Ex-Bundespräsident Horst Köhler ist tot: Der Kämpfer für die Glaubwürdigkeit der Freiheit

grab friedhof rip tombstone d tod ruhe in frieden, Quelle: RobVanDerMeijden, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler ist tot. Er starb am frühen Samstagmorgen im Alter von 81 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit, wie das Bundespräsidialamt in Berlin mitteilte. Köhler war am 23. Mai 2004 zum Staatsoberhaupt gewählt und fünf Jahre später im Amt bestätigt worden. Am 31. Mai 2010 trat er überraschend zurück.

Wir erinnern an ihn mit seiner Berliner Rede von 2006 „Bildung für alle“ und seiner Rede von 2009 „Die Glaubwürdigkeit der Freiheit“

„I.
Im vergangenen Jahr erreichten in Deutschland 80.000 Jungen und Mädchen keinen Schulabschluss. Es fehlen Ausbildungsplätze – in diesem Herbst wahrscheinlich 30.000. Klingt Ihnen das zu abstrakt? Dann nehmen Sie das Beispiel dieser Schule, der Kepler-Oberschule in Berlin-Neukölln: Am 4. Juli haben hier 51 Schüler ihr Abschlusszeugnis bekommen. Nur einer von ihnen – ich wiederhole: EINER – hatte zu diesem Zeitpunkt eine Lehrstelle gefunden.

Weiter: In Deutschland erwerben vergleichsweise wenig junge Menschen die Hochschulreife, und zu wenige schließen ein Studium ab. Andere Nationen wandeln sich mit Begeisterung zu Wissensgesellschaften, in denen Lernen und Können als Auszeichnung gelten – Deutschland tut sich schwer damit.

Wir hören von Schulen, in denen Gleichgültigkeit, Disziplinlosigkeit, ja Gewalt den Alltag bestimmen. Auch dadurch verliert unser Land intellektuell und sozial jedes Jahr einen Teil seiner jungen Generation.

Und: Ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie hat im Vergleich zu dem Kind eines Akademikerpaares nur ein Viertel der Chancen, aufs Gymnasium zu kommen. Die Ursachen dafür mögen vielschichtig sein; der Befund ist beschämend. Bildungschancen sind Lebenschancen. Sie dürfen nicht von der Herkunft abhängen. Darum werde ich immer auf der Seite derer sein, die leidenschaftlich eintreten für eine Gesellschaft , die offen und durchlässig ist und dem Ziel gerecht wird: Bildung für alle.

II.
Auf dieses Ziel müssen wir hinarbeiten. Und es gibt ja viel Gutes, an das wir anknüpfen können. Engagierte Pädagogen machen immer noch das Beste auch aus schwierigen Bedingungen, und deutsche Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen bringen immer noch Spitzenleistungen hervor. Aber mit „immer noch“ dürfen wir uns nicht länger zufrieden geben. Gerade in Sachen Bildung müssen wir im Interesse aller viel ehrgeiziger sein. Konzentrieren wir uns also auf das Wesentliche. Konzentrieren wir uns auf Bildung.

Deutschland steht nicht zum ersten Mal vor einer solchen Herausforderung. Vor 200 Jahren half Wilhelm von Humboldt, sein Land – Preußen – aus Rückständigkeit und Unfreiheit zu führen. Er entwickelte ein neues Bildungsideal, er weckte Begeisterung dafür und er entwarf ein Bildungswesen auf der Höhe der Zeit. Das schuf zugleich die Grundlagen für den Aufstieg Deutschlands zu einer der führenden Wissenschaftsnationen. Klare Bildungsziele, ein Klima der Bildungsfreude und ein modernes Bildungswesen – diesen Dreiklang brauchen wir heute wieder.

III.
Gute Bildung stellt den ganzen Menschen in den Mittelpunkt. Diese Erkenntnis finden wir bei Humboldt und Kant, bei Goethe und Pestalozzi. Der Blick auf das Individuum – das muss auch heute unser Ausgangspunkt sein. Gute Bildung geht nicht in erster Linie von gesellschaftlichen Bedürfnissen oder den Anforderungen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes aus. Zuallererst hilft gute Bildung uns, das zu entwickeln, was in jedem einzelnen von uns steckt; was uns von Gott gegeben ist.

Dieser Weg steht allen offen – dem Hauptschüler genauso wie dem Abiturienten, dem Jugendlichen genauso wie dem Rentner. Jeder kann etwas, und jeder braucht die Chance, sich durch Bildung weiter zu entwickeln und mehr aus dem eigenen Leben zu machen. Bildung bedeutet nicht nur Wissen und Qualifikation, sondern auch Orientierung und Urteilskraft. Bildung gibt uns einen inneren Kompass. Sie befähigt uns, zwischen Wichtig und Unwichtig und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

Bildung hilft, die Welt und sich selbst darin kennen zu lernen. Aus dem Wissen um das Eigene kann der Respekt für das Andere, das Fremde wachsen. Und sich im Nächsten selbst erkennen, heißt auch: fähig sein zu Empathie und Solidarität. Bildung ohne Herzensbildung ist keine Bildung.

Erst wenn Wissen und Wertebewusstsein zusammenkommen, erst dann ist der Mensch fähig, verantwortungsbewusst zu handeln. Und das ist vielleicht das höchste Ziel von Bildung.

Gute Bildung ist und bleibt für den Einzelnen auch die wichtigste Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung und berufliches Fortkommen. Zwar bietet selbst Bildung keinen absoluten Schutz vor den Risiken am Arbeitsmarkt. Aber die Berufs- und Beschäftigungschancen eines Menschen steigen, je besser er gebildet und ausgebildet ist. Gute Bildung ist deshalb eine besonders wirksame Form der sozialen Absicherung.

Übrigens ist auch Demokratie auf Bildung angewiesen. Unsere freiheitliche Gesellschaft lebt davon, dass mündige Bürgerinnen und Bürger Verantwortung für sich und für das Gemeinwohl übernehmen. Eine Diktatur kann sich ungebildete Menschen leisten – nein: sie wünscht sich die sogar. Eine Demokratie dagegen braucht wache und interessierte Bürger, die Ideen entwickeln und Fragen stellen. Wo die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, da kann es nicht gleichgültig sein, in welcher geistigen Verfassung sich das Volk befindet. Und: Wer Populisten, Extremisten und religiösen Fanatikern widerstehen soll, braucht dafür Bildung.

Auch darum ist das Bildungswesen Sache des ganzen Volkes. In den Familien, im Kindergarten, in der Schule, der Lehrwerkstatt und der Universität entscheidet sich, in welcher Gesellschaft wir künftig zusammenleben: Wir wünschen uns doch eine offene und tolerante Gesellschaft. Wir wollen doch unter Mitbürgern leben, die gerechtigkeitsliebend, wissbegierig und kreativ sind, die Ideen haben und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Es liegt zu einem großen Teil an uns selbst, ob sich dieser Wunsch erfüllt.

IV.
Unsere Fähigkeiten und unser Wissen, unser Einfallsreichtum und unsere Kreativität sind die wichtigste Ressource, die wir in Deutschland haben. Der globale Wettbewerb ist längst ein Wettbewerb der Bildungssysteme. Und da zählt eben auch, wie lange eine Ausbildung dauert und wie alt zum Beispiel ein Akademiker ist, wenn er seine erste Stelle antritt. In der Welt von heute ist es nicht gleichgültig, ob junge Menschen in ihrer Heimat gute Lern- und Arbeitsbedingungen finden – oder ob sie die lieber im Ausland suchen. In der Welt von heute ist es nicht gleichgültig, ob ein Land seinen Bedarf an Facharbeitern, Ingenieuren und Naturwissenschaftlern selbst heranbilden kann – oder ob es in diesen Schlüsseldisziplinen auf Zuwanderung von außen hoffen muss.

Und es ist nicht gleichgültig, ob Menschen in einem Land auch nach der Berufsausbildung systematisch weiterlernen oder eher nicht. Mit der Entwicklung in Wissenschaft und Technik hat sich unser Wissen rasant vermehrt. Gleichzeitig verlieren Kenntnisse und Fähigkeiten, die gestern noch richtig und wichtig waren, immer schneller an Bedeutung. Umso wichtiger ist es, das Lernen selbst zu lernen, damit man sein Wissen immer wieder auffrischen und erneuern kann. Lernen ist mehr denn je eine Lebensaufgabe.

