Es lebe die Republik

Deutschland – wohin gehst du?“ Das ist eine Frage an eine Person. Aber die Deutschen denken nicht mehr an ihr Land in dieser Weise. Anders als General de Gaulle, der am Anfang seiner Erinnerungen schrieb, er habe sich Frankreich immer als Prinzessin vorgestellt. Er dachte also an sein Land wie an eine Frau, und in diesem Gedanken spielte demnach auch eine erotische Komponente eine Rolle. Wie im Märchen sah er Frankreich als Königstochter vor sich, die er sich zu Herzen nahm und der zu dienen er fest entschlossen war.
Man wird kaum in Deutschland jemanden finden, der sich die Frage nach Deutschlands Zukunft in dieser Form stellt. Niemand denkt an Deutschland als Person. Das liegt daran, daß den Deutschen Deutschland verlorengegangen ist. Deutschland als Person, Deutschland als eine gemeinsame Vorstellung, der alle zu dienen, nachzueifern haben, für die zu arbeiten, deren Zukunft zu sichern es sich lohnt, gibt es nicht mehr. Deutschland in diesem Sinne ist sehr weit weg von uns.
Woran liegt das? Ich glaube, dieser Verlust liegt in erster Linie daran, daß wir in der zweiten Nachkriegsphase, nicht in der ersten, also von der Mitte, dem Ende der sechziger Jahre an, unsere Vergangenheit der NS-Zeit mit einer Gründlichkeit unter die Lupe genommen haben, die sicher notwendig, auch wichtig war, aber dann übertrieben wurde und uns nicht gut bekommen ist. Man kann diesen Selbstzweifel deutlich ablesen am Aufkommen und der Verwendung des abscheulichen Wortes: „Tätervolk“. Dieser Begriff ist eine Ungeheuerlichkeit. Denn er suggeriert nicht nur, daß viele Deutsche in einer bestimmen Phase ihrer Geschichte mehr oder weniger wissend oder unwissend, helfend oder passiv, dazu beigetragen haben, fürchterliche Verbrechen an den Juden und anderen Menschen, vor allem in Osteuropa zu begehen. Die Bezeichnung „Tätervolk“ signalisiert vielmehr, daß Verbrechen strukturell in den Deutschen angelegt seien. Man tut so, als neigten die Deutschen, sobald sie dazu Gelegenheit haben, zu derartigen Exzessen. Jeder, der den deutschen Namen trage und in Zukunft tragen werde, sei diesem Generalverdacht ausgesetzt. Dieser Vorwurf ist den Deutschen so unter die Haut, derart an die Nieren gegangen, daß sie ihr kollektives Selbstvertrauen und damit auch ihre Zuversicht, die eigene Zukunft und die des Kontinents gestalten zu dürfen, verloren haben. In meinen Augen ist tiefsitzender Selbstzweifel ein wesentlicher Grund für die Stagnation im Lande. Er erklärt meines Erachtens großenteils, warum das Land so maulig, unfroh und lustlos mit sich selbst und seinen Problemen umgeht.
Woran erkennt man das? Sie werden zum Beispiel bei uns selten eine öffentliche Veranstaltung finden, bei der alle mitsingen, selbst bei der Nationalhymne nicht. Musik spielt in unserer politischen Selbstwahrnehmung keine zentrale Rolle. Dabei wissen wir doch alle, wie wichtig Lieder nicht nur für die eigene Stimmung sind, für die positive Kraft, die von ihnen ausgeht, sondern welch große Rolle Lieder auch für die Bestätigung der kollektiven Identität spielen. Wenn man irgendwo im In- oder Ausland auftreten soll, wenn verschiedene Völker zusammenkommen und jede Nation aufgefordert wird, ein Lied zu singen, dann haben Deutsche, vor allem junge Menschen, Schüler und Studenten, die größten Schwierigkeiten, irgendeinen Text zu finden, der gemeinsamer Besitz ist.
