Europa am Abgrund? – Minderheiten im europäischen Integrationsprozess

Der europäische Integrationsprozess steht immer wieder zur Disposition. Die Währungsunion, die Brüsseler Auflagen, mit denen man sich regelmäßig konfrontiert sieht, der Stabilitätspakt, die Finanzkrise in Portugal und nicht zuletzt die Finanz- und Staatskrise in Griechenland – um lediglich einige Gegebenheiten aufzuzählen – erweisen sich als Katalysator zentrifugaler Kräfte, die den europäischen Staatenverbund immer wieder in Frage stellen. Gerade stellte Dänemark die Grundfeste Europas mit seinen Ambitionen, die Grenzkontrollen wieder aufzunehmen, zur Disposition. Demgegenüber stehen fortdauernde Globalisierungs-, Modernisierungs- und entsprechende Vernetzungsprozesse, welche die Entgrenzung und den europäischen Integrationsprozess weiter antreiben.
Analog zu diesen Entgrenzungsprozessen erleben viele europäische Minderheiten eine regelrechte Renaissance und erfreuen sich eines regen Interessenzulaufs. Diese scheinbar gegenläufige Entwicklung wird begünstigt durch sich verändernde Rahmenbedingungen. Ehemalige Identitätsstifter sind einem gefühlten Reduktionismus unterworfen und ein kollektiv empfundener Homogenisierungsdruck sowie allgemeine Verunsicherungen, hervorgerufen durch Entwicklungen und Vernetzungen im europäischen System, entstehen und führen zu Anpassungs-, Eingrenzungs- und/oder Ausgrenzungsprozessen. Viele Minderheiten versuchen an dem System eines „Europas der Regionen“ zu partizipieren.
Diesem Spannungsverhältnis zwischen europäischem Integrationsprozess und den sich dadurch verändernden Rahmenbedingungen in Form von Homogenisierungs- und Modernisierungsprozessen auf der einen sowie der Bewahrung traditioneller Identitätsmuster auf der anderen Seite widmet sich ein vom Stephansstift Zentrum für Erwachsenenbildung initiiertes EU-Projekt, finanziert von der Deutschen Agentur für das EU-Programm Jugend in Aktion. Fragen nach einer europäischen Identität und der künftigen Minderheitenrolle im europäischen Integrationsprozess stehen im Fokus dieses Projektes.
Minderheiten sind häufig regional verankert, wie beispielsweise die Basken oder Korsen. In wieweit die subnationale Einheit, also die Region, Handlungsraum und -einheit ist, hängt von der Form ihrer politischen, kulturellen und ökonomischen Abgrenzung und ihrer Kompetenzen ab.[1] Da Minderheiten von einer Majorität umgeben und nicht völlig autonom sind, bedeutet dies für das Minderheitenidentitätskonzept, dass dieses durch eine kollektive nationale und supranationale Identität überlagert ist. So begrenzt die nationale Identität die Minderheitenidentität von „oben“ nach oben. Schmitt-Egner spricht in diesem Zusammenhang von einer vertikalen Begrenzung im Hinblick auf regionale Identitäten.[2]
Sind die unterschiedlichen regionalen, nationalen und supranationalen Identitäten miteinander kompatibel, wird die vertikale Kooperation zwischen Minderheit bzw. Region, Nationalstaat und supranationaler Einheit begünstigt. Ist die Minderheitenidentität mit der nationalen und supranationalen Identität nicht kompatibel, führt dies zu Konflikten. Inkompatibilität kann beispielsweise hervorgerufen werden, wenn die Kompetenzen der Minderheit bzw. Region durch Nationalstaat oder Europäische Union zu sehr beschnitten werden. Die Folge wäre ein Minderheiten- bzw. Regionalkonflikt. [3]
Durch den europäischen Integrationsprozess werden einerseits regionale Geltungsräume begrenzt und andererseits Möglichkeiten bereitgestellt, diese zu erweitern. Agenturen der Ent- und Begrenzung verlaufen parallel zueinander. Dabei stellt die Entgrenzung eine größere Herausforderung für Minderheitenidentitäten und regionale Identitäten dar als die Begrenzung. Die systematische Modernisierung hat eine Standardisierung von Lebenswelten zur Folge. So wirken Kommunikationsmittel und weltweite Mobilität direkt auf die individuelle und regionale Lebenswelt ein. Allerdings lassen sich ein Individuum und eine Region nicht beliebig „ent-räumlichen“.
Der Angleichungsdruck scheint Auswirkungen auf Differenzierungsprozesse zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ zu haben. Die weltweite Mobilität führt zu einer Vereinheitlichung und Standardisierung, wodurch die Differenzierung zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ unscharf wird. Nach Schmitt-Egner gibt es als regionale Reaktionsschemata zu Entgrenzungs- und Begrenzungsprozessen Eingrenzung, Anpassung oder Ausgrenzung.[4] Die horizontale Entgrenzung geht einher mit dem Verlust der Minderheitenidentität und der regionalen Identität und bedeutet die Anpassung an ökonomische sowie kulturelle Standards des Modernisierungs- und Globalisierungsprozesses. Die vertikale Entgrenzung löst Grenzen der Teileinheit (Region/Minderheit) zugunsten der supranationalen Einheit (Europäische Union) auf.
Bleibt eine Reaktion der Minderheit auf Be- und Entgrenzungsprozesse aus, wird die Minorität zum Objekt und ihrer Minderheitenidentität wird die Grundlage entzogen. Die Ausgrenzung als Reaktionsschema beinhaltet eine Ausgrenzung von Fremdem, um das Eigene zu bewahren. Diese Reaktion entspricht dem des Traditionalisten. Die Anpassung als passive Reaktion führt zu einer Assimilation und wird von Modernisierern bevorzugt. Die Eingrenzung des Fremden durch das Eigene führt dazu, dass das Fremde als Lernfeld des Eigenen verstanden und dem Fremden das Eigene als Lernfeld anvertraut wird. Anders als die passive Reaktion sind Aus- und Eingrenzung zwei gegensätzliche Antworten auf Be- und Entgrenzungsprozesse. Ausgrenzung zielt auf eine Erhaltung und Entgrenzung auf eine aktive Entwicklung regionaler Identitäten bzw. von Minderheitenidentitäten ab.[5]
Ziel des europäischen Integrationsprozesses muss es sein, die Kompatibilität von Minderheitenidentitäten und regionalen Identitäten im Kontext eines Europas der Regionen und Minderheiten auf vertikaler Ebene zu fördern. Nur innerhalb eines kollektiv anerkannten transparenten europäischen Mehrebenensystems, das die Partizipation seiner Bürger ermöglicht und fördert, kann eine europäische Identität als Teil der individuellen, parallel zu einer Minderheitenidentität, regionalen und nationalen Identität gebildet werden.

[1] Schmitt-Egner, Peter (2005: 115) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
[2] Schmitt-Egner, Peter (2005: 115, 116) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
[3] Vgl. Schmitt-Egner, Peter (2005: 115, 116) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
[4] Schmitt-Egner, Peter (2005: 119) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
[5] Vgl. Schmitt-Egner, Peter (2005: 116-120) Handbuch zur Europäischen Regionalismusforschung: theoretische Grundlagen, empirische Erscheinungsformen und strategische Optionen des transnationalen Regionalismus im 21. Jahrhundert. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

Über Legrand Philipp 20 Artikel
"Philipp Legrand, geboren 1981, studierte Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie und Betriebswirtschaftslehre an der Leibniz Universität Hannover. Seit 2008 ist er in der Erwachsenenbildung im Bereich der Seminar- und Projektarbeit tätig."

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