Ich weiß, das sagen viele. Aber viel zu wenige handeln auch danach. In Deutschland nehmen nur etwa 12 Prozent der Menschen im Erwerbsalter an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen teil. In den meisten vergleichbaren Staaten liegt dieser Anteil deutlich höher. Haben Politik und Wirtschaft sich dem Thema Weiterbildung wirklich schon gründlich genug gewidmet? Und hat wirklich schon jede und jeder von uns begriffen, wie groß die Herausforderung „Lebenslanges Lernen“ ist?

V.
In Deutschland leben über 15 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln. Die Hälfte davon hat einen deutschen Pass. Heute hat jedes vierte Neugeborene in Deutschland mindestens einen ausländischen Elternteil; in wenigen Jahren werden etwa 40 Prozent der Menschen in Deutschlands Großstädten eine Migrationsgeschichte haben. Jeder von ihnen prägt unser Land mit. Auch das macht Deutschland aus. Also geht es schlicht um die Frage, wie wir unsere gemeinsame Zukunft gestalten.

Und da geht es eben uns alle an, dass fast jeder fünfte ausländische Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlässt, dass vier von zehn jungen Menschen mit Migrationshintergrund keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und dass die Chance, eine qualifizierte Ausbildung zu bekommen, für ausländische Jugendliche nur halb so hoch ist wie für deutsche. Die Folgen sind bekannt: Die Arbeitslosenquote der Ausländer in Deutschland ist doppelt so hoch wie die der Einheimischen. Das sind keine guten Voraussetzungen für den Zusammenhalt und den wirtschaftlichen Erfolg unserer Gesellschaft.

Integration fordert beide Seiten. Unsere Gesellschaft muss Zuwanderern gute Bildungschancen bieten, und die Zuwanderer müssen sich im Klaren darüber sein, was auf ihrer Seite den Bildungserfolg fördert. Zum Beispiel zeigen Untersuchungen, dass eine gute Leseleistung von Schülern, deren Eltern zugewandert sind, sehr davon abhängt, dass in ihren Familien Deutsch gesprochen wird. Und von den Deutschkenntnissen und der Lesekompetenz der Kinder hängt dann wiederum entscheidend ab, wie gut sie in der Schule insgesamt mitkommen. Das heißt doch: Eltern hier in Deutschland, die ihren Kindern im Leben Erfolg wünschen, sprechen mit ihnen Deutsch – nicht unbedingt nur Deutsch allein, aber jedenfalls auch Deutsch. Und Eltern, die selber noch nicht Deutsch können, die lernen es – aus eigenem Interesse und um ihrer Kinder willen. Angebote dafür gibt es. Und wo sie noch fehlen, da müssen sie geschaffen werden. Aber an dieser gemeinsamen Anstrengung führt kein Weg vorbei.

VI.
Was brauchen wir, um in unserem Land mehr und bessere Bildung zu erreichen?

Erstens: Bildung braucht Anerkennung! Wer jungen Menschen Bildung vermittelt, hat Achtung und Unterstützung verdient. Und wer mit Freude lernt und sich mit Eifer neues Wissen aneignet, hat Anspruch auf Wertschätzung und Respekt. Anerkennung: Das ist immer noch der stärkste Motivationsfaktor.

Bildung braucht zweitens Anstrengung! Um etwas zu lernen – ob nun eine Mathematikformel oder ein Musikinstrument, ob Judo oder Vokabeln – braucht man Zielstrebigkeit, Übung und Ausdauer. Das macht nicht immer Spaß, aber die Mühe wird meist belohnt – mit der Freude am Erfolg. Diesen Zusammenhang kennt jeder von uns; aber beim Thema Bildung ist er zunehmend vernachlässigt worden – auch darum verlieren viele in Schule und Ausbildung zu schnell den Mut und geben auf. Es muss wieder deutlicher werden: Ja, Bildung braucht Anstrengung und Beharrlichkeit, aber nochmals ja, diese Mühen tragen auch ihren Lohn in sich.

Bildung braucht mehr Anstrengung – auch von Seiten des Bildungswesens. Wir wissen: Nicht alles ist messbar. Aber PISA hat uns genügend Anhaltspunkte dafür gegeben, dass unser Bildungssystem sich nicht auf der Höhe der Zeit befindet. Die Verantwortlichen in den Ländern und im Bund, vor allem die Ministerpräsidenten und die Kultus- und Bildungsminister, haben den Menschen in Deutschland versprochen, die Defizite abzubauen. Diese Botschaft höre ich gerne. Und ich habe den Eindruck: Die Deutschen werden die Vergleichsstudien und Ranglisten sehr genau verfolgen. Denn dort lässt sich durchaus ablesen, wie es um die Anstrengungen der Verantwortlichen steht. Für mich ist es ein zentraler Prüfstein für die Zukunftsfähigkeit unserer bundesstaatlichen Ordnung, ob ihr die Verbesserung unseres Bildungswesens gelingt.

Und schließlich drittens: Bildung braucht Vorbilder! Bildung lebt davon, dass Menschen sich am guten Beispiel anderer orientieren, dass sie sich begeistern und mitnehmen lassen. Jeder kann ein Vorbild sein: Eltern, Nachbarn, Trainer, Lehrer, Klassenkameraden.

Und wenn gar ein weltberühmter Dirigent wie Sir Simon Rattle mit jungen Leuten musiziert (und die Kepler-Oberschule war dabei); wenn ein erfolgreicher Sportler wie Luan Krasniqi als „Bildungsboxer“ dazu aufruft, beim Lernen niemals stehen zu bleiben; wenn Wissenschaftler, Schriftsteller oder Politiker sich zu Kindern setzen, mit ihnen diskutieren, ihnen aus ihrer eigenen Schulzeit und von ihrem Bildungsweg erzählen, dann lässt sich die Begeisterung der Kinder und Jugendlichen fast mit Händen greifen.

VII.
Bildung beginnt in der Familie. Dort stellen Kinder die ersten Fragen, und sie wollen dabei ernst genommen sein. Fast alle Eltern wünschen sich ja: „Unsere Kinder sollen ihren Weg machen.“ Nun, es gibt keine bessere Mitgift auf diesem Weg als gute Bildung und Erziehung – und zwar nicht nur für den beruflichen Erfolg, sondern auch, um schwierige Zeiten durchzustehen und Durststrecken zu überwinden. Denn die erleben alle irgendwann einmal, jeder einzelne und auch ganze Nationen. Persönliche Rückschläge, verpasste Chancen oder auch bloß ein Weniger an gesellschaftlichem Wohlstand – alles Tests dafür, woran unser Herz hängt, worauf unser Selbstwertgefühl beruht, worüber wir aus der Fassung geraten. Manche verlieren dann schnell den Halt. Bildung ist auch da ein Anker.

Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern alles tun, um ihren Kindern das richtige Rüstzeug für ein erfülltes Leben mitzugeben. Zu diesem Rüstzeug gehören auch die elementaren Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs: Respekt, Rücksichtnahme, Manieren, das Wissen um Rechte und Pflichten. Wir sollten der Neugier der Kinder Raum geben; Kinder sollten aber auch Grenzen kennen lernen. Auch das Wort „“Nein“ gehört zur Erziehung. Dafür braucht es kein Lehrbuch. Dafür braucht es das Vorbild, die Zuwendung und die Konsequenz der Eltern. Eltern müssen sich Zeit für ihre Kinder nehmen: Spiel und Gespräch, Vorlesen und Erzählen, gemeinsame Mahlzeiten am Familientisch – das fördert die Entwicklung der Kinder. Ein Fernseher im Kinderzimmer tut es nicht.

Ich weiß, dass Eltern eine große Verantwortung tragen: In einer Umwelt, die manchmal den Anschein erweckt, als sei alles möglich und alles erlaubt, sollen sie ihren Kindern Werte und Orientierung vermitteln und ihnen eine gute Entwicklung ermöglichen. Manche Eltern scheitern an dieser Aufgabe. Manche nehmen ihre Verantwortung auch nicht ernst genug. Die Leidtragenden sind immer die Kinder. Diesen Familien müssen wir helfen. Wir müssen uns fragen: Ist die Aufmerksamkeit in Jugendhilfe, Kindergärten, Schulen und Ämtern groß genug, damit kein Kind vernachlässigt wird oder gar verwahrlost? Und erreichen die vielen Angebote, die es in der Erziehungsberatung gibt, wirklich diejenigen, die sie am nötigsten brauchen? Wir haben allen Anlass, ein starkes Netz zu knüpfen, das Kinder und Eltern in schwierigen Zeiten trägt.

