Ich gehöre gewiss nicht zu jenen, die den Gründervätern der (west-)europäischen Gemeinschaft, getrieben von viszeralem Antiamerikanismus, von vornherein fragwürdige Motive unterstellen. Seit fast einen halben Jahrhundert mehr oder weniger gleichzeitig in zwei Nachbarländern lebend, habe ich anfangs aus naheliegenden Gründen sogar die Einführung des Euro begrüßt. (Ich kann mich noch gut daran erinnern, als Journalist mitgefeiert zu haben, als Wim Duisenberg im Frankfurter BfG-Hochhaus auf provisorisch verlegten blauen Teppichen die ersten Euro-Banknoten vorstellte.) Der Franzose Jean Monnet, einer der Architekten des westlichen Nachkriegs-Europa, war kein Berufspolitiker, sondern ein Geschäftsmann, der zunächst mit Cognac handelte, was ihn in meinen Augen ohnehin sympathisch machte. International bekannter wurde Jean Monnet allerdings als Koordinator eines kriegswirtschaftlichen Beschaffungs-Kartells der Entente im Ersten Weltkrieg. Eine ähnliche Funktion übte er im Zweiten Weltkrieg für die Alliierten in den USA aus. Das hatte zwar wenig mit freier Marktwirtschaft zu tun, doch wie auf dem freien Markt kam es dabei darauf an, die wirtschaftlich effizientesten Problemlösungen zu finden. Was er dabei gelernt hatte, setzte Monnet nach dem Zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau der im Krieg weitgehend zerstörten europäischen Volkswirtschaften um.
Monnet wurde 1946 erster Chef des französischen Plan-Kommissariats. Er setzte dort ein umfassendes Modernisierungsprogramm der französischen Wirtschaft („Monnet-Plan“) ins Werk. Dieses beruhte auf einem starken Ausbau der französischen Stahl-Kapazität. Zusammen mit dem mit ihm befreundeten französischen Außenminister Robert Schumann gewann Monnet den deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) im Jahre 1952. Monnet war von 1952 bis 1955 deren Präsident. Doch die Verwaltungsarbeit lag ihm nicht. Deshalb gab er das Amt wieder auf, blieb aber bis 1975 politisch einflussreich und engagierte sich insbesondere für die friedliche Nutzung der Kernenergie. Schon drei Jahre später, im Juni 1955 stellten die Außenminister der sechs Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei einem wichtigen Treffen im sizilianischen Messina fest, dass Ludwig Erhards Vision vom „Wohlstand für alle“ eines großen Marktes für preiswerte Energie im Überfluss bedarf. Dabei gingen sie bereits davon aus, dass die friedliche Nutzung der Atomenergie (die damals in den offiziellen Dokumenten tatsächlich noch so hieß) bald die Kohle als wichtigste Energiequelle ablösen würde. Sie bereiteten damit den Weg für den Abschluss des Euratom-Vertrages im Jahre 1957. Euratom wurde im Jahre 1965 mit der Montanunion und den Kommissionen der EWG zur Europäischen Kommission fusioniert. Somit war die Bereitstellung preiswerter Energie, insbesondere in Form der Kernenergie als Bedingung für Wachstum und Wohlstand von Beginn an ein Grundanliegen der westeuropäischen Einigung. Die wichtigsten Impulse gingen dabei im Zeichen des Kalten Krieges mit dem kommunistisch beherrschten Osten eindeutig von der Politik, nicht von der Wirtschaft aus.
Doch seit der Jahrtausendwende gelten in der inzwischen zur politischen Union von 27 Staaten weiterentwickelten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für die Energiepolitik auf einmal ganz andere Regeln: Energie soll zu einem immer knapperen, wetterabhängigen und dementsprechend immer teureren Gut werden. Und das wird den staunenden Europäern auch noch als entscheidender Schritt auf dem Weg in eine leuchtende Zukunft verkauft. Begründet wird die Kehrtwende zur archaischen Energieversorgung durch Sonne und Wind mit der für die Rettung des Weltklimas angeblich notwendigen Dekarbonisierung. Das wäre nun eigentlich die Stunde der Kernenergie, die über den gesamten Lebenszyklus der Energiegewinnung mit weniger als 6 Gramm je Kilowattstunde am wenigsten Kohlenstoffdioxid erzeugt – zehnmal weniger als die Photovoltaik und etwa dreimal weniger als Windkraftwerke. Doch sowohl die EU-Kommission als auch das EU-Parlament haben sich bislang geweigert, die Kernkraft in die Liste (Taxonomie) als „grün“ deklarierter Energien aufzunehmen. Die vereinbarten „Klima-Ziele“ (55 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2030 und Kohlenstoff-Neutralität bis 2050) sollen nach Meinung der Ton angebenden Grünen ausschließlich durch den Einsatz so genannter regenerativer Energien erreicht werden. Und deren Bereitstellung ist so ineffizient und teuer, dass sie durch staatliche Vorschriften erzwungen werden muss. Allenfalls das im Vergleich zu Kohle und Kernenergie ebenfalls teure Erdgas, soll als „Übergangsenergie“ zeitweise geduldet werden.