Ich bin vor einer Weile mit einer Studentengruppe im Gebirge gewesen. Wie Sie wissen, regnet man im Gebirge gelegentlich anhaltend ein und langweilt sich. Da kam mir der Gedanke, die Studenten zu fragen, wann sie denn in letzter Zeit gerne Deutsche gewesen seien. Ich habe mich stundenlang für diese Frage rechtfertigen müssen – wie ich sagte: Es regnete und regnete, und es gab daher keinen Grund, das Gespräch zu unterbrechen. Einer der Studenten sagte: „Ich habe eine italienische Freundin. Gehört das zu Ihrem Thema? Wollen Sie mir Laura übelnehmen?“ Ich sagte: „Nein, natürlich nicht. Aber wenn Sie dieser italienischen Freundin ein Gedicht von Eichendorff vorgelesen hätten, das Ihnen wichtig ist, würde das zum Thema gehören.“ Ein anderer meinte: „Ich wandere gern in den Pyrenäen, nicht in den deutschen Bergen, den Bayerischen Alpen. Ist das in Ihrem Sinne unzulässig?“ Ich antwortete: „Nein. Sie können wandern, wo Sie wollen. Aber wenn Sie irgendwo in Deutschland eine besonders schöne Ecke gesehen hätten oder wenn Sie, ein anderes Beispiel, ein deutsches Musikstück tief im Herzen berührt hätte, würde das zum Thema gehören.“
Ich habe den Eindruck, daß positive Gefühle gegenüber unserem Lande auch noch in den jetzt heranwachsenden Generationen weithin tabuisiert sind. Mir scheinen viele Deutsche untergründig emotional gestört. Wir haben nicht nur Schwierigkeiten, weil das Land mehr und mehr überaltert und die Jungen sich von vornherein als Minderheit empfinden, sondern auch, weil bis in die jetzige Jugend hinein der Eindruck vorherrscht, eine positive Bejahung Deutschlands sei eigentlich unzulässig.
Woher kommt das? Ich habe eben schon angedeutet, daß diese negative Grundeinstellung aus den späten sechziger Jahren stammt. Es gab damals durchaus begründeten Anlaß, die älteren Generationen zu befragen. Nach Meinung der Heranwachsenden mußte aufgeklärt werden, inwieweit die Eltern daran beteiligt, dafür verantwortlich waren, was das Dritte Reich angerichtet hatte. Die Generation der Eltern war wortkarg, sie schwieg über ihre Beteiligung, weil sie selbst nicht recht begriff, inwieweit genau sie Schuld auf sich geladen hatte. Eltern hatten Schwierigkeiten, die eigene Verantwortung zu thematisieren. Sie fanden es schwierig, vor den eigenen Kindern, erst recht vor Fremden das eigene Verhalten während jener zwölf Jahre zu rechtfertigen.
Aber die dauerhafte Verwerfung der Eltern, die in den späten sechziger Jahren um sich griff, hatte eine fatale Folge. Es ist verständlich, wenn in der Pubertät Heranwachsende sich auf dem Weg ins eigene Leben zeitweilig von ihren Eltern abgrenzen. Aber wenn sich diese Ablehnung dauerhaft verfestigt, schneidet man sich zugleich die eigenen Wurzeln ab. Sobald man nicht mehr hinter sich die Generationen kennt und fühlt, die vor uns waren, die Eltern, Großeltern und Vorfahren, dann verliert man die Orientierung, den Halt, den sicheren Boden. Man verarmt nicht nur privat. Auch als Kollektiv verlor damals Deutschland die Kräfte, die aus früheren Generationen unseres Landes in uns als Beispiel und Vorbild weiter wirken können und sollten.
Die Deutschen haben seit den späten sechziger Jahren ihre Vergangenheit verloren. Wenn ich einen Vortrag ankündige: „Lehren der deutschen Geschichte“, muß ich damit rechnen, daß fast alle Anwesenden Erwägungen über die Jahre 1933/45 erwarten. Unsere Geschichte ist im Bewußtsein der Zeitgenossen auf den Nationalsozialismus geschrumpft. Man muß heute feststellen, daß alle anderen historischen Assoziationen wegen der allgemeinen Unkenntnis ins Leere gehen.