VIII.
Die ersten Jahre sind entscheidend: Vieles lernt ein kleines Kind leichter als ein Jugendlicher oder ein Erwachsener; und viele Lernfähigkeiten bilden sich im Lauf der Zeit wieder zurück. „Lernen“ – so der Philosoph Peter Sloterdijk – „ist die Vorfreude auf sich selbst.“ Wer einmal mit kleinen Zuschauern die „Sendung mit der Maus“ gesehen hat, wer einmal Kinder beim Theaterspiel beobachtet hat, wer ihren spielerischen Schaffensdrang miterlebt hat, wird diesen Satz bestätigen. Und es ist gut, dass wir jetzt auch die frühen Jahre der Kindheit als „Lernzeit“ entdecken – als eine Zeit, in der kleine Menschen spielerisch herangeführt werden können an Phänomene der Natur, an logische Zusammenhänge, an musisches Erleben, an die Bedeutung von Sprache.

Wer früh erfährt, wie spannend es ist, immer wieder Neues zu lernen, dem wird es leichter fallen, offen und neugierig zu bleiben – ein Leben lang. Darum brauchen wir gute Bildungsangebote schon in der frühen Kindheit und ein enges Zusammenwirken von Kindertagesstätten und Schulen. Bessere frühkindliche Bildung ist im Übrigen auch ein Gebot der Chancengerechtigkeit: Gerade benachteiligte Kinder profitieren davon, wenn sie möglichst frühzeitig in den Kindertagesstätten gefördert werden – vor allem beim Umgang mit der deutschen Sprache. Deshalb: Ich bin für ein verpflichtendes und möglichst kostenfreies letztes Kindergartenjahr. Und ich bin für verpflichtende Sprachprüfungen vor dem Schuleintritt. Gute Deutschkenntnisse sind nun einmal unersetzlich für den Schul- und damit für den Bildungserfolg.

IX.
Die Schule soll jungen Menschen eine solide Grundausstattung an Fähigkeiten und Kenntnissen mitgeben. Das beginnt mit Lesen, Schreiben und Rechnen – die drei sind der Grundstock. Und darüber hinaus? Um diese Frage wird von jeher heftig gerungen. Alle Schulzeit ist knapp – sollen also im Deutschunterricht Gedichte auswendig gelernt oder lieber Bundestagsreden analysiert werden? Soll es mehr Unterricht in Fremdsprachen geben oder in den Naturwissenschaften?

Ich bilde mir nicht ein, da Experte zu sein. Aber zwei Feststellungen sind mir wichtig. Erstens: Die Schule soll jungen Menschen doch das vermitteln, was nötig ist, um sich in der Welt zurechtzufinden, um selbständig weiterzulernen und um Neues beurteilen zu können. Dafür aber sind Maßstab und Richtschnur nötig. Das griechische Wort für „Richtschnur“ heißt: Kanon. Gerade im Bildungswesen brauchen wir eine klare Vorstellung vom Maßgebenden und Maßgeblichen. Der Inhalt des Bildungskanons wird immer im Wandel bleiben, denn immer kommt Neues hinzu, und Altes veraltet. Aber was wirklich Maß gibt, das hat lange Bestand.

Zweitens: Bei der Konkurrenz um die knappe Schul- und Lernzeit dürfen Fächer wie Musik, Kunst und Sport nicht ins Hintertreffen geraten. Denn Musik, Kunst und Sport bringen Vernunft und Gefühl zusammen, und das ist wichtig für die Persönlichkeit und gut für Intuition und Kreativität.

Und noch ein Schulfach liegt mir am Herzen: der Religionsunterricht. Er bietet jungen Menschen Antworten auf ihre Sinnfragen. Jedem steht es frei, ob er diese Angebote annehmen möchte oder nicht. Ich finde es wichtig, dass auch in der Schule die Frage nach Gott gestellt wird. Deshalb halte ich den Religionsunterricht für unverzichtbar.

Gerade weil wir in einer pluralen Gesellschaft leben, sollen die Religionen ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen müssen, sondern im Unterricht Zeugnis von dem geben können, woran sie glauben und worauf sie hoffen. Das gilt natürlich auch für den Islam. Ich halte es für überfällig, dass in unseren Schulen den Kindern muslimischen Glaubens von gut ausgebildeten Lehrern und in deutscher Sprache Islamunterricht angeboten wird.

X.
Wissen und Erfahrung zusammen machen erfolgreiches Lernen aus. Und da ist es ein Unterschied, ob der Lehrer im Unterricht nur mit einem Schaubild erklärt, wie eine parlamentarische Demokratie funktioniert, oder ob die Klasse selbst eine Parlamentsdebatte durchspielt. Es ist ein Unterschied, ob Schüler die Natur nur aus dem Biologiebuch kennen oder ob sie die Tier- und Pflanzenwelt auch einmal unter freiem Himmel studieren.

Gutes Lernen findet nicht allein im Klassenzimmer und nicht nur während der Unterrichtszeit statt. Und gute Schule gibt den Kindern möglichst viel Gelegenheit zu Erfolgserlebnissen. Gute Schule will eigenständiges Denken und fördert selbständiges Arbeiten. Es geht dabei immer um die richtige Balance zwischen Selbsterprobung und Anleitung. Wir sollten die alten Debatten hinter uns lassen, in denen Disziplin mit Drill, Leistungsorientierung mit Überforderung, Benotung mit persönlicher Demütigung gleichgesetzt wurden.

Keine Frage: Junge Menschen „bei der Stange zu halten“, sie für den Unterricht zu begeistern und Lernfortschritte mit ihnen zu erzielen – das ist oft alles andere als einfach. Ich halte diese Rede mit Bedacht in einer Hauptschule. Wir alle wissen: In den Hauptschulen bündeln sich viele Schwierigkeiten. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass manche es sich zu leicht machen, indem sie Schüler einfach sitzenbleiben lassen oder von einer Schule zur anderen weiterreichen.

Dennoch: Auch an Hauptschulen wird viel erreicht. Und es gibt einen wichtigen eigenen Bildungsauftrag für praktisches und berufsbezogenes Lernen. Dass die Hauptschulen diesen Auftrag selbstbewusst erfüllen können, zeigt seit nun schon fast zehn Jahren der „Hauptschulpreis“. Im vergangenen Jahr habe ich damit die Augsburger Friedrich-Ebert-Volksschule ausgezeichnet. Schüler, Lehrer und Eltern haben dort gemeinsam das Schulgebäude renoviert, den Schulhof gestaltet, ein Café, ja sogar ein Kino eingerichtet und so die Schule zu einem Ort gemacht, an dem sie nicht nur lernen, sondern auch gerne leben.

Oder nehmen Sie KEPS – die von Schülern geführte Catering-Firma hier an der Kepler-Oberschule. Diese Schülerfirma ermöglicht es ihren jugendlichen Mitarbeitern, Erfahrungen im Wirtschaftsleben zu machen. Und was die jungen Leute leisten, wie begeistert sie bei der Sache sind – davon können Sie, meine Damen und Herren, sich gleich anschließend beim Empfang überzeugen. KEPS ist ein gutes Beispiel dafür, dass Betriebe bei jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen, auch auf solche Erfahrungen und Erfolge achten sollten.

XI.
Schulen müssen die Lebensbedingungen ihrer Schüler in den Blick nehmen können – und die sind von Stadtteil zu Stadtteil, von Region zu Region unterschiedlich.

Darum brauchen die Schulen nicht nur Lehrpläne, Stellen- und Budgetpläne, sondern sie benötigen innerhalb dieser Pläne auch Freiheit für eigene Gestaltungsideen. Sie sollen inhaltlich ihr eigenes Profil entwickeln können, sie sollen mitentscheiden, welches Personal zu ihrem Profil passt, und sie sollen Mittel nach eigenem Ermessen einsetzen können – für den Schulgarten zum Beispiel, für ein Aquarium oder für neue Computer. Für all das brauchen Schulen aber auch Ruhe. Ihre Kraft darf nicht durch ständig neue bildungspolitische Vorgaben ermüdet werden. Richtig ist: Jede Schule muss sich an allgemein verbindlichen Lern- und Bildungszielen orientieren und nachweisbar ein bestimmtes Leistungsniveau sichern – schon damit Schulwechsel nicht noch schwerer werden. Aber genau so wichtig ist es, Vertrauen in den Gestaltungswillen der Schulen zu haben und auf ihre Bereitschaft zu setzen, selbst etwas verbessern zu wollen.

XII.
Getragen wird die Arbeit in den Schulen von Menschen – vor allem von Lehrerinnen und Lehrern und den Schulleitern und Schulleiterinnen an der Spitze. Sie haben eine große Verantwortung – für die ihnen anvertrauten Jugendlichen und für unsere Gesellschaft insgesamt. Lehrer zu sein, das ist weit mehr als ein Job. Der Lehrerberuf verlangt solides Fachwissen – er verlangt aber auch Liebe zu Kindern und die Überzeugung, dass in jedem einzelnen Schüler etwas Besonderes steckt.