Dabei decken die so genannten „Erneuerbaren“ (Wind und Solar) bislang in der EU gerade einmal zweieinhalb Prozent des Primärenergie-Bedarfs. Mit ihnen den Energiebedarf zu 100 Prozent decken zu wollen, kommt einem Selbstmordprogramm gleich, was ich im Untertitel der zweiten Auflage meines Buches „Öko-Nihilismus“ („Selbstmord in Grün“) bereits ausgedrückt habe. Was ich im Jahre 2012 geschrieben habe, hat leider nichts an Aktualität eingebüßt. (Lediglich über China würde ich heute etwas anders urteilen.) Kurz: „100 Prozent Erneuerbare“ ist eine Idee von Menschen, denen es zu gut geht. Die 1,2 Milliarden Menschen, die nach Angaben der Internationalen Energie-Agentur noch immer keinen Zugang zur Elektrizität haben, würden wohl nicht auf solche Ideen kommen. Die Grünen nähren sich vom enttäuschten Narzissmus bzw. vom Selbsthass einer in Zeiten des Nachkriegs-“Wirtschaftswunders“ herangewachsenen und daher verhätschelten Generation. Wer das Buch „Der Todestrieb in der Geschichte“ des russischen Top-Mathematikers Igor R. Schafarewitsch nicht gelesen hat, wird schlecht verstehen, was sich heute in Europa abspielt.
Heute wird klar, wie illusorisch es war, nach dem Ende des Kalten Krieges geopolitische Erwägungen in der Energiepolitik als überflüssig zu erachten. Denn Westeuropa und vor allem Deutschland sind in der Energiepolitik, wie der ehemalige EU-Spitzenbeamte für Energiefragen, der Top-Ingenieur Samuel Furfari (heute Professor an der Freien Universität Brüssel) in einem aktuellen Aufsatz im Fachmagazin „La Revue de l’Énergie“ (n° 654) demonstriert, durch ihre Kapitulation vor der weltfremden Heilslehre der Grünen zum Spielball fremder geopolitischer Interessen geworden. Obwohl es der damalige französische Staatspräsident François Mitterand im letzten Moment schaffte, in der EU durchzusetzen, dass die Wahl der Energiequellen der nationalen Souveränität unterworfen bleibt, konnte er dadurch den französischen Alleingang bei der militärischen und zivilen Nutzung der Kernenergie nur dem Schein nach retten. Die französische Nuklearwirtschaft ist wegen des „Fadenrisses“ infolge einer langen Pause bei der Errichtung neuer Kernkraftwerke heute kaum noch in der Lage, Großaufträge in eigener Regie abzuwickeln. Davon zeugt die unendliche Geschichte des Reaktors der 4. Generation von Druckwasserreaktoren (EPR) in Flamanville am Ärmelkanal und auf der finnischen Insel Olkiluoto. Das mindestens 23 Milliarden Pfund teure Prestigeprojekt von Électricité de France (EdF) im südwestenglischen Hinkley Point kann nur mithilfe des chinesischen Projektpartners China General Nuclear Power (CGN) realisiert werden.
Chinesische Ingenieure haben immerhin gezeigt, dass auch die 4. Generation von Druckwasserreaktoren, die wegen ihrer überdimensionierten Sicherheitsvorkehrungen bei den meisten Fachleuten als technische und wirtschaftliche Sackgasse gilt, realisierbar ist. Sie stellten den Reaktor „Hualong“ (Drache) des Kraftwerks Fuqing in nur fünf Jahren fertig. Dieser nahm Ende Januar 2021 seinen kommerziellen Betrieb auf. Am gleichen Standort wird im Laufe dieses Jahres ein weiterer Reaktor des Typs HPR-1000 seinen Betrieb aufnehmen. Furfari erwartet, dass das, was von der französischen Nuklearindustrie noch übrig ist, d.h. der Konzern Framatome, bald zum Subunternehmen der chinesischen CGN oder auch der russischen Rosatom werden wird.