Ich möchte keinen Augenblick Gefahr laufen, das Desaster jener zwölf Jahre und die moralische Diskreditierung, die mit uns sein wird, in Vergessenheit geraten zu lassen. Aber daß die Hitlerphase so ausschließlich das Bild Deutschlands bestimmt, ist meiner Ansicht nach falsch. Man muß mit Untaten der Vergangenheit leben lernen. Man muß sie ohne Beschönigung, aber mit Augenmaß einordnen in die Zeiten davor und danach. Das nimmt dem Nationalsozialismus nichts von seinen Schrecken. Er war die größte Katastrophe unserer langen Geschichte. Aber er ist nicht unsere ganze Geschichte, kann nicht allein unsere Selbstdeutung abgeben. Seltsamerweise ist ja in Deutschland nicht nur die Zeit vor 1933 weithin nicht mehr präsent, sondern auch die Jahrzehnte nach 1945. Wenn man heute über die Ära Adenauer redet und beispielsweise versucht, eine Figur wie Kurt Schumacher verständlich zu machen, stellt man immer wieder fest, daß auch diese nur wenige Jahrzehnte zurückliegenden Zeiten in Vergessenheit geraten sind.
Überall schwindet die Kraft der Erinnerung, aber nirgendwo so stark wie in unserem Lande. Das macht mich skeptisch. Nur eine Nation, in der die Bürger und besonders die Eliten die gemeinsame Geschichte kennen und ihr auch gute Seiten abgewinnen, kann nach meiner Ansicht die Kräfte entwickeln, mit denen sich Zukunft positiv gestalten läßt. Das heißt natürlich nicht, daß die Deutschen in unserem föderalen Staat alle das gleiche Geschichtsbild haben müssen. Ich halte ein einheitliches nationales Geschichtsbewußtsein nicht für möglich, vielleicht nicht einmal für wünschenswert. Unsere Verankerung in der Vergangenheit wird regional unterschiedlich sein. Den Bayern liegen andere Vorgänge am Herzen als Menschen in Schleswig-Holstein. Und man hat am Rhein andere historische Erfahrungen gemacht als in Brandenburg oder Sachsen. Goethe hat angesichts der Griechenverehrung in der Klassik seinen Landsleuten zugerufen: „Jeder sei ein Grieche auf seine Weise, aber er sei's!“ Das gilt auch für die Deutschen heute: Jeder sei ein Deutscher auf seine Weise. Er bringe sich, seiner Umgebung, seinen Kindern und Enkeln Orte und Texte aus der lokalen, regionalen, nationalen Geschichte nahe, die ihm besonders wichtig scheinen. Nur wenn sie ihm spürbar am Herzen liegen, wird er auch imstande sein, seinen Enthusiasmus Jüngeren zu vermitteln.
Wir sind heute himmelweit von einer solchen Einstellung entfernt. Man kann unser geschrumpftes deutsches Selbstgefühl deutlich ablesen an der Diskussion, die wir vor einiger Zeit über den Begriff der „Leitkultur“ hatten. Der Begriff war Friedrich Merz eher zufällig aus der Tasche gefallen, hatte dann aber eine erhebliche Debatte ausgelöst, ob es so etwas wie gemeinsame Leitvorstellungen für die Deutschen und dann auch für die Zuwanderer gäbe. Diese Frage ist dringlich, sehr berechtigt. Wir können, ja müssen von uns selbst erwarten, daß wir grundlegende politische, rechtliche, historische, kulturelle Erfahrungen uns gemeinsam zu eigen machen. Wir müssen den Zuwanderern vermitteln, daß auch sie sich in gleicher Weise hier bei uns verwurzeln müssen. Solange wir allerdings erkennen lassen, daß wir uns selbst für minderwertig halten, wird die Verlockung gering sein, wirklich Deutscher zu werden.
Wie aber soll es zu einer vernünftigen Integrationspolitik kommen, wenn wir nicht wissen, wer wir sind und was uns wichtig ist? Ausländer, die auf Dauer zu uns kommen und hier bleiben wollen, müssen wissen, worauf sie sich einlassen. Was heißt Integration? Eigentlich, daß die Zuwanderer im Laufe von zwei, vielleicht drei Generationen so deutsch werden wie die, die immer Deutsche gewesen sind. Dieses Ziel wagt niemand zu benennen. Aber wenn man weiß, daß die Deutschen ein erhebliches demographisches Problem haben, dann ist offensichtlich, welche entscheidende Bedeutung einer gelungenen, vollen Integration zukommt.