Lehrerinnen und Lehrer arbeiten oft unter schwierigen Voraussetzungen. In manchen Schulen ist es für sie nahezu unmöglich, ihre Aufgabe zu erfüllen, weil in den Elternhäusern und im sozialen Umfeld der Schüler schon so viel versäumt wurde. Engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die nicht aufgeben, die darauf brennen, jungen Menschen etwas beizubringen – das sind für mich Helden des Alltags. Wir alle kennen Lehrer, die ihre Schüler im Unterricht begeistern können. Wir alle kennen Pädagogen, für die der Einsatz für ihre Schüler nicht nach dem letzten Klingelzeichen endet. Wir wissen, wie viele Schulleiter sich bemühen, ihre Schule nach vorn zu bringen. Ihnen allen danke ich ganz, ganz herzlich!

Wir brauchen Lehrer, die nicht nur das Talent, sondern auch das Handwerkszeug haben, um Kinder auf die Welt vorzubereiten. Ich finde es richtig, dass der Praxisbezug bei der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern stärker betont wird. Ein Beispiel dazu: Lehramtsstudenten aus Köln erteilen im Rahmen ihrer Ausbildung Kindern aus Zuwandererfamilien Zusatzunterricht in Deutsch. Dabei lernen beide Seiten etwas: die Kinder die deutsche Sprache und die künftigen Lehrer, Schüler mit einem anderen kulturellen Hintergrund zu fördern.

Wir brauchen gute Lehrer – und wir brauchen auch genug Lehrer: genug Lehrer, um den Unterrichtsausfall zu minimieren; genug Lehrer für vernünftige Klassengrößen; genug Lehrer für alle vorgesehenen Schulfächer. Wir müssen endlich ernst machen mit der individuellen Förderung von Schülern. Und dafür brauchen Lehrer mehr Unterstützung von Spezialisten – zum Beispiel von Logopäden, Schulpsychologen und Sozialarbeitern.

Mehr Teamwork macht es auch leichter, Kinder mit Behinderungen gemeinsam mit ihren nicht-behinderten Altersgenossen zu unterrichten. Gleiches gilt für die Kindertagesstätten. Bei den Kindern mit Behinderung stärkt das Zusammensein in der Gruppe oder dem Klassenverband das Gefühl: „Wir gehören dazu.“ Und die anderen lernen auf diese Weise schon sehr früh, dass es normal ist, verschieden zu sein. Ich wünsche mir, möglichst viele Kinder könnten diese Erfahrung machen.

XIII.
Ebenso wenig wie Lehrer Einzelkämpfer am Pult sein sollten, dürfen Schulen isoliert sein. Verantwortung für die Schule tragen nicht nur der Staat und die Lehrer, sondern alle Bürgerinnen und Bürger. Schon jetzt geschieht auf diesem Feld sehr viel: Eltern engagieren sich in der Hausaufgabenbetreuung. Schul-Fördervereine erschließen zusätzliche finanzielle Ressourcen. Sportvereine stimmen ihre Trainingsangebote mit den Schulen ab. Örtliche Unternehmen sponsern nicht nur gelegentlich ein Schulfest, sondern bieten auch Praktikums- und Ausbildungsplätze. Initiativen wie diese müssen wir stärken und unterstützen. Unsere Schulen brauchen Partner.

Vor zwei Wochen habe ich die Goethe-Grundschule in Mainz besucht – übrigens eine Ganztagsschule. Dort gibt es an den Nachmittagen viele Spiel-, Sport- und Lernangebote. Und es gibt Leseclubs, die von ehrenamtlichen Lesepaten betreut werden. Sie helfen mit, die Kinder zum Buch zu bringen – und das ist nicht nur wegen der schlechten PISA-Ergebnisse im Lesen ein ganz wichtiges Ziel.

Viele so gute Beispiele zeigen: Bürgerschaftliches Engagement kann den Schulen wirksam helfen, mehr für die Kinder zu erreichen. Es darf aber keine Missverständnisse geben: Bildung ist vor allem das Geschäft der Schule, und die Hauptverantwortung für den Unterricht tragen die Profis.

Die Bildungsangebote in der Schule sind das eine. Es geht aber auch darum, die Bildungsmöglichkeiten außerhalb der Schulen besser zu nutzen. Mir gefällt die Idee, dass jede Schule dafür Lotsen haben sollte: Lehrer oder ehrenamtliche Helfer, die den Weg weisen zu Stadtbüchereien, Sportvereinen, zu den Pfadfindern oder auch zur Freiwilligen Feuerwehr. Und gemeinnütziges Engagement sollte ruhig im Schulzeugnis dokumentiert werden. In einigen Bundesländern geschieht das bereits. Kinder und Jugendliche haben Freude daran, zu helfen, Pflichten und Verantwortung zu übernehmen – und das sollte Anerkennung finden.

Zurzeit reichen die Angebote für gemeinnütziges Engagement nicht aus. Programme wie das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr können bei weitem nicht so viele Jugendliche aufnehmen, wie sich bewerben. Diese Programme sollen aufgestockt werden. – Gut so. Aber nicht halbherzig bitte!

XIV.
Und es lohnt sich vielleicht auch, über das Bestehende hinaus zu denken. Namhafte Pädagogen sagen mir, nichts könne die prägende Erfahrung eines solchen Dienstes an der Gemeinschaft und für das Gemeinwohl ersetzen. Hartmut von Hentig hat ein entsprechendes „Pflichtjahr“ für junge Leute vorgeschlagen und spricht von der „nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein“. Er nennt selber die Gegenargumente, und sie wiegen schwer. Aber wiegt nicht auch die Frage schwer, möglicherweise schwerer, wie wir bei jungen Menschen Pflichtbewusstsein stärken, indem wir ihnen mehr Gelegenheit geben, sich verantwortlich und gebraucht zu fühlen?

Erfahrene Jugendarbeiter wissen: Viele junge Leute warten nur darauf, sich durch Verantwortungsbewusstsein zu beweisen und zu bewähren. Und kluge Kommunalpolitiker berichten mir: Zu tun gibt es allemal genug für junge Leute, die anpacken wollen, wenn die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Ich finde: Alle, die das so sehen und die so denken, gehören an einen Tisch, um jungen Leuten so schnell wie möglich mehr Chancen zum Engagement zu bieten – und ich bin auf ihrer Seite.

XV.
Wenn es um Bildung geht, muss auch über Geld gesprochen werden. Das war übrigens schon zu Humboldts Zeiten so. Seine Heimat, Preußen, war damals von Napoleon besiegt, war halbiert und finanziell ausgeblutet. Aber Preußen und später ganz Deutschland wurde ein „Schulstaat“ – gegen alle Widerstände von Eltern, die glaubten, das Leben sei ihren Kindern Lehrmeister genug; gegen den Widerstand der Städte und Gemeinden, denen ganzjährige statt der bisherigen „Winterschulen“ zu teuer waren; gegen den Widerstand von Unternehmern, die von Kinderarbeit profitierten. Hier in Berlin waren die Volksschulen 1840 noch vierklassig und kosteten Schulgeld, 15 Jahre später waren sie achtklassig und schulgeldfrei. Das Gymnasium wurde aus dem Muff der alten Lateinschulen neu erschaffen, und Preußen gründete die Berliner Universität, die heute Humboldts Namen trägt.

Und was ist uns heute Bildung wert?Nur jeder zehnte Euro, den die öffentliche Hand in Deutschland ausgibt, fließt ins Bildungssystem. Bei den Ausgaben für die allgemeinbildenden Schulen liegen wir deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Länder, und der Abstand hat über die letzten Jahre zugenommen.

Warnen möchte ich in diesem Zusammenhang vor dem Trugschluss, wir könnten das Problem durch eine bloße Umverteilung innerhalb der Bildungsausgaben lösen. So richtig es ist, dass wir mehr Geld für frühkindliche Bildung und Erziehung ausgeben müssen, so falsch wäre es, dafür beispielsweise die Hochschulausgaben zu kürzen. Wir brauchen angemessene Finanzmittel für alle Bereiche des Bildungswesens, denn unsere Bildungsausgaben sind insgesamt zu niedrig.Für genauso kurzsichtig halte ich die Vorstellung, man könnte sinkende Schülerzahlen zum Anlass nehmen, um die Ausgaben für Schule und Bildungswesen zu kürzen. Der demographische Wandel muss für die Schule, für das Bildungswesen, als zusätzliche Chance genutzt werden. Sinkende Schülerzahlen eröffnen finanzielle Spielräume und neue Gestaltungsmöglichkeiten. Machen wir was daraus!