Die staatliche Rosatom konstruiert zurzeit die meisten Kernkraftwerke weltweit und verfolgt dabei nach Ansicht von Furfari ein höchst effizientes Geschäftsmodell, das den Kunden so gut wie alle Risiken abnimmt: Rosatom liefert die Kraftwerke und deren Brennstoff und kümmert sich auch um die Wiederverwertung radioaktiver „Abfälle“. Alles bleibt Eigentum von Rosatom. Abzahlen müssen das die Kunden lediglich längerfristig mit einem Teil der Erlöse der mit den Rosatom-Kraftwerken erzeugten Elektrizität. So liegt das gute Funktionieren der Kraftwerke auch im ureigensten Interesse ihrer Konstrukteure. Die heute von Rosatom gebauten Reaktoren des Typs WWER haben mit dem 1986 bei einem waghalsigen Experiment explodierten Reaktor von Tschernobyl so gut wie nichts gemein und gelten sicherheitstechnisch als durchaus mit westlichen Standards vergleichbar. So konnten die Russen auch den ungarischen Staatschef Viktor Orbán überzeugen, das ältere Kernkraftwerk Paks um einen solchen Reaktor zu erweitern. Orbán konnte die damalige EU-Energiekommissarin im Jahre 2016 überzeugen, dass für diesen Erweiterungsbau keine internationale Ausschreibung erforderlich war.
Noch interessanter ist das Geschäftsmodell, das Rosatom mit dem Bau modularer und mobiler Klein-Kernkraftwerken verfolgt. Die Fahrt der in Sankt Petersburg gebauten Barke „Akademik Lomonosov“ mit zwei Kernreaktoren durch die Weltmeere zur sibirischen Halbinsel Kamtschatka ging durch die Weltpresse – allerdings überwiegend mit negativen Schlagzeilen. Sogar von einer „nuklearen Titanic“ oder „Tschernobyl auf Eis“ war dort die Rede. Das sind Parolen der teuflischen Firma Greenpeace. Das schwimmende Kraftwerk versorgt die schwer zugängliche Siedlung Pevek zuverlässig mit Strom. Rosatom bietet solche schwimmenden Kraftwerke heute weltweit zu den gleichen Konditionen an: Die Kraftwerke bleiben Eigentum ihres Konstrukteurs. Bezahlt wird der Service über die Strom-Erlöse. Da viele Millionenstädte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas an der Küste liegen, dürfte sich Rosatom über mangelnde Nachfrage nicht zu beklagen haben. Allerdings versucht die US-Regierung unter dem neuen alten Präsidenten Joe Biden mit allen Mitteln, Rosatoms Geschäftserfolg zu vereiteln.
Noch während der Amtszeit Donald Trumps haben sich die US-Republikaner und Demokraten auf eine Renaissance der Kernenergie in den USA geeinigt. Allerdings geht das wegen der in den USA noch längeren Pause bei der Konstruktion neuer Reaktoren nicht von heute auf morgen. Schon spielen die USA aber auf dem Feld der Nuklearenergie wieder eine aktive geopolitische Rolle. Offenbar um die dort bereits engagierten Chinesen aus dem Geschäft zu drängen, schlossen die USA im vergangenen Jahr einen Vertrag mit Rumänien über den Bau eines Natururan-Reaktors des kanadischen Typs CANDU in Cernavodã. Davon abgesehen, konzentrieren sich US-amerikanische National-Laboratorien, Technische Universitäten und Ingenieur-Firmen auf die Entwicklung von Small Modular Reactors (SMR), die in Fabriken in Serie gebaut, mit Barken, Zügen oder LKWs an den Ort ihres Bedarfs transportiert und dort eventuell aus Gründen der Sicherheit vergraben werden können. Was mir besonders interessant erscheint: Die Verbreitung von SMR würde es endlich erlauben, die Nuklearenergie marktwirtschaftstauglich zu machen.
Bei diesem von prominenten Geschäftsleuten und Physikern wie dem Multimilliardär Bill Gates, dem Physik-Nobelpreisträger (und Energieminister unter Barrack Obama) Steven Chu und dem MIT-Professor Ernest Moniz angeheizten Wettlauf um einsatzfähige und preisgünstige SMR spielt Westeuropa nur die Rolle eines Zuschauers. Und das, obwohl die zivile Nutzung der Kernenergie in Frankreich 1948 in Fontenay-aux-Roses südöstlich von Paris mit der Inbetriebnahme eines vom Kommunisten Frédéric Joliot-Curie und dem kanadischen Kernphysiker Lew Kowarski konzipierten experimentellen Klein-Reaktors mit schwerem Wasser als Moderator und einem Graphit-Mantel begann, der gar nicht Reaktor, sondern „Pile“ (Batterie) hieß, nämlich „Pile Zoé“. Später hat sich Frankreich nicht zuletzt aus militärischen Gründen ganz auf den Bau großer Kernkraftwerke spezialisiert und sich zuletzt beim Bau der aufwändigen 4. Generation von Druckwasserreaktoren offenbar übernommen. Zurzeit gibt es keine nennenswerten europäischen Initiativen in Richtung SMR. Stattdessen verspricht sich die EU-Kommission viel von einer „Wasserstoff-Strategie“, die sich, so Samuel Furfari, als Neuauflage illusorischer Initiativen von vor hundert Jahren erweisen wird, sofern sie nicht auf der Kernenergie basiert.
