Sehen Sie einen Trend zum Nichtwissen? Tritt das Allgemeinwissen in den Hintergrund?
Man kann auf der einen Seite feststellen, dass das Wissen explodiert und auf der anderen Seite die sogenannte Allgemeinbildung zurückgeht. Das liegt aber nicht am mangelnden intellektuellen Potenzial der neuen Generationen, sondern daran, dass wir ihnen als Gesellschaft einen Rahmen bieten, der nicht mehr dazu motiviert, sich mit Anstrengungsbereitschaft mit bestimmten Problemen auseinanderzusetzen und auch die Herausforderung zu suchen. Wir leben in einem Wohlfühlsystem, in dem man sich bemüht, es den Kindern und Jugendlichen so bequem und schön wie möglich zu machen. Damit nimmt man ihnen aber die Motivation, sich auch mit schwierigen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Sie bemerken nicht, dass sie zur Lösung bestimmter Fragen tatsächlich Wissen benötigen und sich dieses aneignen müssen. Natürlich tragen wir als Gesellschaft ein hohes Maß an Verantwortung. Es kann aber nicht sein, dass man Kinder vor das Tablet setzt und ihnen eine Welt organisiert, die sie weder physisch noch intellektuell herausfordert.
Was könnte Bildung 4.0 für die junge Generation von Schülern bedeuten?
Wichtig ist, dass wir unsere Schüler und kommenden Studenten dahingehend unterrichten, dass sie durch die virtuelle Welt nicht zu internetsüchtigen Spielern werden. Wir müssen sie vielmehr zu einem realen Leben und Erleben ermutigen. Denn nur so erhalten sie ein Selbstwertgefühl, das sie gegenüber den Verführungen und Möglichkeiten des Internets und der digitalen Welt immunisiert. Dies heißt aber nicht, sich den digitalen Entwicklungen feindlich entgegenzustellen. Für uns in Salem ist es wichtig, dass der junge Mensch Herr des Geschehens bleibt und nicht am Ende eines Algorithmus zappelt, der seine Individualität fernsteuert. Dass diese Gefahr allerdings besteht, dies sehe ich deutlich.
Was zeichnet Ihrer Meinung nach die Generation Y aus? Für manche ist diese spießig und konservativ, für andere interesselos, apolitisch und lediglich durchtechnifiziert.
Es ist ein Fluch unserer Zeit, Menschen schematisch mit Etiketten zu versehen und in Generationen einzuteilen. Wenn man genau hinschaut, sieht man alle Couleurs, Politikverdrossene und politikinteressierte Optimisten. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Generation Y wirklich unsere Gegenwart prägt. Sie lebt in dieser und nutzt die Möglichkeiten, die ihr ganz andere Generationen zur Verfügung gestellt haben. Ob sie in der Lage sein wird, Probleme nicht nur zu thematisieren, sondern die Dinge auch tatsächlich anzupacken, das wird sich zeigen. Die Mehrheit der Jugendlichen ist nicht politikverdrossen, sondern politikerverdrossen. Und dies hat damit zu tun, dass uns Politiker fehlen, die eine klare Position beziehen, die bereit sind, ihren Beruf für eine Zeit zurückzustellen, um ihre Kenntnisse und Fähigkeiten dem Gemeinwohl zur Verfügung zu stellen. Derzeit ist es so, dass über die Jugendorganisationen der Parteien Studierende in den Beruf des Politikers hineinwachsen. Das überzeugt nicht und entspricht auch nicht dem Bild der Generation, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut und geführt hat. Das waren zum Großteil Menschen, die in unterschiedlichsten Funktionen auch schon anderswo Verantwortung getragen haben.
Ob Friedrich Schiller oder andere Gelehrte des 18. bis 20. Jahrhunderts. Immer ging es in den verschiedenen Erziehungskonzepten um Elite. Wie macht man Elite?