Ich weiß um die schwierige Kassenlage der Länder, und ich kenne die Nöte der Haushaltspolitiker. Aber ohne ausreichende und effektive Bildungsausgaben wird der Weg zu gesunden Staatsfinanzen noch schwieriger. Deshalb müssen wir den Mut und die politische Kraft haben, anderes zugunsten der Bildung zurückzustellen. Bildung ist die wichtigste Investition, die unsere Gesellschaft und jeder Einzelne tätigen kann. Wer an der Bildung spart, spart an der falschen Stelle. „Es gibt nur eine Sache auf der Welt, die teurer ist als Bildung – keine Bildung.“ (John F. Kennedy)

XVI.
Ich bin in unserem Land vielen Menschen begegnet, die lernen und etwas aus sich machen wollen. Ich habe mit Schülern und Lehrern, mit Studenten und Professoren, mit Azubis und Handwerksmeistern gesprochen, die eine genaue Vorstellung davon haben, was sie sich von Bildung erhoffen, was sie persönlich dafür leisten wollen und wo es in unserem Bildungswesen noch hakt. Alle diese Menschen haben Anspruch darauf, dass unser Land die besten Voraussetzungen für Bildung schafft.

Dafür kommt es auf uns alle an, auf unsere Einstellung, auf unsere Anstrengung, auf unser Vorbild. Bildung für alle – das gelingt am besten, wenn sich alle dafür einsetzen, wenn wir alle uns bewegen. Was hindert uns? Auf geht’s!“

Quelle: Bundespräsident.de

„Berliner Rede“ von Bundespräsident Horst Köhler

am 24. März 2009 in Berlin:

„Die Glaubwürdigkeit der Freiheit“

Ich will Ihnen eine Geschichte meines Scheiterns berichten.

Es war in Prag, im September 2000. Ich war neu im Amt als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds. Mein Ziel war es, den IWF zum Exzellenzzentrum für die Stabilität des internationalen Finanzsystems zu machen.

Die Entwicklung auf den Finanzmärkten bereitete mir Sorgen. Ich konnte die gigantischen Finanzierungsvolumen und überkomplexen Finanzprodukte nicht mehr einordnen. Ich begann, kapitalmarktpolitische Expertise im IWF aufzubauen. Das sahen nicht alle gern. Und ich wunderte mich, dass sich die G7-Staaten nur zögerlich einer Überprüfung ihrer Finanzsektoren unterziehen wollten; solche Überprüfungen waren von den Mitgliedstaaten des Internationalen Währungsfonds 1999 als Lehre aus der Asienkrise beschlossen worden.

Viele, die sich auskannten, warnten vor dem wachsenden Risiko einer Systemkrise. Doch in den Hauptstädten der Industriestaaten wurden die Warnungen nicht aufgegriffen: Es fehlte der Wille, das Primat der Politik über die Finanzmärkte durchzusetzen.

Jetzt sind die großen Räder gebrochen, und wir erleben eine Krise, deren Ausgang das 21. Jahrhundert prägen kann. Ich meine: zum Guten, wenn wir aus Schaden klug werden.

Noch aber entfaltet die Rezession sich weiter. Jeder Kontinent ist erfasst. Die Finanzkrise hat blitzschnell durchgeschlagen auf die reale Wirtschaft. Gestern war Deutschland noch Exportweltmeister. Ein stolzer Titel fällt uns heute vor die Füße. Aufträge brechen weg, mit nie dagewesener Geschwindigkeit.

Es ist ein gutes Zeichen, dass die meisten Unternehmen in Deutschland versuchen, Entlassungen zu vermeiden. Sie wissen, dass sie ihre hoch motivierten und gut qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dringend brauchen, wenn sie die Krise überwinden wollen. Wir müssen aber auch ehrlich sein: Viele Unternehmen werden ihr Überleben und damit zugleich Arbeitsplätze nur sichern können, wenn sie sich auch von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trennen. Wir müssen uns darauf einstellen: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland wird sich wieder deutlich erhöhen.

Manche fragen: Können wir nicht einfach aussteigen aus der Globalisierung? Aber eine Volkswirtschaft, in der vom Brot bis zum Hemd, vom Computer bis zum Auto alles im eigenen Land hergestellt werden müsste, ist nicht mehr denkbar. Der Ausstieg aus den Weltmärkten würde unseren Wohlstand in kürzester Zeit vernichten.

Stellen wir uns also der Verantwortung. Sie deckt sich mit unserem Interesse. Wir verkaufen die Hälfte unserer Wirtschaftsleistung ins Ausland. Die Weltwirtschaft ist unser Schicksal. Deshalb müssen wir unser Gewicht jetzt aktiv und konstruktiv in die internationale Zusammenarbeit zur Überwindung der Krise einbringen.

Die große Chance der Krise besteht darin, dass jetzt alle erkennen können: Keiner kann mehr dauerhaft Vorteil nur für sich schaffen. Die Menschheit sitzt in einem Boot. Und die in einem Boot sitzen, sollen sich helfen. Eigennutz im 21. Jahrhundert heißt: sich umeinander kümmern.

Vor allem wir im Norden müssen umdenken. Auf unserer Erde leben derzeit etwa sechseinhalb Milliarden Menschen. Nur rund 15 Prozent von ihnen leben in Umständen wie wir. Weit über zwei Milliarden Menschen müssen mit zwei Dollar pro Tag auskommen, eine Milliarde sogar nur mit einem Dollar. Wir sollten uns nicht länger einreden, das sei gerecht so. Sicherheit, Wohlstand und Frieden wird es auch in den Industrieländern dauerhaft nur geben, wenn mehr Gerechtigkeit in die Welt kommt. Wir brauchen eine Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten. Das heißt: Die Industrieländer – auch Deutschland – müssen sich fragen, was sich auch bei ihnen verändern muss, um der Welt eine gute Zukunft zu sichern.

Bundesregierung und Bundestag haben in den vergangenen Monaten Handlungsfähigkeit bewiesen und kurzatmigen Aktionismus vermieden. Ihr Wort hat Gewicht auch im europäischen und internationalen Krisenmanagement.

In Deutschland steht unsere Regierung vor schwierigsten Abwägungen und Entscheidungen. Sie betreffen das Wohl und Wehe vieler Menschen. Niemand hat fertige Rezepte. Wir können über unsere konkreten Schritte und die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, keine Sicherheit haben. Aber wir können darauf vertrauen: Die eingeschlagene Richtung stimmt.

Jeder ernsthafte Vorschlag muss ernsthaft gewogen werden. Das Ringen um die beste Lösung gehört zur Demokratie. Auch im Vorfeld einer Bundestagswahl gibt es aber keine Beurlaubung von der Regierungsverantwortung. Die Bevölkerung hat gerade in der Krise den Anspruch darauf, dass ihre Regierung geschlossen handelt und Lösungen entwickelt, die auch übermorgen noch tragfähig sind. Die Krise ist keine Kulisse für Schaukämpfe. Sie ist eine Bewährungsprobe für die Demokratie insgesamt.

Viele Bürgerinnen und Bürger sind verunsichert. Sie fragen, was uns bevorsteht und was nun getan werden soll. Sie sehen die Einkommen der Banker, die Verluste der Anleger, die Krise vieler Betriebe und die riesigen Hilfsprogramme der Staaten. Und viele beginnen, am Wert und am Fortbestand des marktwirtschaftlichen Systems zu zweifeln.

Die Menschen brauchen mehr Information und Erklärung über das, was abläuft. Sie wollen wissen, wie sie sich selbst einbringen können, mit ihren eigenen Ideen und Vorstellungen. Parlamente und Regierungen im Bund und in den Ländern sind bei der Bewältigung der Krise auf die Unterstützung und Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Es geht darum, gemeinsam neue Wege zu finden.

Am Anfang steht die Frage: Wie konnte es zu dieser Krise kommen?

Noch kennen wir nicht alle Ursachen. Aber vieles ist inzwischen klar. Zu viele Leute mit viel zu wenig eigenem Geld konnten riesige Finanzhebel in Bewegung setzen. Viele Jahre lang gelang es, den Menschen weiszumachen, Schulden seien schon für sich genommen ein Wert; man müsse sie nur handelbar machen. Die Banken kauften und verkauften immer mehr Papiere, deren Wirkung sie selbst nicht mehr verstanden. Im Vordergrund stand die kurzfristige Maximierung der Rendite.

