Es herrscht die große Tyrannei des Geistes

Bundeskanzleramt, Foto: Stefan Groß

Die politische Haltung vieler Intellektueller im 20. Jahrhundert zeigt: Brillanz schützt vor Torheit nicht. Gegen die autoritäre Versuchung war ihr ganzer Geist machtlos. Der Philosoph Mark Lilla geht der Verwandtschaft von Kopfarbeit und Tyrannis auf den Grund.

von Moritz Rudolph

(Rechts-)Populismus ist derzeit sehr erfolgreich. Unter Gebildeten und Halbgebildete aber genießt er kein hohes Ansehen. Sie finden ihn primitiv und platt, halten ihm vor, er sei plebiszitär und autoritär zugleich, biete „einfache Lösungen“ für „komplexe Fragen“ an, beschwöre ein Volk, entwerfe klare, verkürzte Feindbilder und setze auf Emotionen statt Vernunft. Mithin schade er der politischen Kultur.

Schon werden Rufe laut, es brauche ein Engagement gegen die Enragierten. Schon rotten sich die Gralshüter der verwalteten Gegenwart zusammen und fordern mehr Geist. An diesen heften sich nämlich ihre tiefsten Hoffnungen zur Entgiftung des politischen Klimas. Sie wollen mehr Bildung, sie wollen mehr Einsicht, sie wollen mehr Verstand, nicht länger nur für sich – schließlich besitzen sie all das schon – sondern nun endlich auch für alle anderen. Die wohlüberlegte Abwägung aller Argumente erscheint ihnen als Gewähr der vernünftigen und maßvollen politischen Haltung. In einer Gesellschaft, die an Habermas glaubt und sich dem „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments verschrieben hat, ist so eine Ansicht kein Wunder. In ihr wirdmit umfassender Bildung unterfütterte Geistesschärfe zum Bollwerk gegen die politische Tölpelei und den unüberlegten Exzess. Maßhalten wird zur Sache des Verstandes, weniger der Ästhetik.

Der Feindesfeind als Freund?

Wie kann man – bei näherer Betrachtung seiner Gegner – auch nicht an die seligmachende Wirkung des gebildeten Verstandes glauben? Man beachte nämlich nur einmal, wer sich da gegen den Intellekt stellt und stattdessen auf Gefühl, Wut, Zorn und die unmittelbare Einsicht setzt. Wessen Furor sich da am Geist entzündet. Wer den „gesunden Menschenverstand“ gegen das unnötig verkomplizierende „Geschwurbel“ der Intellektuellen in Stellung bringt: „Schluss mit dem dialektischen Krempel! Jetzt wird Klartext geredet!“. Es sind die rechtspopulistischen Bewegungen und ihre parlamentarischen Arme, die so reden. Und wenn der echauffierte Haufen schrill und aggressiv kreischt, muss dann nicht das Gegenteil davon richtig sein? Muss dann nicht der Geist, den sie angreifen, das sein, was uns vor der Tyrannei, die sie ja wollen, bewahrt?

