Es ist neuralgisch, Parallelen zwischen Wirtschaft und Werteindustrie festzustellen und ihre Dynamik analog zu untersuchen. Nichtsdestotrotz liegt der Fokus des folgenden Artikels auf der aktuellen Lage des europäischen Wertemarktes und wirft abschließend noch einen kurzen Blick auf die Situation in Österreich. Im Folgenden werden die Terme “westlich” und “europäisch” identisch verwendet, also ihrem historischen Kontext entsprechend und im Sinne eines besseren Verständnisses des vorliegenden Textes.
Die Geschichte des europäischen Wertemonopols
Keine historische Ideologie hat die Geschichte des europäischen Monopols derart verfestigt wie das kapitalistische System. Mit seinem globalen Siegeszug übernahmen auch die europäischen Werte die Vorherrschaft. Der Kapitalismus ist bekanntlich eine Konzeption, die sich auf das Gewinnstreben des Einzelnen richtet. Es ist daher evident, die kapitalistischen Ideologien durch eine subjektive Werttheorie zu repräsentieren, in welchen der wertende Mensch zwischen seinem Maßstab und der zu bewertenden Sache eine Beziehung herstellt, ergo ein Werturteil bildet. Der Wert eines Gutes ergibt sich in der Volkswirtschaftslehre aus dem Angebot zum einen und der Nachfrage zum anderen. Im wirtschaftlichen Verkehr wird er durch Geld ausgedrückt, also durch den Preis einer Ware. Der Preis ist der üblicherweise in Geldeinheiten ausgedrückte Wert eines Gutes. Die Realisierung eines Werts findet dann statt, wenn sich Anbieter und Nachfrager auf einen bestimmten Wert einigen und ihn durch den Kaufvertrag besiegeln. Entsprechend dem Konsumenten am Wirtschaftsmarkt ist dem Konsumenten am Wertemarkt nicht bewusst, dass sie wesentlicher Bestandteil des Wertbildungsprozesses sind. Werte entstehen nur, wenn sie realisiert werden.
Erich Fromm, Sozialpsychologe des 20. Jahrhunderts, macht hierfür die Entpersonalisierung aller Macht verantwortlich; es gibt nur mehr einen anonymen Markt für dessen Wirkungsweise die Gesetze von Angebot und Nachfrage gelten und somit keinen Einzelnen zur Verantwortung bitten oder als moralische Autorität anbieten. Aus der monoton fortlaufenden Anonymität heraus entspringt die Haltung, das tun zu sollen, was alle anderen auch tun. Aber für was soll man sich entscheiden? Der Ausverkauf der europäischen Tugenden hat begonnen und keiner weiß, wie man dem Überangebot Herr wird. Europa hat (sich) in ökonomischer und ethischer Sicht viel geleistet und hat jetzt die Folgen virulenter Orientierungslosigkeit zu tragen.
Rezession oder Depression
Im Gegensatz zur Rezession ist die Depression als eine besondere wirtschaftliche Notlage zu verstehen, in welcher der Staat intervenieren muss. Eine Depression ist im gängigen Sinn als Tiefststand zu verstehen, in den eine Volkswirtschaft durch einen Abschwung gerät, vor allem wenn diese Wirtschaft unabsehbar lange in einem Tief verharrt und weitere Abschwünge einkalkuliert werden müssen. Während Rezessionen ein normaler und kalkulierbarer Faktor im kapitalistischen Wirtschaftsverständnis sind, kommt es – nach Schumpeter -bei der Depression zu einer “abnormen Liquidation” und somit zur Vernichtung vieler Dinge, die ansonsten weiterbestehen würden, in unseren Kontext gesetzt und mit Nietzsche formuliert: zur Vernichtung der Werte. So könnte man heute im Sinne von Paul Krugmans “Depression Economics” von einer anhaltenden europäischen “Depression Values Economics” sprechen. Es gibt so viele Werte am realen und virtuellen Markt; diese werden zu Dumpingpreisen angeboten, denn es herrscht Ausverkauf am deflationären europäischen Wertemarkt. Die angebotenen Werte stehen aufgrund ihrer Differenz in Konflikt und lassen sich nicht gleichzeitig realisieren, ohne den geweilt anderen seine Rechtfertigung abzusprechen. Der philosophische Terminus hierfür ist “Wertantinomie”. Dieser Widerstreit begünstigt Phänomene wie Werteverfall, Werteverlust, Nihilismus und beliebige Wertesynthese. Alle diese Phänomene können jedoch als Symptome jener virulenten Wertblindheit diagnostiziert werden, welche das fehlende Gefühl für Werte bezeichnet. Genau dieser Zustand kennzeichnet die aktuelle, europäische Lebenswelt in politischer, ökonomischer und vor allem gesellschaftlicher Hinsicht.
