Ernst Osterkamp: Einsamkeit. Über ein Problem in Leben und Werk des späten Goethe

In einem mit den Künstlern und dem Publikum seiner Zeit bitter hadernden Rückblick auf die im Jahre 1805, dem Todesjahr Schillers, durchgeführte letzte Weimarische Kunstausstellung hat Goethe die düstere Prognose for­mu­liert: „die Weimarischen Kunstfreunde, da sie Schiller verlassen hat, sehen einer großen Einsamkeit entgegen.“[1] Eine große Einsamkeit: die Ent­täu­schung über das desaströse Scheitern seines mit Hilfe der Weimarischen Preis­aufgaben unter­nommenen Versuchs zur Erneuerung der Kunst aus dem Geist der Antike verband sich bei Goethe mit dem Schmerz über den Tod Schillers zu einem umfassenden Verlassenheitsgefühl, das sich in dem ständig wachsenden Bewußtsein seiner grundsätzlichen Distanz zum Zeit­geist ver­dichtete. Dies Bewußtsein intensivierte sich in dem Jahrzehnt nach Schillers Tod durch den Verlust weiterer Weggefährten und Freunde: Herzogin Anna Amalia 1807, Carl Ludwig Fernow 1808, Wieland 1813, Goethes Frau Chri­stiane 1816 und so fortan. Der Preis für Goethes virtuose Fähigkeit, andere zu überleben, bestand darin, dass Einsamkeit zu einem zentralen Thema seines Alters wurde: die Einsamkeit des Zurückgelassenen und die freiwillige Ein­samkeit desjenigen, der sich den Zumutungen des Zeitgeistes zu ent­ziehen suchte. Es war dies freilich kein öffentlich ver­handeltes Thema; Goethe hat dafür gesorgt, dass die Wendung von der „grossen Einsamkeit“ zu seinen Lebzeiten nicht ver­öffent­licht wurde. Seiner Leserschaft gegenüber hat er es vorgezogen, statt dessen lieber die Not­wendigkeit der Entsagung als einer ethisch begründeten frei­willigen Resignation von einer umfassenden Lebensteilhabe dichterisch zu plausibi­lisieren, und die Germanistik hat, der Goetheschen Selbstdeutung wie so oft bereitwillig folgend, die Entsagung als eine Kunst des „heiteren Gelten­lassens und des gelösten Verzichts“[2] gerade­zu zum zentralen Glaubens­artikel des Goetheschen Altersevangeliums er­ho­ben und damit den Schmerz seiner tatsächlichen Einsamkeitserfahrung zum Verschwinden gebracht. Was er an die Öffentlichkeit nicht dringen lassen wollte, hat Goethe aber den engsten Freunden gegenüber immer wieder als seine durch das Ent­sagungs­konzept nicht zu bewältigende Empirie der Einsamkeit thema­tisiert, am ungeschütztesten wohl gegenüber Carl Friedrich Zelter, dem er wenige Wochen nach Schillers Tod schrieb: „Ich dachte mich selbst zu verlieren, und verliere nun einen Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins. Eigent­lich sollte ich eine neue Lebensweise anfangen; aber dazu ist in meinen Jahren auch kein Weg mehr. Ich sehe also jetzt nur jeden Tag unmittelbar vor mich hin, und tue das Nächste ohne an eine weitre Folge zu denken.“[3] Diese Sätze sind so berühmt, dass man sie in dem existen­tiellen Vollgewicht, die sie für ihren Autor besessen haben, kaum noch wahr­nimmt. Hier bekannte immerhin ein 56 Jahre alter Mann, dass der Verlust des Freundes, der dem Verlust seines halben Daseins gleichkam, sich nur durch einen fundamentalen Wandel seiner „Lebensweise“ würde kompen­sieren lassen, von dem er aber wusste, dass es dafür längst zu spät war – denn das Remedium der wieder­holten Pubertät, das ihm seine zweifellos große Wirkung auf junge Frauen er­öff­nete, blieb im Falle des Verlusts eines Freundes nun einmal ausge­schlos­sen. Verlieben kann man sich auch in diesem und in noch höherem Alter leicht, in einer solchen Lebensphase neue Freunde von einiger Statur zu gewinnen fällt dagegen nicht nur in Provinzstädten wie Weimar vergleichs­weise schwer. Es stand Goethe klar vor Augen, dass ihm, dem Minister, Familienvater und be­rühm­ten Dichter, jeder Weg zu einer grundsätzlichen Änderung seines Lebens verschlossen war; seine Lebensbahn war festgelegt, es kam jetzt nur noch darauf an, eine Strategie zur Bewältigung der Verluste zu entwickeln. Wie die beiden Zitate zu erkennen geben, hat Goethe sich gleich nach dem Tod Schillers auf eine Doppelstrategie ein­ge­richtet: Die eine bestand darin, die Ein­samkeit für sich als eine Existenzform zu akzeptieren, die ihm zugleich den produktiven Widerstand gegen den Zeitgeist ermög­lich­te, die andere in der prag­ma­tischen Erledigung des „Näch­sten“ im Zeichen jener verkürzten Zeit­hori­zonte, die die konkrete Erfahrung, aber auch die Erwar­tung des Todes nahe­legte – eine Erfahrung und eine Erwartung, die Goethe zugleich in seiner Resistenz gegenüber politischen Maximalpro­grammen und ge­schichts­philo­sophischen Globalentwürfen bestä­tig­ten: „Ich sehe also jetzt nur jeden Tag unmittelbar vor mich hin, und tue das Nächste ohne an eine weitre Folge zu denken.“
