trotzkis.
Aus einer Anzahl von ins Deutsche übersetzten Schriften – außer von Lenin auch aus der Feder von Stalin, Molotow und Trotzki – zimmert sich Fischer sein Lenin-Bild zusammen. Für ihn ist Lenin ein Visionär, der Imperialismus und Weltkrieg als notwendige, historisch nutzbringende Wege der Revolution erkannt hat. Mit historischer Klarsicht fördert Lenin – vor Augen das Ziel eines um Russland gegliederten Weltreichs – die gegen den Imperialismus gerichteten nationalen Revolutionen. Lenin verwirklicht das durch die Revolution vorgezeichnete Ziel einer »höheren geschichtlichen Realität« (86-91), ohne durch Doktrinen gefesselt zu sein. Er überwindet das ›positivistische‹ 19. Jahrhundert, indem er die alte Epoche der ›liberalen Arbeiterpartei‹, will heißen der Sozialdemokratie, hinter sich lässt. Mit revolutionärer Entschlossenheit überwindet er den auf »Ökonomismus« basierenden »alten Sozialismus« – den von Nietzsche und Sorel verachteten »Kleinleutesozialismus« (122, Fn 45). Lenins »Haß auf die alte Epoche ist größer als seine Liebe zum Sozialismus« heißt es im Unterkapitel zum »Dritten Hauptstück« des Buches. (117-120)
Aus Krieg und Revolution, durch »Zerbrechung der alten Apparatur« (140f.), geht der »neue Typus Staat« hervor. Dessen Kennzeichen ist die ›Totalität‹ seiner Apparatur. Sie ist »mit allen komplexen des modernen Lebens verwachsen«. Sie umfasst – mit dem Parteiapparat im Zentrum – die Organisation des Staates in Gestalt der Sowjets, Wirtschaft, Armee, Massenorganisationen etc. Lenin, der »Machiavell des Ostens«, steht für den »neuen Typus Politik«. Den genialen Strategen und Taktiker zeichnen Kühnheit in der Wahl der Mittel aus, je nach Lage: Kompromiss statt Radikalismus, Vorstoß und Rückzug, Pakt. (Unzitiert bleibt das bekannte Diktum ›Zwei Schritte vor, einen zurück‹). Was die historischen Fakten anbelangt, lässt Fischer die mit ›Rapallo‹ assoziierte sowjetisch-deutsche Allianz unerwähnt. Als Beleg für undoktrinäres Handeln dient ihm Lenins Wirtschaftspolitik, die – unter fortwirkender Maßgabe der Planwirtschaft vollzogene – Abkehr vom »Kriegskommunismus« hin zur Neuen Ökonomischen Politik, »und überhaupt die ›Hebung‹ der Mittelschichten der Reichsbevölkerung.« (173)
Zu den politischen Fehlwahrnehmungen des politischen Philosophen Fischer gehört sein wohlwollender Blick auf Stalin: »Von der düsteren Ergriffenheit eines Lenin hat Stalin den Abstand des kaukasischen Abenteurers, der einmal Priesterschüler war – während Trotzki nur den Abstand des Intellektuellen hat«. (66). Stalin wird in der Rolle des mit Bedacht erwählten Fortsetzers des Leninschen Werkes gesehen: »Es kann Lenin als Politiker nicht hoch genug angerechnet werden, daß er die politischen Qualitäten dieses Menschen erkannte, der von ihm selbst grundverschieden an Charakter, Lebensauffassung, Temperament und Begabung ist.« (Ibid.) Hier sitzt der Philosoph der von Stalin nach Lenins Tod in die Welt gesetzten Legende auf. Mit Sympathie begleitet er Stalins Fünfjahresplan, dessen Gelingen – und damit Stalins »Triumph« – indes »noch in weiter Ferne liegt.« (68) – Zu widersprechen ist diesbezüglich der These der Herausgeber, Lenins politischer Realismus sei von der von Fischer behaupteten »politischen Metaphysik des Stalinismus« (98) zu trennen. (Nachwort, 310)
V.