Die jetzige Depression hat eine lange Vorgeschichte, aber zwei ganz besondere historische Momente: den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. In diesen Zeiträumen verliert Europa seine kolonialen Werteindustrien; Unabhängigkeitserklärungen verhindern eine Fortführung rationaler Aufklärungstendenzen. Europas Wertevorstellungen haben – an den Folgen der Destruktion und der westlichen Hybris gemessen – einen schweren Stand. Dem folgt weiter die zunehmende Globalisierung; Märkte wachsen und blühen in China und Indien auf und behaupten sich mit einem gewissen Grad an Unabhängigkeit, dass die westliche Welt sich ihrer selbst nicht mehr sicher wird. Auch politisch und militärisch weiß sich der Zwerg Europa immer schwerer vor den erwachten Riesen zu behaupten. Auch die Allianzen mit den USA, quasi einem Ableger der europäischen Werteindustrie, gestalten sich kompliziert. Die Gelegenheit zu einer offiziellen europäischen Vereinigung kommt, wird ergriffen und setzt mit der Einführung einer gemeinsamen Währung ein substantielles Zeichen für die Welt. Alle diese Vorgehen sollen von einem gemeinsamen Europa, von einer europäischen Identität überzeugen, allerdings bleiben deren Werte vage und gehen im ökonomischen Dunstkreis unter. Man vermag es nicht, dem Großteil der Europäer den Anschein einer funktionierenden europäischen Werteindustrie zu geben.
Mit dem Jahr 2008 und der Weltwirtschaftskrise scheint die westliche Überlegenheit durch den fortschreitenden Verlust der ökonomischen Vorherrschaft endgültig gebrochen und damit auch der über die globale Werteindustrie, deren Versagen sich nun offenkundig und in Zahlen zeigt. In dem Moment, wo die europäischen Werte abgelehnt wird, betreten andere Produzenten den globalen Markt, die versuchen, nicht die selben Fehler wie Europa zu machen und die schon lange gewartet haben.
Der Islam als Werteproduzent
Spätestens die Niederlage der arabischen Mächte gegen die israelische Allianz 1967 kann als Wendepunkt der westlichen und somit auch europäischen Werteindustrie gesehen werden. “Insofern als die Ausrichtung nach den verweltlichten Modellen – säkularer Nationalismus und verschiedene Varianten des Sozialismus – den arabischen Ländern keine Europa ebenbürtige Position verschafft hatte. Die Folge ist eine bewusste Hinwendung zur eigenen Kultur, zum Islam.” Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass einst die arabisch-islamische Welt durch die Weiterführung des griechisch-hellenistischen Erbes einen großen kulturellen Vorsprung gegenüber Europa besaß und quasi dieses rationale Erbe Europa wieder zugänglich machte. Die Rezeption der rationalen Traditionen ermöglichte europäische Aufklärungstendenzen den Durchbruch und damit auch den Wissenschaften und modernen, demokratischen Staatsformen.
Anders in den arabisch-islamischen Ländern, in denen Staat und Religion untrennbar verbunden bleiben und so auch wesentlichen Einfluss auf den wissenschaftlichen Fortschritt nehmen und ultra-rationale Tendenzen einschränken. Das klassische Verständnis der Islam-Konzeption kreist um den religiösen Begriff “Scharia”, der mit dem Ausdruck “göttliches Gesetz” übersetzt werden kann. Aus der Interpretation dieses göttlichen Gesetzes leitet sich der Sittenkodex ab und die Selbstinterpretation des Individuums, das durch das Wertekonzept der Scharia mit der Religion, dem Islam, verbunden bleibt. Daraus folgt, dass die rationale Weltsicht und die westliche Werteindustrie nicht assimiliert werden können, da Europa sich in einem zu weit fortgeschrittenen Säkularisierungsprozess befindet und offiziell eine Trennung von Klerus und Staat präferiert. Nichtsdestotrotz übernimmt die islamische Welt Naturwissenschaften und Technologien – allerdings mit Restriktionen. Bassam Tibi spricht in diesem Zusammenhang vom “Traum von der halben Moderne” . Die von der Scharia geforderten Einschränkungen betonen Gehorsam und Verbote ultra-rationalen Denkens. Die unbedingte Einhaltung der Scharia soll die herrschenden sozialen und ökonomischen Probleme lösen können. Allerdings sind es gerade diese Gebote, die in den Bereichen Wissenschaft, Forschung und Kultur negative Folgen zeitigen, da diese kritische Analyse, intersubjektive Objektivität und Meinungsfreiheit voraussetzen.