Auch angesehene deutsche Bankinstitute haben beim Umgang mit Risiko zunehmend Durchblick und Weitsicht verloren. Das konnte nur geschehen, weil sie den Bezug zu ihrer eigenen Kultur aufgaben: zu dem, was diese Häuser überhaupt erst zu Größe und Bedeutung geführt hatte – Sinn für Geldwertstabilität, Respekt vor dem Sparer und langfristiges Denken. Auch Banken können nur dauerhaft Wertschöpfung erbringen, wenn sie sich als Teil der ganzen Gesellschaft sehen und von ihr getragen werden. Wenn sie den Grundsatz unserer Verfassung achten: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll auch dem Allgemeinwohl dienen.

Doch das Auftürmen von Finanzpyramiden wurde für viele zum Selbstzweck, insbesondere für sogenannte Investmentbanken. Damit haben sie sich nicht nur von der Realwirtschaft abgekoppelt, sondern von der Gesellschaft insgesamt. Dabei geht es auch um Fragen der Verantwortung und des Anstands. Was vielen abhanden gekommen ist, das ist die Haltung: So etwas tut man nicht. Bis heute warten wir auf eine angemessene Selbstkritik der Verantwortlichen. Von einer angemessenen Selbstbeteiligung für den angerichteten Schaden ganz zu schweigen.

Derweil stockt das Blut in den Adern des internationalen Finanzwesens. Das hat überall Folgen, auch bei uns: Für Investitionen brauchen Unternehmen Kredite, und dafür müssen die Banken zusammenarbeiten. Aber sie misstrauen einander immer noch. Sie halten ihr restliches Geld fest. Die Finanzkrise stiftet Unsicherheit und lähmt weltweit den Unternehmungsgeist.

Wir erleben das Ergebnis fehlender Transparenz, Laxheit, unzureichender Aufsicht und von Risikoentscheidungen ohne persönliche Haftung. Wir erleben das Ergebnis von Freiheit ohne Verantwortung.

Aber Schuldzuweisungen und kurzfristige Reparaturen reichen nicht aus, wenn wir die tiefere Lehre aus der Krise ziehen wollen. Denn es gibt einen Punkt, der geht uns alle an. Obwohl der Wohlstand in der westlichen Welt, in Europa und auch in Deutschland seit den 70er Jahren beständig zunahm, ist auch die Staatsverschuldung kontinuierlich angestiegen. Man stellte Wechsel auf die Zukunft aus und versprach, sie einzulösen. Das ist bis heute nicht geschehen. Denn wir scheuten uns vor den Anstrengungen, die mit jedem Schuldenabbau verbunden sind. Wir haben die Wechsel an unsere Kinder und Enkel weitergereicht und uns damit beruhigt, das Wirtschaftswachstum werde ihnen die Einlösung dieser Wechsel erleichtern. Jetzt führt uns die Krise vor Augen: Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt.

Die Krise ging von den Industriestaaten aus – von denen, die sich bislang am stärksten fühlten. Und sie wirft ein Schlaglicht auf die Widersprüche, in die sich die industrialisierte Welt in den vergangenen Jahrzehnten verstrickt hat. Wir haben diese Welt selbst mitgestaltet. Aber wir finden uns immer weniger darin zurecht. So wuchs die Kluft zwischen den neuen Anforderungen der Wirklichkeit und unserem Anspruch, alles möge beim Alten bleiben.

Und wir haben uns eingeredet, es gebe einen Königsweg, diese Widersprüche aufzulösen: Wir haben uns eingeredet, permanentes Wirtschaftswachstum sei die Antwort auf alle Fragen. Solange das Bruttoinlandsprodukt wächst, so die Logik, können wir alle Ansprüche finanzieren, die uns so sehr ans Herz gewachsen sind – und zugleich die Kosten dafür aufbringen, dass wir uns auf eine neue Welt einstellen müssen.

Die Finanzmärkte waren Wachstumsmaschinen. Sie liefen lange gut. Deshalb haben wir sie in Ruhe gelassen. Das Ergebnis waren Entgrenzung und Bindungslosigkeit. Jetzt erleben wir, dass es der Markt allein nicht richtet. Es braucht einen starken Staat, der dem Markt Regeln setzt und für ihre Durchsetzung sorgt. Denn Marktwirtschaft lebt vom Wettbewerb und von der Begrenzung wirtschaftlicher Macht. Sie lebt von Verantwortung und persönlicher Haftung für das eigene Tun; sie braucht Transparenz und Rechtstreue. Auf all das müssen die Menschen vertrauen können.

Dieses Vertrauen ist jetzt erschüttert. Den Finanzmärkten fehlte eine ordnende Kraft. Sie haben sich den Staaten entzogen. Die Krise zeigt uns: Schrankenlose Freiheit birgt Zerstörung. Der Markt braucht Regeln und Moral.

Und noch etwas müssen wir wissen: Freiheit ist ein Gut, das stark macht. Aber es darf nicht zum Recht des Stärkeren werden. Denn das ist der Haken an der Freiheit: Sie kann in denjenigen, die durch sie satt und stark geworden sind, den Keim der Selbstüberhebung legen. Und die Vorstellung, Freiheit sei auch ohne Verantwortung zu haben.

Freiheit ist kein Vorrecht, die besten Plätze für sich selbst zu reservieren. Wir wollen lernen, Freiheit nicht nur für uns zu nehmen, sondern sie auch anderen zu ermöglichen. Die Glaubwürdigkeit der Freiheit ist messbar: in unserer Fähigkeit, Chancen zu teilen. Nach innen. Und nach außen. Und in unserer Bereitschaft zur Verantwortung für den Nächsten und das Wohl des Ganzen. Wenn wir das schaffen, dann holen wir das Beste aus uns Menschen heraus, was in uns steckt.

Deshalb: Gerade die Krise bestätigt den Wert der Sozialen Marktwirtschaft. Sie ist mehr als eine Wirtschaftsordnung. Sie ist eine Werteordnung. Sie vereinigt Freiheit und Verantwortung zum Nutzen aller. Gegen diese Kultur wurde verstoßen. Lassen Sie uns die kulturelle Leistung der Sozialen Marktwirtschaft neu entdecken. Es steht allen, insbesondere den Akteuren auf den Finanzmärkten, gut an, daraus auch Bescheidenheit abzuleiten und zu lernen.

Die Krise entfaltet aber auch schon ihr Gutes: Was zum Beispiel Barack Obama für die Wirtschaft und Gesellschaft der Vereinigten Staaten anstrebt, das ähnelt in Grundzügen unserem Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Das zeigt auch: Die Deutschen haben etwas anzubieten beim Aufarbeiten der Krise.

Unsere Regierung und unsere Parlamentarier stehen vor einer immensen Herausforderung. Sie müssen eine doppelte Gestaltungsaufgabe bewältigen: Zum einen geht es darum, eine sich selbst verstärkende Spirale nach unten zu verhindern. Und gleichzeitig müssen sie die Grundlagen für Stabilität und Wohlstand in einer Welt schaffen, die einen tiefgreifenden Wandel durchmacht.

Unmittelbar gilt es, den Geldkreislauf wieder in Gang zu bringen. Wir sprechen von der Lebensader der Wirtschaft. Sie muss versorgt sein, damit Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, auch morgen noch Arbeit haben. Es geht zugleich darum, einer länger anhaltenden, weltweiten Rezession entgegenzuwirken. Und die internationalen Finanzmärkte brauchen eine neue Ordnung durch bessere Regeln, effektive Aufsicht und wirksame Haftung.

An allen drei Aufgaben wird gearbeitet. Die Politik hat schnell und entschlossen reagiert. Die Banken werden mit Kapital und Garantien versorgt, damit der Geldkreislauf nicht völlig zum Stehen kommt. Die Konjunkturprogramme schaffen Nachfrage und helfen den Betrieben, durch die Krise zu kommen. Die staatlichen Hilfen für Banken und Betriebe kosten viel Geld. Dafür muss jetzt auch eine höhere Staatsverschuldung in Kauf genommen werden. Aber sie ist nur zu rechtfertigen, wenn das Geld klug eingesetzt wird. Für uns in Deutschland bedeutet kluger Einsatz:

  • Wir sind uns bewusst, die globale Krise verlangt eine globale Antwort. Das verlangt eine neue Qualität der inter-nationalen Zusammenarbeit. Deutschland als größter Volkswirtschaft in der Europäischen Union kommt eine Führungsrolle zu. Es geht darum, der Krise die volle Wucht einer gemeinsamen Kraftanstrengung von 500 Millionen Menschen entgegenzusetzen. Nutzen wir die Krise, um der Einheit Europas ein neues Momentum zu geben.
  • Wir wirken mit Nachdruck darauf hin, den internationalen Finanzmärkten eine neue Ordnung zu geben. Grundsätzliche Orientierungen hierfür sollten sein: Die Banken müssen mit einem deutlich höheren Anteil an Eigenkapital arbeiten. Das schärft ihr Risikobewusstsein. Der Finanzmarkt braucht mehr Verbraucherschutz. Banker sollten nicht für Umsatz bezahlt werden. Sondern für Kundenzufriedenheit über den Tag hinaus. Es darf keine unregulierten Finanzräume, Finanzinstitute und Finanzprodukte mehr geben. Und: Die großen Finanzinstitute werden international unter eine einheitliche Aufsicht gestellt.
  • Wir verschenken das Geld nicht an die Banken. Wir fordern Gegenleistungen in Gestalt von Mitsprache, Zinsen und Mitarbeit bei der Krisenbewältigung. Die Steuerzahler haften mit gewaltigen Summen. Der Staat steht deshalb in der Verantwortung. Auch vorübergehende staatliche Beteiligungen können nicht ausgeschlossen werden. Der Schutz des Privateigentums, das konstitutiv ist für Freiheit und Wohlstand, wird dadurch nicht berührt.
  • Bei alledem gilt: Die Finanzkraft des Staates hat Grenzen. Auch Staaten können ihre Kreditwürdigkeit verlieren. Das dürfen wir nicht riskieren. Darum verpflichten wir uns schon jetzt verbindlich, die Staatsschulden wieder zurückzuführen, sobald die Krise überstanden ist. Denn wir dürfen die Frage der Generationengerechtigkeit nicht auf die lange Bank schieben. Wir stehen vor einem Glaubwürdigkeitstest für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Als Land in der Mitte Europas und als Exportnation sind wir auf freien Handel und möglichst viele Nationen angewiesen, die daran teilnehmen. Daraus ergibt sich für uns ein weiterer Handlungsauftrag:

Wir Deutsche sollten besonders engagiert eintreten für den raschen Abschluss der laufenden Verhandlungen über entwicklungsfreundliche Handelserleichterungen. Der Generaldirektor der Welthandelsorganisation, Pascal Lamy, hat mir berichtet: 80 Prozent der Streitfragen sind ausgeräumt. Es braucht eine letzte Anstrengung, Vernunft und politischen Entscheidungswillen, damit der Welthandel und so die weltweite Vertrauensbildung einen Schub bekommen. Die Europäische Union sollte Flagge zeigen. Auch ihre Zukunft hängt von offenen Weltmärkten ab. Und wir müssen auch im europäischen Binnenmarkt energisch allen protektionistischen Tendenzen entgegentreten.

Wir erleben Spannungen in der Eurozone. Und einige unserer Partner in Mittel- und Osteuropa stecken in der Klemme. Hier rächen sich Wachstumseuphorie und Reformversäumnisse. Dennoch sollte die Europäische Union zu Hilfe bereit sein. Aber sie muss auf der Bereitschaft unserer Partner zu Disziplin und Eigenverantwortung aufbauen können.

Auch in Asien, Lateinamerika und Afrika geraten immer mehr Länder in Schwierigkeiten. Und wir stellen fest: Die Weltwirtschaft ist deutlich unterversichert; die Mittel für solche Notlagen, für die vor Jahrzehnten Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank gegründet wurden, sind nicht ausreichend. Es scheint sich ein Konsens zu entwickeln, die Finanzierungsmittel des IWF zu verdoppeln. Das ist gut. Mehr wäre besser.

Ich bleibe bei meinem Vorschlag, ein Bretton Woods II unter dem Dach der Vereinten Nationen zu organisieren, um eine grundsätzliche Reform der internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung voranzutreiben. Wir brauchen ein neues, durchdachtes Weltwährungssystem und ein politisches Verfahren für den Umgang mit globalen Ungleichgewichten.

Die Europäische Union kann einen großen Anstoß zur Reform der internationalen Finanzinstitutionen geben, wenn sich die Mitgliedstaaten darauf einigen, ihre Interessen im Internationalen Währungsfonds und in der Weltbank in einem Sitz zu bündeln. Schon mit dem Euro hat Europa mehr Kraft und Schutz gewonnen. Freiheit gewinnen durch Bündelung von Souveränität: Die Europäische Union sollte die Chance nutzen, dieses Friedensprinzip in eine neue Ära der kooperativen Weltpolitik einzubringen. Wir wollen dabei aber weiter sorgsam darauf achten: Was die Menschen vor Ort selbst besser entscheiden können, das bleibt ihnen auch in Zukunft überlassen.

Es ist eine Zeit gekommen, in der wir uns auf gemeinsame Menschheitsaufgaben verständigen und uns an sie binden können. Jetzt erkennen alle: Wir brauchen Ordnung in der Globalisierung, anerkannte Regeln und effektive Institutionen. Diese Ordnung muss dafür sorgen, dass globale öffentliche Güter wie internationale Finanzstabilität, Begrenzung der Erderwärmung und die Gewährleistung freien, fairen Handels gemeinsam definiert und bereitgestellt werden.

Es geht um unsere Verantwortung für globale Solidarität. Es geht um die unveräußerliche Würde aller Menschen. Es geht um eine Weltwirtschaft, in der Kapital den Menschen dient und nicht Herrscher über die Menschen werden kann.

Begreifen wir den Kampf gegen Armut und Klimawandel als strategische Aufgaben für alle. Die Industriestaaten tragen als Hauptverursacher des Klimawandels die Verantwortung dafür, dass die Menschen in den Entwicklungsländern am härtesten davon getroffen sind. Der Kampf gegen die Armut und der Kampf gegen den Klimawandel müssen gemeinsam gekämpft werden.

Heute stellt die Welt uns die Globale Soziale Frage. Es ist unsere Pflicht, darauf Antworten zu finden. Es ist auch unsere große Chance. Zeigen wir: Der Norden lässt den Süden nicht im Stich. Die nötige Veränderung muss von überall her kommen.

Wir brauchen als Weltgemeinschaft ein gemeinsames, verbindendes Ethos. Wir müssen uns auf Werte verständigen, die wir alle teilen und deren Missachtung die Gemeinschaft nicht dulden wird. Das Grundprinzip lautet: Wir wollen andere in Zukunft nur so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen.

Deshalb müssen wir künftig auch Doppelstandards schärfer ins Visier nehmen. Das tut unserer Glaubwürdigkeit gut.

Ein Beispiel: Mit jahrzehntelangem, industriellem Fischfang hat auch die Europäische Union dazu beigetragen, dass die Küsten vor Westafrika inzwischen stark überfischt sind. Die Fischer Westafrikas können mit ihren Booten vom Fischfang heute immer schlechter leben. Da darf es uns nicht wundern, dass die Fischerboote immer mehr dazu benutzt werden, Flüchtlinge nach Europa zu transportieren. Wie viel effektiver, nachhaltiger und auch billiger wäre es doch gewesen, frühzeitig eine echte Partnerschaft mit den westafrikanischen Ländern einzugehen; gemeinsam Überwachungsmechanismen gegen Überfischung zu schaffen; gemeinsam dazu beizutragen, dass der Reichtum ihrer Fischgründe vor allem ihnen zugute kommt.

Ich stehe dazu: Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas.

Und wir wissen heute: Es wäre ein geringeres Risiko gewesen, eine Eisenbahnlinie quer durch Afrika zu bauen, als in eine angesehene New Yorker Investmentbank zu investieren.

Machen wir was aus unseren neu gewonnenen Erkenntnissen. Überprüfen wir unsere alten Gewissheiten und überwinden wir unsere Angst vor dem Unbekannten. Dann können wir die Freude entdecken, die in der schöpferischen Aufgabe liegt, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Mir ist nicht bange darum, dass wir es schaffen.

Denn wir haben damit schon lange angefangen. Mir macht es Mut zu sehen, wie immer mehr Menschen in Deutschland erkennen: Wenn die ganze Menschheit schon heute so leben wollte wie wir, dann bräuchten wir schon jetzt mehr als eine Erde. Aber wir haben nur die eine. Sie ist uns anvertraut. Immer mehr ziehen daraus persönliche Schlussfolgerungen und ändern ihre Lebensgewohnheiten. Sie haben erkannt: Jeder kann etwas beitragen.

Der Klimawandel zeigt: Die Erde wird ungeduldig. Wir brauchen eine neue Balance zwischen unseren Wünschen und dem, was der Planet bereit ist zu geben. Das geht auch die Staatengemeinschaft an. Denn dazu müssen die armen und die reichen Nationen aufeinander zustreben. Die reichen, indem sie Energie und Ressourcen einsparen und die Technik dafür liefern. Die armen, indem sie von vornherein ihr Wirtschaften auf das Prinzip der Nachhaltigkeit ausrichten und unsere Fehler vermeiden. Es geht um ein Wohlstandsmodell, das Gerechtigkeit überall möglich macht.