Das ›Reich‹ ist das Abbild einer Friedensvision. Hinter der von Lenin als ›Staat‹ – frei von nationaler Kennzeichnung – errichteten Sowjetunion (UdSSR ab 1922) liege das Ziel eines friedvollen Reiches, am Ende ein Weltreich. Bei Lenin heißt das – mit geopolitischer Einschränkung bzw. Orientierung am Zarenreich – so: »Wir wollen einen möglichst großen Staat, einen möglichst engen Bund einer möglichst großen Zahl von Nationen, die den Großrussen benachbart leben… Wir wollen eine revolutionär-proletarische Einheit, Vereinfachung, nicht Zerstückelung…« (233)
Am Ende seines Buches – übertitelt »Ein letztes Wort über die ›politische Atlantis‹« nimmt Fischer den Faden über die ›deutsche Sendung‹ wieder auf. Das deutsche Volk, technisch besser ausgestattet als Russland, stehe vor der »ruhmvollen Existenz eines Jahrtausends, die sich gelohnt hat und lohnen wird.« (286) »Das deutsche Volk war im Mittelalter schon einmal ›bei sich zu Hause‹ […] Wir sind mehr ein Volk der Mitte als ein Volk des Extrems, wir müssen einen Weg finden, um auf die Reserven zurückgreifen zu können, über die wir als die Bevölkerung eines Reiches und als die Träger einer ehemaligen Hochkultur verfügen können. Diese Reserven verhelfen uns mindestens dazu, über den toten Punkt unserer Entwicklung im positivistischen Industriejahrhundert hinwegzukommen.« (287)
Selbst im Maschinenzeitalter kann so der Mensch als mitdenkender Arbeiter, als Beherrscher der von ihm geschaffenen Maschinen, wieder zu sich selbst kommen. Der Weg zum ›Reich‹ führt über den ›neuen Typus‹ von Staat: »Der totale Staat ist der Status der politischen Geborgenheit, aus der sich seine wirtschaftliche Geborgenheit erst ergibt. Dieser Staat ist weder reaktionär noch modern, er ist einfach der menschlich normale Staat.« (288f.)
***
Die Frage, ob das Werk eines Denkers, der unter dem Eindruck von Weltkrieg, Niederlage, Russischer Revolution und italienischem Faschismus, auf sehr ›deutsche‹, spekulative Weise die Idee eines planetarisch ausgreifenden ›Reiches‹ – als neue Seinsordnung und als deutsche Zukunftsaufgabe – entwickelte, noch irgendeine Aussage für die Gegenwart bereithält, scheint sich zu erübrigen. Hugo Fischer, aus der Emigration zurückgekehrt, hat selbst in einer Neufassung des Buches nicht nur die auf eine ›deutsche Sendung‹ zielenden Kapitel eliminiert (Weißmann). Nach den Erfahrungen mit der mörderischen Praxis unter Hitler und Stalin passten die radikalen, ins Totalitäre zielenden Passagen der eingestampften Erstversion nicht mehr in die geistige Landschaft. In einem seiner letzten Texte distanzierte er sich auch vom Typus des ›reinen Politikers‹, der nur eine »trieb- und terminbestimmte Quasiordnung« zu schaffen vermöge und dessen »Sache gewaltsamer, auf Rechtsbruch basierender ›Ordnung‹ in einer Katastrophe enden muß.« (zit. ibid.).
Das von Hugo Fischer und anderen als Erlösung von der im Weltbürgerkrieg aufgebrochenen Misere verheißene ›Reich‹ wurde von der Realität des Nationalsozialismus auf entsetzliche Weise widerlegt. Was die Gegenwart betrifft, so sind die welthistorischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts grundlegend verschieden von denen der Ära der ›Konservativen Revolution‹. Im Zeichen der von alten und neuen Machtrealitäten zwischen den bestehenden ›Reichen‹ – USA, Russland, China und der imperial unsicheren EU – sowie von der ›großen Wanderung‹ geprägten Gegenwart sind vor neunzig Jahren ersonnene, dem Charakter nach totalitäre Konzepte historischer Sinngebung untauglich.