Die Fragen sind nun, welche Werte der Islam offeriert und welche Rolle der Islam als globaler Werteproduzent einnehmen kann, in Hinsicht auf die Individuen einerseits und andererseits in Hinsicht auf Staatsgefüge. Gerade zu diesem Thema äußert sich die marokkanische Sozialwissenschaftlerin Fatema Mernissi bis heute kritisch teilweise pessimistisch über die arabische Welt, die sich bisher in keiner Aufklärung transformieren konnte. Auch wenn teils demokratische Maßnahmen in das politische Handeln Eingang fanden, wie sie konstatiert, wurde an der Freigabe individueller Freiheiten, vor allem für Frauen, gespart. Wenn man mit Mernissi persönlich spricht, erfährt man allerdings von ihrem optimistischen Staunen über die sich immer akzelerierenden sozialen Veränderungen, deren Ursache in den Kommunikationstechnologien und der fortschreitenden Urbanisierung liegt. Dies führt dazu, dass Auswertungen von sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen fortwährend revisioniert werden müssen und langfristige Entwicklungen – auch in globaler Hinsicht – schwer abzuschätzen sind .
Wie verhält es sich nun, wenn der Islam auf die westliche Wertewelt trifft, wie es heutzutage alltäglich ist? Was die Immigrationsproblematik tatsächlich zum Vorschein bringt, sind nicht Differenzen wie Rasse und Vermögensstand, sondern vielmehr die verschiedener, scheinbar disparater Wertewelten, die miteinander in Konflikt stehen. Diese konfligierenden Perspektiven sind ein “gefundenes Fressen” für die rechten Parteien Europas, die ihre Impulse aus der kollektiven Verunsicherung beziehen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, verwunderlich bleibt jedoch, dass gerade die linken und Mitte-Parteien vergessen, was die Auslöser dieser kollektiven Verunsicherung sind: das Fehlen von authentischen Wertkategorien, die Europa seinen Bürgern anbietet, wie der Islam sie seinen Anhängern offeriert und sich daher erfolgreich vermarktet.
Österreich
So geschieht es auch in Österreich. Es kommt hinzu, dass die Problematik in Österreich einen speziellen Zündstoff in sich trägt, weil hier – vor allem bzw. zum größten Teil – das Wertethema von den rechten Parteien öffentlichkeitswirksam aufgegriffen und diskutiert wird. In der europäischen Wertedebatte machen sich einige Österreicher einen zweifelhaften Namen, so auch Elisabeth Sabaditsch-Wolff, unter anderem Seminarleiterin des Freiheitlichen Bildungsinstituts, die weniger mit Vorschlägen für eine innovative, europäische Werteindustrie, sondern vielmehr mit der radikalen Verurteilung und Misskreditierung islamischer Werte Aufmerksamkeit erregt. Statt dem Versuch, den islamischen Werten andere Werte entgegensetzen, die sich ihnen gegenüber auf dem globalen Markt bewähren, findet ein “negativer” Diskurs statt.
Jacques Delors, einer der Väter des heutigen Europas, hat konstatiert, dass es der EU gelingen muss, die Emotionen der Bürger anzusprechen, denn nur so könnten sie sich mit Europa und dessen Idealen identifizieren. Wenn wir über europäische Werte diskutieren, müssen wir auch über europäische Identität nachdenken und was Europa in der Welt des ausgehenden 21. Jahrhunderts repräsentieren kann und soll. Diese Aufgabe hat auch das EU-Mitglied Österreich. Es bleibt zu hoffen, dass sich Österreich wie auch die anderen europäischen Staaten dieser Herausforderung stellen werden und dies auf idealtypisch-europäische, also kritische und humanistische Weise, versuchen.
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