Brillanz schützt vor Torheit nicht

Nicht unbedingt. Die Geschichte hält hier einige Lehrstücke bereit, die zeigen: Gerade die, die die Dinge ein bisschen komplizierter machen, als sie gemeinhin diskutiert werden, haben sich nicht selten denen angedient, die versprachen, den gordischen Knoten der Komplikation zu zerschlagen. Intellektuelle und Tyrannen kamen gut miteinander aus. Sie waren weder primitiv noch platt, sondern ungeheuer geistreich – geistreich und autoritär. Im antiintellektualistischen Getöse der neuen populistischen Bewegungen droht dies unterzugehen: Dass ausgerechnet die großen Intellektuellen erstaunlich oft der autoritären Versuchung erlagen. Der amerikanische Philosoph Mark Lilla zeigt in seinem vor einigen Monaten auf Deutsch erschienen Buch „Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen“ in sechs Fallstudien, wie es dazu kommen konnte. Seine Beweislast ist erdrückend: Meisterdenker Heidegger suchte Heil und Erdung im konkret-dumpfen Blut-und-Boden-Kult der Nazis, den er als machtvolle Gegenbewegung zur abstrakt-mechanischen und jüdisch-entwurzelten Zivilisationswelt bejubelte. Der große Carl Schmitt sah das ähnlich und bildete sich sogar ein, „den Führer führen“ zu können, wurde „Kronjurist des Dritten Reiches“ und als Hitler nach dem vermeintlichen Röhm-Putsch 1934 mit aller Härte gegen die letzten innerparteilichen Konkurrenten losschlug, da schrieb Schmitt: „Der Führer schützt das Recht“ – und setze es zugleich. Kojève, der brillante Kojève, verteidigte leidenschaftlich die Notwendigkeit der Tyrannis und sah sich als der „Stalin begreifende Philosoph“. Das Genie Sartre hegte Sympathien für die vollkommen ungenialische RAF, traf sich mit Fidel und bezeichnete die Castroiten ganz verzückt als die legitimen „Söhne“ seiner Philosophie. Foucaults alleszermalmender Intellekt hielt ihn nicht davon ab, sich 1979 unsterblich in die Islamische Revolution zu verlieben, diesen Aufstand „von Menschen mit bloßen Händen“ gegen die von ihm so sehr verachteten „gemäßigten Technokraten“ einer islamischen Modernisierung. Sein Fazit: „Das ist vielleicht die erste große Erhebung gegen die weltumspannenden Systeme, die modernste und irrsinnigste Form der Revolte.“ Er fand das gut. Brillanz schützt offenbar vor Torheit nicht.

Was waren die alle gebildet! Sie standen auf den Schultern von Riesen, sie trugen im Kopf das ganze Abendland mit sich herum, was sie aber nicht davon abhielt, es gedanklich aufsprengen zu wollen.

Weisheit, Wahrheit, Macht

Wenn man nun davon ausgeht, dass das keine Idiosynkrasien und Betriebsunfälle der Geschichte waren, so muss man fragen, was genau diese Intellektuellen in die Arme der Tyrannei trieb, ob der Wahnsinn Methode hatte. Lilla sagt ja, hatte er. Er entdeckt einen „uralten, irrationalen Impuls, das Kommen des Gottesreiches in der Welt zu beschleunigen“. Dieser Impuls entspringt dem ungezügelten „Eros“. Ins Zentrum rückt hier also nicht der Verstand, sondern eine andere Frage: Was begehrt man? Welchem Ziel gilt die Liebe, dem man erst nachträglich durch gekonnte Gedankenkonstrukte die Weihen der Vernunft verleiht? „Der Philosoph und der Tyrann, die höchste und die niederste menschliche Lebensform, sind in einem perfiden Spiel der Natur durch die Macht der Liebe verbunden“. Der Tyrann liebt die Macht, der Philosoph die Weisheit. So verschieden ist das nicht. Denn weil es spätestens in der Moderne – und da ist diese ganz marxistisch – darauf ankam, die Welt nicht mehr bloß zu interpretieren, sondern sie zu verändern, braucht der Weisheitsliebende die Tat und dazu die Macht, er braucht den Tyrannen, der durchregiert, um überhaupt erst zu sich selbst zu kommen. Aus der Liebe zur Weisheit wurde die zur Wahrheit, zur praktischen Wahrheit. Zunächst muss die Analyse konkret werden, denn, noch einmal Marx, „Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe.“ Doch damit ist es noch nicht getan, zur vollendeten Diesseitswerdung der Idee gehört auch, dass sie einen möglichst umfassenden politischen Anspruch erhebt, dass sie praktisch wird, denn die Wahrheit verwirklicht sich in der Welt, oder sie ist gar nicht.

