Erziehung durch Einzelhaft

Der im November 1976 heimtückisch aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Bier­mann schrieb im Nachsatz seiner „Ballade vom Aaleräuchern“: „Beim ersten Biss und beim letzten Biss / Denk ich an Sigi Faust, den Freund / Ein Landeskind, das jetzt, wo hier munter / Der Aal schwimmt und der Westwind jault / In Cottbus, im ‚VEB Knast’ verfault / Mit flie­ßend Wasser (die Wände runter!) / Ein kranker Mann im Kellerloch / Mit Krätze, mit Hunger und Hass im Magen / Zum Krüppel vom Meister im Knüppelschlagen / Gemacht! – Sitzt vier-ein-halb Jahre ab. / Und nicht, weil er Aale geräuchert hat.“[1] Dieser „Sigi Faust“ bin ich, ein ehemals gefördertes Arbeiterkind im Arbeiter- und Bauern­staat, das vom „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ träumte, bevor ihn der „real existie­rende Sozialismus“ durch seine Realitäten vorerst zum Dissidenten, also zum Abweichler von der „einzigen wissenschaftlichen Weltanschauung“ der Marxisten und ihrer machthabenden Interpreten machte machte.
Erst nach der zweiten Inhaftierung wegen „staatsfeindlicher Hetze“, dieses Mal im Zuchthaus Cottbus, wurde er nach dem Vorbild der Weißen Rose oppositionell, übte sich im geistigen Widerstand. Der kostenlos in die Zellen gereichten Parteizeitung NEUES DEUTSCHLAND setzte er eine handgeschriebene Zeitung unter dem Titel ARMES DEUTSCHLAND entge­gen, die unter den Häftlingen von Hand zu Hand gereicht wurde. Er ließ sich als junger Autor nicht hindern zu schreiben, was ihn hinderte zu schreiben. Dankbar erinnert er sich der Haftkameraden, die ihn unterstützten, ihm heimlich Papier und Stifte zukommen ließen, manchmal sogar in der tägli­chen Brotration versteckt. Sie wiederum dankten es ihm später, indem sie schrieben: „Die Lektüre des ARMEN DEUTSCHLAND gehörte zu den Dingen, die der Zeit in Cottbus einen bleibenden Sinn gaben.“[2]
Faust, als junger Lyriker am Leipziger Literaturinstitut oft seiner „Subjektivität“ wegen ge­scholten, schreibt heute lieber in der dritten Person über sich. Im Gefängnis wusste er durch­aus, sein gewaltloser Widerstand konnte ihm fünf Jahre „Nachschlag“ einbringen. Er war da­mals schon Vater von vier Kindern. Mit Biermann-Versen konnte er in den Katakomben von Cottbus sarkastisch singen: „Nun bin ich dreißig Jahre alt / Und ohne Lebensunterhalt / Und hab an Lehrgeld schwer bezahlt / Und Federn viel gelassen…“ Wegen solcher verbotenen Sangesübungen wurde er vom Erzieher Hoffrichter mit einem ausziehbaren Gummiknüppel, auch Totschläger genannt, zusammengeschlagen, bis er blutend mit Striemen übersäht am Boden lag.
Faust hatte neben Volker Braun und Wolf Biermann noch ein Vorbild, sogar ein väterliches: Heinz Kucharski. Als „Hamburger Jung’ und Kopf des hanseatischen Zweigs der Weißen Rose“[3]wurde er in Publikationen bezeichnet. Kucharski, im April 1945 zum Tode verurteilt, konnte auf dem Weg zur Hinrichtung fliehen. Das ermutigte Faust wieder und wieder, nie­mals aufzugeben.
Mit dieser Trotzhaltung hatte er sich während seiner insgesamt 33-monatigen Haftzeit 742 Tage Einzelhaft eingehandelt, zuletzt 401 Tage hintereinander in den Arrestzellen und „Ti­gerkäfigen“ im Kellergeschoss der Strafvollzugseinrichtung Cottbus, wie offiziell beschöni­gend dieses üble Zuchthaus hieß, das auch als „Rote Hölle“ bezeichnet wurde. Selbst die feuchten, kalten und unhygienischen Kellerzellen mussten als „Verwahrräume“ bezeichnet werden. Doch Faust nuschelte bei Zellenöffnung, zu der stets Meldung gemacht werden musste, in seinen nicht vorhandenen Bart: „Zelle 52, Staatsgefangner Faust“. Da alle Verwar­nungen bis hin zu Nichtaushändigung von Briefen, insgesamt 63 Tage Arrest in einer unbe­heizbaren Kellerzelle (nur drei Scheiben Brot täglich, aller drei Tage zusätzlich eine Suppe, 16 Stunden ohne Sitzgelegenheit, schlafen müssend auf einem blanken Lattenrost), monate­lange Absonderung und sogar Misshandlungen mit dem Schlagstock (von den Häftlingen „so­zialistischer Wegweiser“ genannt) nichts gefruchtet hatten, musste man sich halt an seine pro­vokative Meldung gewöhnen.