Gleichwohl: Gegen den Strich gelesen, verweist das sperrige Werk des ›Magisters‹ Fischer auf die fortdauernden, im ›planetarischen Zeitalter‹ zugespitzten Aporien menschlicher Existenz. Hervortritt das politisch-philosophische Grundthema der transzendenzlosen Moderne: Es geht um das zwiefache Spannungsverhältnis des Menschen als Individuum zu seiner Existenz in einer global durchwirkten (›globalisierten‹), von Sinn und Ziel entleerten, durch Ökonomie und Technik (›Digitalisierung‹) beherrschten Lebenswelt einerseits, der Zumutung des Politischen in einer fremdbestimmten Wirklichkeit andererseits.
Mehr noch: In Anbetracht der politischen, wirtschaftlichen, sozialen – und ideell-ideologischen – Realität erweisen sich die Versprechen der liberalen Demokratie – eine Republik der ›Freien und Gleichen‹ – als fragwürdig. Auch im Begriff der ›Zivilgesellschaft‹ – sakrosanktes Nachfolgemodell der einst von Marx und anderen erträumten ›freien Assoziation‹ – besteht die seit Rousseau bekannte – und im ›Contrat social‹ überspielte – Grundfrage der Moderne nach dem Verhältnis von (entfremdetem) Subjekt und Gesellschaft fort. In der ›Postmoderne‹ – angesichts der ›großen Wanderung‹, übertönt von Proklamationen von Moral und ›Werten‹, im Wechselspiel von der im Zeichen des global warming angedrohten säkularen Apokalypse, von islamischem Fundamentalismus und der Heraufkunft neuer Weltmächte – findet sich der ›moderne‹ Mensch als Objekt des als ›sinnlos‹ wahrgenommenen Geschichtsprozesses wieder. Hypermoral, Emanzipationsphrasen und die Evokation der Schrecken der – deutschen – Vergangenheit verdecken die Fehlstelle von humanem Sinn. Auch im 21. Jahrhundert fehlen Antworten auf Fragen nach der ›geistigen Situation der Zeit‹.
Literatur:
TIANA BERGER: Ernst Jüngers Magister, in: Junge Freiheit Nr. 20 v. 12.05.2000, Eine Erinnerung zum 25. Todestag des Philosophen Hugo Fischer, http://www.jf-archiv.de/archiv00/200yy34.htm
STEFFEN DIETZSCH: Hugo Fischers unbekannte Lenin-Biographie (1933) und ihre Neuausgabe 2017, https://juenger-gesellschaft.com/?page_id=16536
ULRICH FRÖSCHLE: Wer wird der Herr der Erde sein? Hugo Fischers Lenin, in: Etappe 24 (2018/2019), 141-152
KARL JASPERS: Die geistige Situation der Zeit (Abdruck der 5. Aufl. 1932), Berlin-New York 1978
ERNST JÜNGER: Der Arbeiter: Herrschaft und Gestalt (3. Aufl. 1943), Stuttgart 1982
DERS.: Maxima – Minima. Adnoten zum »Arbeiter« (1964), Stuttgart 1981
MANFRED LAUERMANN: Mit Machiavelli durchs »Dritte Reich«, in: Etappe 24 (2018/2019),157-160
ARMIN MOHLER: Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932, 2 Bde., 3. Aufl. Darmstadt 1989
ERNST NIEKISCH: Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs. Bd. I: Gewagtes Leben 1889-1945, Köln 1974
STEFAN PLAGGENBORG: Eben der menschlich normale totale Staat, in: FAZ v. 08.03.2018 (aktualisiert), https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/hugo-fischers-buch-ueber-lenin-15462742.html
KARLHEINZ WEISSMANN: Den totalen Staat schaffen, in: Junge Freiheit Nr. 19 v.13.07.2018, S. 16
Quelle: Herbert Ammon