Im vergangenen Jahr habe ich zeitweilig allen Menschen, die ich traf, immer die gleiche Frage gestellt: „Wie stellen Sie sich Deutschland in 100 Jahren vor?“ Verblüffenderweise war die Antwort immer oder fast immer: „Dann gibt es uns gar nicht mehr!“ Das fand ich seltsam – und sehr aufschlußreich. Es gab unter den Antwortenden im wesentlichen zwei Gruppen, die sehr unterschiedlich argumentierten. Die Optimisten waren der Meinung, Deutschland werde in Europa aufgehen. Am Beginn des 22. Jahrhunderts werde man den Unterschied zwischen Franzosen, Italienern und Deutschen so gering empfinden wie heute den zwischen Friesen, Sachsen und Bayern. Ich glaube das übrigens nicht. Ich denke, daß die Nationen in ihrer kulturellen und geschichtlichen Prägung sehr unterschiedlich bleiben werden. Im deutschen Verhältnis zu Polen läßt sich ahnen, wie die massenhaften beiderseitigen Untaten im und nach dem Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich Jahrhunderte brauchen werden, bis alle Wunden verheilt sind und das Verhältnis wirklich zur Ruhe kommen kann.
Die zweite Gruppe der von mir Befragten waren Pessimisten. Sie waren überzeugt, daß die Deutschen in einer ungeregelten Zuwanderung in die Minderheit geraten, in einer zunehmend fremdbestimmten, nicht integrierten, nicht eingedeutschten Umgebung verblassen werden. Das macht Angst.
Die Politiker aller Parteien in Deutschland sind groß geworden in Zeiten wachsenden, für dauerhaft gehaltenen Wohlstands – zunächst realen, dann eingebildeten Wohlstands. Sie sind Verteilungspolitiker, haben jahrzehntelang durch wachsende Versprechungen die Zustimmung der Bürger zur Demokratie erkauft. Heute haben wir eine umgekehrte Situation. Jetzt müssen wir Zumutungen statt Zuteilungen unter die Leute bringen. Das setzt eine andere politische Sprache voraus. Man muß Zuversicht verbreiten, indem man sich historisch erinnert, frühere Krisen benennt und darauf hinweist, wie diese damaligen, teilweise großen Krisen erfolgreich gemeistert worden sind. Wenn das die Deutschen damals geschafft haben, dürfen sie heute zuversichtlich sein, die Probleme auch diesmal erfolgreich zu lösen.
Nehmen wir das Bild, mit dem ich begonnen habe. Stellen wir uns Deutschland als eine Person vor, die in großen Schwierigkeiten steckt und unser aller Hilfe und Beistand braucht, um ihr Schicksal zu wenden. Nur wenn wir Deutschland als die gemeinsame Verantwortung aller begreifen, wird sich die Zukunft des Landes sichern lassen. Ich bin überzeugt, daß Deutschland seine Würde und Selbstachtung zurückgewinnen muß – ohne je die Untaten der jüngeren Vergangenheit zu bagatellisieren oder gar zu vergessen.
Wahrscheinlich sind wir während langer Phasen der deutschen Geschichte das wichtigste Volk unseres Kontinents gewesen. Wir werden auch weiterhin für den Fortgang der europäischen Einigung entscheidend bleiben. Vor 100 Jahren haben wir uns unbeliebt gemacht mit unserer Kraftmeierei. Heute ist es unsere Schwäche, die Europa bedroht. Dafür werden wir keinen Dank ernten.
Ich möchte mit einem emotionalen Appell schließen: Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!

©-Vermerk: Die Welt

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Über Baring Arnulf 3 Artikel
Prof. Dr. Arnulf Baring, geboren 1932, ist ein deutscher Jurist, Journalist, Politikwissenschaftler. Von 1969–1976 war er ordentlicher Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut und am John-F.-Kennedy-Institut, von 1976–1998 ordentlicher Professor für Zeitgeschichte und internationale Beziehungen am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin.

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