Heute gehört Faust als Vorsitzender desVerbandes politisch Verfolgter des Kommunismuse.V. (VPVDK)und als Mitglied der Menschenrechtszentrums Cottbus zu den rund 150Miteigentümerndes gesamten Gefängnisareals von 22.000 qm, samt sieben ruinösen Gebäudetei­len, 500 m Mauer und drei Wachtürmen. Hier will er mithelfen (zumeist drei, vier Tage wö­chentlich in einem Büro hinter Gittern arbeitend) auf diesem verwahrlosten und ruinösen Zuchthausgelände eine Gedenk-, Begegnungs- und Bildungsstätte zu errichten. Der Anfang ist jedenfalls schon gelungen.
Die vielen Tränen der Ohnmacht unschuldig Eingesperrter, das Entsetzen über die gnadenlose Machtarroganz bar jeder Vernunft von Stasi-Vernehmern, der Zorn über die oft grausamen Demütigungen unschuldiger Menschen, die Scham über Richter und Anwälte, die sich als willfährige Werkzeuge einer Partei-Justiz entpuppten, die Anmaßung der „Erzieher“, Intel­lektuelle und Redliche, die hier in Cottbus als Gefangene dominierten, unter kulturlosen Be­dingungen zu Arbeitssklaven abzurichten, um sie schließlich als abgestumpfte Invaliden dem „imperialistischen Klassenfeind“ zu verhökern, das sollte künftig jede Propaganda der viel zu gut davon gekommenen Täter übertönen. Dazu die brutale Impertinenz von sozialistischen Erziehern wie „Urian“ (Oltn. Hoffrichter) oder solcher Menschenschinder wie „Arafat“ und „Roter Terror“, all das soll nicht dem Vergessen verfallen, sondern nachwachsende Generati­onen für die Werte der Demokratie und Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sensibili­sieren.
Das klingt nach achtbarer Absicht. Dabei sollte man wissen, dass junge Leute immer gern von dem sprechen, was sie nicht wirklich kennen. Es würde ihnen aber die Rede verschlagen, wenn sie es nachvollziehen könnten. Denn der Sozialismus, unter welcher Farbe auch immer, ist nach Erfahrung jener, die nicht zu den Profiteuren dieser Menschenexperimente gehörten, so falsch, dass noch nicht einmal der Kapitalismus als sein angebliches Gegenteil richtig ist.
Faust erfuhr erst weit nach dem Zusammenbruch der DDR, dass zuvor im braunen Sozialis­mus neun Frauen der Weißen Rose des Hamburger Zweiges sowie eine ihrer Lehrerinnen hier im Cottbuser Zuchthaus ein paar Monate vor Kriegsende eingesessen hatten, was also von den DDR-Historikern völlig unterschlagen worden war. Die letzte Überlebende, die in Hamburg aufgewachsene Traute Lafrenz, die in München Medizin studierte und Hans Scholls Freundin war, brachte die Flugblätter der Weißen Rose aus München mit in ihre Heimatstadt, wo sie abgeschrieben und ebenfalls ver­breitet wurden. Ihr Schulfreund war jener Heinz Kucharski, den Faust 1968 in Leipzig kennen und achten gelernt hatte. Dieser wurde gewissermaßen der Guru der Künstlergruppe, die Faust nach seinem zweiten politischen Rausschmiss aus einer Hochschule zusammen mit Heide Härtl, Michael Flade, Dietrich Gnüchtel, Wolfgang Hilbig, Gert Neumann und Andreas Reimann in Leipzig gegründet hatte. Ku­charski öffnete den religiös Entwurzelten als Indologe und Philosoph das Fenster in die Reli­gion: in die hinduistische, buddhistische und in den Zen-Buddhismus, der im Westen unter Künstlern gerade modern war. So erlernte vor allem Faust bei aller Nabelschau die Genügsamkeit, die er brauchte, um zu erkennen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apg 5,29)
Gott war so gnädig, Faust noch nicht wissen zu lassen, dass die Vertrauensperson Kucharski ihn als inoffizieller Stasi-Mitarbeiter mit zu seinem Gefängnisaufenthalt ab November 1972 verholfen hatte. Aber es kam ja noch Schlimmeres heraus. Traute Lafrenz, nach einem Jahr Haft in München ent­lassen, weil ihre hingerichteten Freunde sie in München nicht belastet hatten, fuhr sofort nach Hamburg, wo ihr Schulfreund Kucharski schon im Gestapo-Gefängnis saß und nicht nur plauderte, sondern 30 Leute, darunter auch seine Mutter, Großmutter und alle seine Freunde mit hinein zog und furchtbar belastete, vor allem auch seine Lehrerin Erna Stahl, die ihn für ihren Lieblingsschüler hielt und jahrelang sprachlos wurde wegen des Verrats. 60 Seiten schrieb er allein über Traute Lafrenz für die Gestapo nieder. Ihre Hinrichtung war ihr ebenso sicher wie vielen anderen von ihm Belasteten. Nur das Vorrücken der Alliierten rettete den meisten das Leben, doch nicht allen. Kucharskis Schulfreundin und Verlobte, Margaretha Rothe, die ebenfalls in Cottbus einsaß, starb kurz vor dem Einrücken der Amerikaner in ei­nem Leipziger Krankenhaus.