Eliten sind für Gesellschaften sehr wichtig. Aber Elite hat immer etwas mit Auswahl zu tun und einer gewissen Besonderheit. Mir ist der hanseatische Ansatz sehr sympathisch, dass man durchaus einer Elite angehören kann, aber eben selbst nicht darüber spricht. Man wird von den anderen als Vorbild wahrgenommen, als jemand, der in einer bestimmten Position mehr leistet und mehr einbringt, als er müsste, und das ohne einen persönlichen Vorteil daraus zu generieren. Das wäre für mich ein Ideal einer Verantwortungselite. Und dieses Ideal verfolgen wir in Salem. Ich habe schulintern jüngst darauf hingewiesen, dass Schülerinnen und Schüler, die Salem besuchen, mit dem Besuch dieser Schule keinesfalls automatisch irgendeiner Elite angehören. Sie haben in Salem die Möglichkeit, ihre Talente umfassend zu entfalten, und die Möglichkeit, einen guten Start in ein Studium zu finden. Aber weiter würde ich es nicht spannen. Sehr wohl würde ich aber davon sprechen, dass viele unserer Pädagoginnen und Pädagogen einer Elite angehören, die nicht so wie andere sogenannte Eliten schillert. Lehrer sind tatsächlich eine Art Elite, weil sie unserer Gesellschaft an einer entscheidenden Stelle Zukunft ermöglichen. Und das ist das Gegenteil von dem, was Gerhard Schröder (SPD) seinerzeit mit dem Statement, Lehrer seien „faule Säcke“, genau in die andere Richtung formulierte. Es gibt diese Eliten jenseits der Reichen, Prominenten und Erfolgreichen. Das kann eine Schwester im Krankenhaus sein, das kann ein Sozialarbeiter sein. Diese Menschen sind unendlich wertvoll für unsere Gesellschaft. Sie sollten am Ende ihres Lebens unbedingt das Bundesverdienstkreuz bekommen – weniger die schillernden Stars und Sternchen, die man in den Medien findet.
Die Schulnotenvergabe ist ein Dauerthema im politischen Diskurs. Manche Bundesländer wollten diese gar abschaffen. Wie wichtig ist das Leistungsprinzip, die Notengebung?
Grundsätzlich ist es so, dass Kinder gerne wissen, wo sie stehen. Wichtig ist, dass sie die Note nicht mit ihrem eigenen „Wert“ verwechseln. Ein Kind also, das eine 5 nach Hause bringt, sollte sich nicht als ein mangelhafter Mensch sehen, aber es sollte verstehen, dass die Note wie ein Blick in den Spiegel ist, der irgendeinen Leistungsstand spiegelt. Also grundsätzlich: Rückmeldungen zum Leistungsvermögen sind wichtig. Insgesamt ist es aber so, dass das Notengebungssystem in Deutschland heute einem Würfelspiel ähnelt. Das ist eine sehr gewagte These. Aber die Noten, die man für eine bestimme Leistung bekommt, dürften innerhalb Deutschlands tatsächlich gewaltig variieren. Wenn man also anonymisiert eine bestimmte Leistung unterschiedlichen Lehrern in unterschiedlichen Schulen vorlegte, gäbe es ganz unterschiedliche Ergebnisse. Das liegt natürlich in der Subjektivität der Beurteilung des einzelnen Lehrers begründet, das liegt aber auch am System. Und die Bundesländer treiben einen Bildungsföderalismus auf die Spitze, der wirklich abstrus an das 19. Jahrhundert und die Kleinstaaterei erinnert. Wenn bestimmte Abschlussquoten und Leistungsbilder nicht erreicht werden, beginnt man im System die Statistik zu frisieren. Dann werden Bemessungsgrundlagen für bestimmte Notenentscheidungen verändert und das erinnert an die DDR, wo man die Statistik, je nachdem wie sie ausfiel, frisiert oder schöninterpretiert hat. Das ist tödlich. Das Bildungssystem darf in Deutschland nicht die letzte real existierende Planwirtschaft sein. Und in manchen