Es war einmal…

…so beginnen viele Märchen aus einem Buch, das vor 200 Jahren, am 20. Dezember 1812, erstmalig erschien: die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Es ist das bekannteste und weltweit am meisten verbreitete Buch der deutschen Kulturgeschichte und die fünf erhaltenen persönlichen Handexemplare der beiden Grimms erklärte die UNESCO sogar zum „Weltdokumentenerbe“. Die legendären Märchen wurden allerdings seit ihrem Erscheinen immer wieder umgeschrieben und dabei deutlich entschärft. So wird in den heutigen Fassungen zum Beispiel verschwiegen, dass die langhaarige Schönheit Rapunzel nicht nur auf atemberaubende Weise heimlich besucht, sondern dabei auch geschwängert wurde und Aschenputtels Tauben den bösen Schwestern die Augen auspickten. Schneewittchen wiederum rächte sich an der bösen Stiefmutter, indem sie sie auf der Hochzeit in glühenden Schuhen zu Tode tanzen ließ und der Wolf tötete zuerst die Oma, portionierte ihr Fleisch und servierte das leckere Mahl Rotkäppchen zum Dinner.
Dies hat wohl die fantasieaffine Karen Duve, die bereits in einigen ihrer vorangegangenen Bücher („Regenroman“, „Die entführte Prinzessin“) märchenhafte Einflüsse einsetzte, bewogen, fünf dieser voller Geheimnisse steckenden Geschichten der beiden unzertrennlichen Brüder, die auch Sprachwissenschaftler und die eigentlichen Begründer der Germanistik waren – sie sammelten Wörter und arbeiteten am „Deutschen Wörterbuch“ – zu adaptieren und zu modernisieren. Und wie man es von der Autorin gewohnt ist, die 13 Jahre lang Taxi in Hamburg fuhr und heute mit Pferd, Esel, zwei Katzen und diversen Hühnern auf dem Lande in der Märkischen Schweiz lebt, geht es dabei keineswegs zartbesaitet und beschaulich zu. Duves „liebliche“ Märchenfiguren mutieren ganz schnell zu Aussteigern, die von wilden Gelüsten getrieben sind und extreme familiäre Abneigungen besitzen. Sie offenbaren Bindungsängste, bizarre Liebesvorstellungen, Vaterkomplexe, Selbstzweifel, Trotzreaktionen und Minderwertigkeitsgefühle. Dazu würzt die Autorin ihre Neuauflage mit einer gehörigen Prise bissigem, knochentrockenem Humor.
„Es war mal wieder stockfinster…“
So beginnen Duves Märchen. Schneewittchen bringt bei ihr einen der sieben Zwerge ganz gehörig in erotische Wallungen. Dornröschens Prinz wiederum lässt sich von den besten Ärzten lebensverlängernde Diäten zusammenstellen, damit er – zwar mit Bandscheibenvorfall und all den anderen Miseren des Alters – geduldig 100 Jahre darauf warten kann, seine in den „Zustand konservierender Leblosigkeit“ versunkene Angebetete wach küssen zu können, letztendlich aber doch nur eiskalt abserviert wird. Rotkäppchens Großmutter wiederum mutiert höchstpersönlich zum Werwolf, ihre Mutter saß schon mal im Gefängnis und sie selbst fungiert als Fußabtreter ihrer Familie. Ganz zu schweigen von ihrer Heimat, ein hinterwäldlerischer, heruntergekommener Ort, an dem diverse EU-Gelder nie angekommen sind. Der Vater des Mädchens mit der goldenen Kugel wiederum ist dem mafiösen Verbrechermilieu entschlüpft. Da bleibt es dann auch kaum verwunderlich, dass sich der Froschkönig in einen Polizisten verwandelt.
Karen Duve unterzieht alles einem Realitätscheck und versieht ihre Figuren mit all den Gefühlen, Leidenschaften, Ängsten und Komplexen, die auch uns Normalsterbliche plagen. Ihre „Happy Ends“ halten meist nicht lange und gipfeln rigoros in eine unvermeidliche Scheidung. Manchmal allerdings leben sie doch noch „vergnügt bis an ihr Ende, wurden zusammen älter, bekamen zusammen Pergamenthaut und Putenhälse und hatten sich immer gern.“
Fazit: Schneewittchen lebt! Restauriert und aufpoliert, adaptiert und neu interpretiert – Karen Duve hat Grimms Märchen einen ganz eigenen Duve-Sound verpasst, die von ihrer unverwechselbaren Sprache leben. Zuweilen richtig böse, unbarmherzig und morbide sind die Geschichten keineswegs für Kinder geeignet, für Erwachsene hingegen wird eine unbedingte Empfehlung ausgesprochen, zumal das in Halbleinen gebundene, schmale Buch auch optisch besticht. Ein schönes Geschenk zum Grimm-Jubiläum, eine bissige, aber respektvolle Hommage, die stets die Würde des Originals wahrt.

Karen Duve
Grrrimm
Galiani Verlag, Berlin (Oktober 2012)
152 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3869710640
ISBN-13: 978-3869710648
Preis: 19,99 EURO

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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