Traute Lafrenz schrieb aus den USA in einem Brief:
„Lieber Siegmar Faust,
es ist schon seltsam wie Menschenwege sich verstricken und begegnen. Nie hätte ich gedacht einmal von einem Menschen zu hören, der auch eine intensive Begegnung mit Heinz Ku­charski gehabt hat. Seltsam ist auch, dass Heinz K. seine Tendenz zum Verrat dann weiter betrieben hat – wo er doch selber dann nicht mehr in Gefahr war – oder?“[4]Was sang Biermanneinst so frech und kühn? „Wer sich n i c h t in Gefahr begibt, / Der kommt darin um.“
Mein Resümee möchte ich wieder in der Ich-Form von mir geben: Ja, ich begab mich in Gefahren, weil ich unentschlossen war. Aber da bin ich mir heute gar nicht mehr so sicher. Ich spüre aber noch immer schmerzhaft, dass ich lange eingeschlossen war. Deshalb ziehe ich jeder Einzelhaft entschlossen mein zweifelhaftes Überleben vor. Ich hatte viel Glück. Macht es mich dankbar? Umgekehrt! Nur Dankbarkeit macht glücklich. Die äußere Freiheit genieße ich heute sogar in meinem Büro hinter Gittern.
Wo aber findet man seine innere Freiheit? Im Sich-gehen-lassen? In der Sicherheit eines Beamten? (In unsicheren Zeiten bestimmt ein halt­barer Job.) Aber Beamte dürfen ja nichts annehmen – nicht einmal Vernunft. Dabei behindert Vernunft nur das Denken, und Denken ist in jeder Gesellschaftsordnung hoch und gefährlich. Noch ge­fährlicher als ein falscher Gedanke ist jedoch der richtige im Kopfe eines Mutigen: „Und sperrt man mich ein / im finsteren Kerker, / das alles sind rein / vergebliche Werke. / Denn meine Gedanken / zerreißen die Schranken / und Mauern entzwei: / Die Gedanken sind frei!“


[1]L 76 – Demokratie und Sozialismus, Nr. 1, Hrsg: Heinrich Böll, Günter Grass und Carola Stern, S. 57
[2]Brief Detlef Seyffarths an den Autor am 15.12.1976
[3]taz.de: „Weiße Rose im Norden, Ungeordnete Erkenntnisse“,19.02.2009
[4]Brief von Dr. Traute Lafrenz-Page vom 25.01.2012 an den Autor

Über Siegmar Faust 46 Artikel
Siegmar Faust, geboren 1944, studierte Kunsterziehung und Geschichte in Leipzig. Seit Ende der 1980er Jahre ist Faust Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), heute als Kuratoriums-Mitglied. Von 1987 bis 1990 war er Chefredakteur der von der IGFM herausgegebenen Zeitschrift „DDR heute“ sowie Mitherausgeber der Zeitschrift des Brüsewitz-Zentrums, „Christen drüben“. Faust war zeitweise Geschäftsführer des Menschenrechtszentrums Cottbus e. V. und arbeitete dort auch als Besucherreferent, ebenso in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er ist aus dem Vorstand des Menschenrechtszentrums ausgetreten und gehört nur noch der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik und der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft an.

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