Bereichen hat man eben den Eindruck, dass dem so sei. Dies mag darin begründet liegen, dass Bildung im Grunde der letzte Bereich ist, in dem die Bundesländer noch eine Hoheit haben und auch der Bund oder Europa nicht reinreden können. Aber gesamtsystemisch gesehen ist es eine Katastrophe. Frau Schmoll von der „FAZ“ hat den Finger in die Wunde gelegt und gezeigt, wie unterschiedlich die Ergebnisse am Ende ausfallen, je nachdem in welchem System man zu Hause ist. Dass es keinen gesamtgesellschaftlichen Aufstand bei der Notenvergabe gibt, liegt wohl darin begründet, dass immer nur eine relativ kleine Gruppe von Eltern konfrontiert ist. Aber wir als bundesdeutsche Gesellschaft können es uns eigentlich nicht leisten, ein so fragmentiertes Schulsystem zu haben, gerade in einer Welt, in der sich Strukturen vereinheitlichen und man in Konkurrenz mit sehr leistungsstarken Bildungsnationen steht. Jede Leistung ist also relativ, je nachdem wie das Schulsystem ausschaut. Es ist überhaupt die Frage, ob man die Qualität einer Schule am Durchschnitt des Schnitts aller Absolventen bemessen kann, ob es nicht wichtiger wäre, wenn jedes Kind individuell möglichst gefordert würde – und die Qualität an der individuellen Lernbiografie festgemacht würde. Das gäbe ein viel realistischeres Bild. Wenn man in die Viten vieler unserer sehr erfolgreichen Eltern schaut oder unserer Alumni, die beruflich sehr erfolgreich sind, so waren die wenigsten Einser-Kandidaten. Sie alle aber hatten bestimmte Felder, in denen sie wahnsinnig stark und ambitioniert waren, und diese Bereiche haben sie sich zum Beruf gemacht. Die Noten darf man keineswegs verabsolutieren, aber unsere Gesellschaft ist leider extrem darauf fixiert. Schlimm ist, dass es immer noch einen Numerus clausus gibt, der das noch befeuert und so tut, als gäbe es diese Objektivität, die tatsächlich aber nicht existiert.
Universitäten setzen seit einigen Jahren verstärkt auf Exzellenzcluster. Hier fließt viel Geld. Fehlt dieses den Schulen, sind diese unterfinanziert?
Insgesamt gibt es eine Unterfinanzierung im Bildungsbereich. Es ist eine Floskel, die schon niemand mehr hören kann, dass Bildung unser wichtigster Rohstoff sei. Aber dem wird nicht Rechnung getragen, gemessen an dem, was wir als Staat anderswo ausgeben. Der Bildungsbereich müsste wesentlich stärker finanziert werden – dies gilt auch für die frühkindliche Bildung. Denn bereits hier werden die entscheidenden Weichenstellungen vorgenommen. Mehr Geld also für Kindergärten und Grundschulen. 10 Prozent der Leitungspositionen in Grundschulen sind derzeit nicht oder kommissarisch besetzt. Das ist ein Desaster. Wir sparen uns im wörtlichen Sinne kaputt. Dies kann man später mit Exzellenz nicht mehr kompensieren. Darüber hinaus brauchen wir, schon demografisch bedingt, sehr viele Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen, möglichst Qualifizierte, die sich auf unser Bildungssystem einlassen. Wir müssen uns in dem Bereich also als ganze Gesellschaft viel mehr engagieren, denn unsere Rolle in der Welt als Exportweltmeister ist kein Selbstläufer. Die Machtgewichte verschieben sich längst in Richtung Asien. In Indien und China werden die klugen jungen Leute ganz anders gefördert. Dort wachsen Millionen Menschen auf, die gut ausgebildet, hungrig nach Bildung und Leistungsbereit sind. Wir müssen unsere Kinder und Jugendlichen in die Lage versetzen, hier mitzuspielen. Doch das nehmen wir im Augenblick noch nicht ernst genug.