Wir wollen gemeinsam beschließen, nicht mehr auf Kosten anderer zu leben.

Die Klimaforscher sagen mir: Die Erde braucht ein weltweites System zum Handel mit Verschmutzungsrechten. Und sie sagen mir auch: Das gelingt umso besser, je mehr die Regeln der Marktwirtschaft zur Anwendung kommen. Durch Märkte und Regeln kann die Vergiftung der Umwelt überall und so schnell wie möglich zurückgeführt werden. Genauso wichtig ist es, in den Preis einer jeden Sache und Dienstleistung einzurechnen, was sie die Allgemeinheit kosten – an sauberer Luft, an endlichen Rohstoffen, an Abfall, an Lärm und Staus.

Ich bin überzeugt: Kostentransparenz und das Bemühen um möglichst umweltschonendes Wirtschaften werden ein Wettrennen in Forschung und Wissenschaft auslösen. Da bieten sich gerade uns Deutschen große Chancen. Wir sind schon jetzt weltweit führend in Umweltwirtschaft und Umwelttechnik. Fast zwei Millionen Menschen arbeiten da schon, Tendenz steigend.

Ernst Ulrich von Weizsäcker, der Träger des Deutschen Umweltpreises, hat schon vor Jahren die Vision von „Faktor vier“ beschrieben. Das bedeutet die Verdoppelung des Wohlstands bei halbem Naturverbrauch. Machen wir uns klar, welcher Quantensprung bei Energie- und Ressourcenproduktivität möglich ist.

Nehmen wir uns deshalb die nächste industrielle Revolution bewusst vor: diesmal die ökologische industrielle Revolution. Dafür gute Voraussetzungen zu schaffen, verlangt ein intelligentes Zusammenwirken von Markt und Staat. Und die Verbraucher können wach und kritisch sein. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima der Innovationsfreude und ein starkes ökologisches Bewusstsein.

Das ist nicht nur eine Aufgabe der Wirtschaft. Es ist eine kulturelle Herausforderung. Der Mensch lebt nicht vom Brot alleine. So sah es auch Ludwig Erhard. Wohlstand war für ihn nicht Selbstzweck. Wohlstand war und ist auch heute Grundlage für ein Leben, das darüber hinausweist.

Machen wir aus Erhards Erkenntnis eine Frage an uns selbst: Wie viel ist genug? In der Welt nach der Krise wird es auch um Antworten auf diese Frage gehen. Wir haben allen Anlass, dankbar dafür zu sein, dass wir uns in freier Selbstbestimmung auf die Suche danach machen können. Dabei sollten wir wissen: Wir können uns nicht mehr hauptsächlich auf wirtschaftliches Wachstum als Problemlöser und Friedensstifter in unseren Gesellschaften verlassen.

Was ist das: Glück? Ich finde, wir sollten uns neue Ziele setzen auf unserer Suche nach Erfüllung. Ja, unser Lebensstil wird berührt werden. Und: Unsere Lebensqualität kann steigen. Sparsamkeit soll ein Ausdruck von Anstand werden – nicht aus Pfennigfuchserei, sondern aus Achtsamkeit für unsere Mitmenschen und für die Welt, in der wir leben. Demokratie ist mehr als die Sicherstellung materieller Zuwächse. Wir wollen nicht nur gute Demokraten sein, solange sichergestellt wird, dass wir reich genug dafür sind.

Wir wollen Zufriedenheit und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht länger nur von einem quantitativen „Immer Mehr“ abhängig machen. Was in unserem Land wachsen muss, sind vor allem das Wissen und die Intelligenz, mit der wir unser Leben besser gestalten können.

Wir bauen die besten Autos der Welt. Das reicht aber nicht. Wir müssen die besten Autos der Zukunft der Welt bauen. Der Verband der Automobilhersteller sagt, das Null-Emissions-Auto kommt in 15 Jahren. Ich denke, das kann sogar schneller gehen. Ich habe großes Vertrauen in die Ingenieurskunst unserer Autobauer. Da gibt es zurzeit einen deutschen Hersteller, der in besonderen Schwierigkeiten steckt. Auch seine Ingenieure sind gut. Mir wird gesagt, sie haben weit in die Zukunft gearbeitet. Darin möchte ich Hoffnung für Opel sehen. Und in der Bereitschaft von Arbeitnehmern und Vorstand zum vertrauensvollen Miteinander jenseits aller Schablonen auch.

Das nötige Wachstum an Wissen und Können macht uns auch wach für unsere Versäumnisse bei Bildung und Integration. Wir können es uns nicht leisten, junge Menschen verloren zu geben. Jeder Einzelne von den rund 70.000 wird gebraucht, die Jahr für Jahr in Deutschland die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Wir müssen mehr tun für die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft. Das ist nicht nur gut für die Durchgelassenen. Das stärkt die Dynamik und Kreativität der Gemeinschaft insgesamt. Dünkel macht uns lahm. Genau wie das Verharren in Lebensumständen, in die wir hineingeboren werden.

Wir wollen auch den Wert und die Würde der Arbeit neu entdecken, die Menschen für Menschen leisten. Denn machen wir uns nichts vor: Unsere Fabriken werden sich weiter von Menschen entleeren. Die Maschine übernimmt weiter, was sie besser kann als wir. Aber das, was uns ausmacht als Menschen, das übernimmt sie nicht. Was ist der Wert der Arbeit einer Krankenschwester, die nachts einem Patienten in Not hilft und ihm Mitmenschlichkeit schenkt? Warum haben wir die Pflege alter Menschen zu Hause oder die Versorgung kleiner Kinder so lange in die Schwarzarbeit gedrängt? Ich bin sicher: In der Arbeitswelt der Zukunft werden Menschen wieder mehr mit Menschen zu tun haben. Denn da sind wir unersetzlich.

Schaffen wir mehr Aufmerksamkeit, Mitgefühl, Zuwendung füreinander in diese Welt. In unsere eigene und in die der anderen. Wir haben alles Recht und allen Grund, uns stärker einzubringen. Denn wir tragen Mitverantwortung. Ich bin sicher: Sie zu schultern, das bringt uns neue Chancen und neue Antworten auf die Frage nach Sinn.

Wir können werben für die Art, mit der wir durch die vergangenen 60 Jahre unserer Geschichte gegangen sind. Wir sind froh über unser seit 20 Jahren wiedervereinigtes Deutschland. Die Deutschen haben sich die Fähigkeit zur Selbstkritik bewahrt. Wir sind als Nation bescheiden geblieben, auch als wir stärker wurden. Wir blicken ohne Zynismus, mit Offenheit und dem Angebot zur Partnerschaft auf die anderen. Wir bilden eine Gemeinschaft, die mit Friedfertigkeit auf ihre Nachbarn zugeht und dabei trotzdem zielstrebig ist. Helmut Schmidt hat recht: Wir sollten uns nicht größer machen, als wir sind.

Aber eben auch nicht kleiner.

Die Soziale Marktwirtschaft hat uns gezeigt: Solidarität ist nicht Mitleid. Solidarität ist Selbsthilfe. Wenn das Band zwischen Oben und Unten Halt gibt, dann kommt Kraft in eine Gesellschaft. Und mit ihr die Fähigkeit, auch scheinbar unlösbare Aufgaben zu bewältigen. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte. Arbeit, Kapital und Nachhaltigkeit gehören zusammen. Bei uns. Und überall.

Wir dürfen uns nichts vormachen: Die kommenden Monate werden sehr hart. Auch für uns in Deutschland. Wir werden geprüft werden. Wir werden weiter Namen hören und uns wünschen, der Zusammenhang wäre ein anderer: Märklin, Schiesser, Rosenthal.

Wir werden Ohnmacht empfinden, und Hilflosigkeit und Zorn. Aber es gab auch noch nie eine Zeit, in der unser Schicksal so sehr in unseren eigenen Händen lag wie heute. Wir haben die Chance, Freiheit und Verantwortung in unserer Zeit nachhaltig aneinander zu binden. Die Verantwortung ist groß. Das liegt daran, dass unsere Freiheit so groß ist. Gehen wir sorgsam mit ihr um. Zeigen wir Demut vor der Freiheit. Vor unserer. Und vor der der anderen.

Schauen Sie sich um in dieser Kirche. Sie spricht zu uns bis heute über das Werk der Zerstörung, das Menschen anrichten können. Aber sie sagt auch: Wir können immer einen neuen Anfang schaffen. Es liegt an uns.

Quelle: Bundespräsident.de

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