Die Feier des schaffenden Geistes

Lilla schreibt, dass diese Verbindung nicht neu ist, sondern schon am Anfang der abendländischen Geistesgeschichte stand: „Man muss gar nicht Sartres narzisstischem Mythos über den Intellektuellen als Helden aufsitzen, um zu sehen, was Platon schon vor langer Zeit erkannte: Dass es im menschlichen Geist eine Beziehung gibt zwischen dem Streben nach Wahrheit und dem Wunsch, zur ‘Ordnung der Städte und Haushaltungen’ beizutragen“. Eine alte Sache also. Wirklich neu am 20. Jahrhundert ist dagegen das vielleichtumfassendste Machbarkeitsversprechen, das sich die Menschheit je gegeben hat. Vorbereitet wurde es von langer Hand: Die Aufklärung hat die Menschen als Herren der Welt eingesetzt, das 19. Jahrhundert lieferte scheinbar den Beweis dafür, dass fortschreitende Naturbeherrschung durch Staat, Kapital und Technik tatsächlich möglich ist. Das 20. Jahrhundert steigerte den Gestaltungswillen noch einmal bis hin zur totalen Mobilisierung der wirtschaftlichen, technischen und psychosozialen Kräfte. Alles war möglich, wenn Geist und Wille nur zusammenkamen. Sartre dazu: „Alles, was wirklich ist, ist Praxis, und alles, was Praxis ist, ist wirklich“. Die Möglichkeit der totalen Konstruktion verlangte den totalen Konstrukteur. Für die, die nach Wahrheit suchten, war das eine aufregende Entwicklung, die sie nicht verpassen durften. Aber man hatte auch ein Interesse daran, dass diese Kopfmenschen sie nicht versäumten, schließlich brauchte man sie, um die Sache klug klingen zu lassen. Die hemmungslose Feier des menschlichen Geistes, die die Moderne veranstaltet, lässt gerade die geistvollsten Exemplare nicht unberührt; sie schmeichelt ihnen, denn es geht ja um sie, um ihr Metier, da kennen sie sich aus, dazu können sie Gewichtiges beitragen; da machen sie gern mit.

Das Volk, der große Lümmel

Die Sehnsucht nach dem starken Mann steht hier mit einem messerscharfen Verstand und einem Bildungsüberschuss im Bunde, nicht mit einem Mangel daran. Wer am Absoluten Interesse zeigt, interessiert sich irgendwann auch für den Tyrannen. Der eine hat den Willen zum Wissen, der andere den zur Macht; beiden ist die träge Masse nur dumpfer, roher Stein, der behauen werden muss. Das Volk, der große Lümmel, ist bloß geschichtsphilosophische Verschiebemasse, Geburtshelfer ihrer großen Ideen und Kräfte. Offenbar sind die gedankliche Durchdringung eines Stoffes und die politisch totale Durchdringung der Gesellschaft eng miteinander verwandt. Zusammen können sie großes Unheil anrichten: Der Tyrann unterdrückt und der Intellektuelle veredelt es nachher philosophisch oder sonstwie. Öffentliche Kritik wird somit fast verunmöglicht, schließlich hat der Tyrann die Vernunft auf seiner Seite – wer will schon dagegen anreden?

Rive Gauche gegen Rive Droite

Wie kommt man nun da heraus, was durchbricht den Legitimationskreislauf? – Immer wieder Gewaltenteilung. Philosophen dürfen keine Könige werden, mehr noch: Nicht einmal zum königlichen Berater taugen sie besonders gut. Rive Gauche und Rive Droite, Geist und Macht, müssen sich unversöhnlich gegenüberstehen. Nur dann gibt es eine Balance, nur dann fürchtet Napoleon „drei Zeitungen mehr als hundert Bajonette“, nur dann können Kopfarbeiter jene kritisch-subversive Funktion erfüllen, die ihnen einst die abfällige Bezeichnung „Intellektuelle“ eingebracht hat, als tagein tagaus kontemplierende Geister, die ihren Elfenbeinturm allenfalls zum öffentlichen Nörgeln verließen – um sich dann auf die Seite der Schwachen, Geknechteten und Bedrohten zu schlagen. Aus dem einstigen Schimpfnamen haben die Intellektuellen eine Selbstbezeichnung gemacht, die sie seither mit Stolz tragen. Sie waren meist ein wenig kauzig, stets unbequem und an Herrschaft nicht interessiert, im Gegenteil versuchten sie diese zu demaskieren, wo sie illegitim wurde – was sie ja oft war – oder sich zu sehr an einer Stelle konzentrierte. Ein anarchischer Zug gehörte unbedingt dazu.

Was für Intellektuelle richtig ist, gilt wohl auch für alle anderen: Autoritäre Bildungsbürger gibt es genug; die Fähigkeit zur Kritik und – wenn nötig – der Gestus der Subversion dürften mindestens ebenso wichtig sein wie umfassende Bildung oder ein scharfer Verstand. Denn die allein bewahren uns nicht vor der autoritären Versuchung, die da gerade von überall hereinbricht.

Mark Lilla: „Der hemmungslose Geist. Die Tyrannophilie der Intellektuellen“, München 2015.

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