Wir leben in bewegten Zeiten. Eine Krise jagt die nächste. Brexit, Eurokrise, Flüchtlingskrise. Wie erleben die Schüler und Studenten diese Umbrüche? Wie stehen sie zur Flüchtlingskrise? Die ältere Generation ist vielfach mit diesen Themen überfordert und driftet auch in Europa nach rechts ab.
Salem ist multinational und die Vielfalt unser Schatz. Die eigene Nationalität, Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung etc. spielt mit Blick auf den eigenen Status keine Rolle. Ich würde daher auch nicht davon sprechen, dass sich neue Schüler integrieren müssen. Der gute Gedanke der Inklusion ist vielmehr der, dass man sich so, wie man ist, respektiert, dass man nebeneinander lebt, ohne in die Sphäre des anderen einzugreifen. Auf unsere Gesellschaft projiziert würde das heißen, dass jeder, der nach Deutschland kommt, unsere Verfassung anzuerkennen und sich an ihr zu orientieren hat. Darüber hinaus kann er sein privates Leben frei gestalten. Was wir daher brauchen, ist eine inklusive Gesellschaft.
Einen gesamtgesellschaftlichen Trend gegen Flüchtlinge sehe ich nicht. Vielmehr glaube ich daran, dass es ein ganz starkes Fundament gibt, das ein offenes Deutschland trägt. Unsere Gesellschaft ist stark und diese Demokraten gibt es auch unter unseren Schülern. Sie nehmen sehr bewusst wahr, welche Freiheiten und Möglichkeiten sie haben, und dass man diese gegen Menschen, die schwarz-weiße Weltbilder zeichnen und in Schubladen denken, verteidigen muss. Die gelebte Vielfalt in Salem ist die beste Immunisierung gegen die Rattenfänger von links wie von rechts. Was ich allerdings sehe, ist eine Politik, die nur als Krisenmanagement „funktioniert“. Es gibt kaum proaktive Politik, die ein Ziel formuliert, und nicht nur auf Sicht fährt. Unsere Jugendlichen sollen ihre Träume und Ziele haben, aber so können sie diese nicht verwirklichen.
Wer kann sich Salem leisten, nur die Reichen? Und ist das dann die Elite?
Nein, Salem hat ein sehr gut ausgebautes Stipendienwesen. Im Augenblick sind etwa 23 bis 24 Prozent der Schülerinnen und Schüler Stipendiatinnen und Stipendiaten, nicht alles Vollstipendiaten, aber so, dass sie, orientiert an den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Eltern, gefördert werden, weil sie sich sonst die Schule nicht leisten könnten. Eine Hauptaufgabe dieser Schule ist es, dies hat schon der Gründer formuliert, die Kinder der Mächtigen und sehr Wohlhabenden von der bedrückenden Last ihrer Privilegiertheit zu befreien. Es ist im Interesse unserer Gesellschaft, dass Kinder nicht im goldenen Käfig aufwachsen, sondern mit einer gewissen Erdung in einer fordernden Umgebung. Es ist für das Kind eines Millionärs unglaublich heilsam und gut, mit einem Kind zusammen zu sein, das den Euro umdrehen und sich überlegen muss, ob es sich die Kugel Eis leisten kann. So wird er mit einer anderen Lebensrealität konfrontiert. Vieles ist dann nicht mehr so selbstverständlich. Luxus gibt es im Internat nicht. Jeder, der herkommt, lässt viel von dem zurück, was er zu Hause an Komfort hatte, das Einzelzimmer, oft das eigene Bad. Unsere Schülerinnen und Schüler verzichten auf sehr viel, aber sie haben dafür eine schöne Gemeinschaft, die ein Leben lang hält und trägt.
Das Gespräch führte Stefan Groß.
Der Text erschien in der Printausgabe des The European
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.