Erst seit kurzem erinnern sich manche Politiker daran, dass die Förderung der zivilen Nutzung der Kernenergie einmal an der Wiege der westeuropäischen Einigung stand. Denn die Gemeinsame Forschungsstelle JRC = Joint Research Institut) der EU-Kommission, ein Überbleibsel des Euratom-Vertrags von 1957, meldete sich mit einem 2020 in Auftrag gegebenen Gutachten über die Einordnung der Kernenergie in die EU-Taxonomie zu Wort. Diese Taxonomie, eine Art Ampel soll ab 2022 anzeigen, welche Investitionen in der EU des „Green Deal“ als „grün“ akzeptiert werden können. Es gebe „keine wissenschaftlich fundierten Belege dafür, dass die Atomenergie die menschliche Gesundheit oder die Umwelt stärker schädigt als andere Technologien zur Elektrizitätsgewinnung“, steht ganz nüchtern im JRC-Gutachten zu lesen. Das war für Sylvia Kotting-Uhl, die atompolitische Sprecherin der Grünen im Deutschen Bundestag, schon zu viel. Sie forderte die Bundesregierung auf, eine Gegen-Expertise in Auftrag zu geben. (In anderen Ländern zeichnet sich dagegen eher eine Spaltung der Grünen über die Einschätzung der Kernenergie ab.)
Die Staatschefs von Tschechien, Frankreich, Ungarn, Polen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien nahmen das zum Anlass, die aktuelle Präsidentin der EU-Kommission, ihren Stellvertreter sowie die Kommissare für Finanzen und Energie in einem gemeinsamen offenen Brief an die Ziele des Euratom-Vertrages zu erinnern. Die Kernenergie dürfe nicht aus der Energie- und Klimapolitik der EU verbannt werden, fordern sie. Ohne die Kernenergie seien die „Klimaziele“ der EU nicht erreichbar. Überdies schaffe die Kernenergie-Industrie zahlreiche hoch qualifizierte und längerfristig sichere Arbeitsplätze und biete in Form von Hochtemperatur-Reaktoren die Möglichkeit, auf wirtschaftlich und ökologisch vertretbare Weise Wasserstoff zu erzeugen. Man kann nur hoffen, dass diese Mahnung nicht zu spät kommt.
Anhang
In den Diskussionsbeiträgen zu meinem kürzlich hier veröffentlichten Beitrag über Emmanuel Macrons Klimagesetz wurde die Angabe, dass moderne Kernkraftwerke, gerechnet über ihren gesamten Lebenszyklus (einschließlich der Urananreicherung) nur etwa 6 Gramm CO2 je Kilowattstunde freisetzen, angezweifelt. Diese aufgerundete Zahlenangabe (genau 5,29 g CO2/kWh) stammt aus einer Publikation des französischen Kommissariats für die Atomenergie (CEA) von 2014. Im gleichen Jahr veröffentlichte die französische Energiewende-Agentur ADEME eine mehr als zehnmal so hohe Zahl, nämlich 66 g CO2/kWh. Offenbar addierte ADEME dabei alle bislang für kommerzielle wie für experimentelle Kernkraftwerke verfügbaren CO2-Bilanzen, die von 1,4 bis 288 g CO2/kWh reichen, und bildete daraus den arithmetischen Mittelwert. Wer auch nur ein wenig Ahnung von Statistik hat, weiß dass eine Mittelwertangabe bei einer so großen Varianz unsinnig ist. Die Zahlengabe des CEA trägt im Unterschied zur Zahl der ADEME der Tatsache Rechnung, dass die Urananreicherung heute fast ausschließlich mithilfe von Ultrazentrifugen erfolgt. Deren Strombedarf ist fünfzigmal geringer als der Bedarf des früher gebräuchlichen Diffusionsverfahrens. Die Anlage EURODIF bei Pierrelatte im Rhônetal ging im Jahre 2012 außer Betrieb. Sie fraß so viel Strom, dass man drei Kernreaktoren brauchte, um sie zu versorgen. Diese Reaktoren stehen heute für die Elektrizitätsversorgung Südfrankreichs zur Verfügung.