Diese Verbindung von Einsamkeit als produktiver Lebensform und prag­matischer Tätigkeit im lokalen wie temporalen Nahbereich charakterisiert die Existenz des späten Goethe. Er wußte, dass die Pläne zur Steuerung der lite­ra­­rischen Prozesse in Deutschland von dem Machtzentrum Weimar aus sich mit dem Tod Schillers erledigt hatten, und er wußte überdies, dass der seit der Zeit der Propyläen gehegte Traum einer gezielten Lenkung der deutschen Kunst­ent­wicklung nach dem Vorbild der Antike mit dem Ende der Weimarer Preisauf­gaben ausgeträumt war. Der Brief an Zelter vom 30. Oktober 1808 zeigt para­dig­matisch, wie Goethe aus seiner Einsamkeits­erfahrung, die sich durch das Bewußtsein seiner Verlassenheit vom Zeitgeist intensivierte, die doppelte Kon­sequenz zog, sich einerseits von der Vor­stellung zu verabschie­den, auf die künstlerische Entwicklung der Epoche noch Einfluß nehmen zu wollen, und deshalb andererseits seine Aktivitäten ganz auf das eigene Werk und die Viel­zahl der von ihm beaufsichtigten wissenschaftlichen und künstle­rischen Ein­rich­tungen in Weimar und Jena zu konzentrieren. Zunächst er­folgt in dem Brief eine Globalattacke: „Die Kunst­welt liegt freilich zu sehr im Argen“, „alles geht durchaus ins form- und charakterlose“,[4] um dann gegen dieses „Alles“ allge­meiner Form- und Charakterlosigkeit die Haltung des Einen zu stellen, der sich auf sich selbst resigniert: „man muß sich ein für alle­mal über diese Dinge beruhigen, das Ganze Wesen verfluchen, an die Bildung anderer nicht denken und die kurze Zeit, die einem übrig bleibt, zu eigenen Werken verwenden.“[5] Schär­fer als in dieser Verfluchung des „Ganzen Wesens“ konnte die Absage an den Bildungsoptimismus des klassi­schen Jahrzehnts nicht ausfallen. Noch 1813 hat Goethe in einem Brief an Zelter im Rückblick auf die literatur- und kunst­politischen Strategien der Jahre mit Schiller kopfschüttelnd von dem „Wahn“ der Weimarischen Kunst­freunde gesprochen, „es sei auf die Men­schen gene­tisch zu wirken“;[6] die Ent­wicklung von Kunst, Literatur und Wissen­schaft im Zeichen umfassender programmatischer Leitlinien und Idealkonzeptionen um­biegen und steuern zu wollen, hatte er schon längst für immer aufgegeben. Er hat statt dessen seine Wirksamkeit auf das „Nächste“ konzentriert: nicht auf die Welt und nicht auf Deutschland, son­dern auf das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eise­nach, auf Weimar und Jena, nicht wie die Philosophen des deut­schen Idealis­mus auf die Mensch­heit, sondern auf den einzelnen Menschen, nicht auf die Gattung, sondern aufs Individuum, mit dem Blick nicht auf ent­wicklungs­geschichtliche Fern­pers­pektiven, sondern auf dasjenige, was im un­mittelbaren Nahbereich kon­kret zur pragmatischen Bewältigung anstand. Dass er für sich die Einsam­keit als seine produktive Existenzweise bestimmt hatte, half ihm bei dieser Konzen­tration aufs „Nächste“; schließlich gab es um ihn genug andere, die in Politik, Philosophie und Kunst das große Ganze im Blick zu haben glaub­ten und dafür das „Nächste“ aus den Augen verloren. Einer davon war, wie sich beim Zusammenbruch Preußens im Oktober 1806 zeigte, zum Beispiel sein Herzog Carl August, dessen antinapoleonische Politik an der Seite Preußens ihn beinahe sein Herzogtum gekostet hätte. Gewiß hat Goethe im Jahre 1805 nach dem Tod Schillers seinem Leben nicht mehr eine funda­men­tale Wendung zu geben vermocht, aber die Bewußtheit, mit der er von da an die Einsamkeit und die Konzentration auf das Nächste als die Bedin­gun­gen seines Daseins akzeptierte, signalisiert eben doch den Eintritt in eine „neue Lebensweise“.
Goethe hat nie in einem sozialen Sinne einsam gelebt; Familie, Amt, weite Bekanntenkreise, die Verankerung in Stadt und Region, literarische und wissen­­­schaftliche Verbindungen weltweit haben dies ausgeschlossen. Die Ein­­samkeit, in die er sich mit dem Tod Schillers plötzlich versetzt fühlte, bezeich­net vielmehr die Empfindung der geistigen Isolation in seiner eigenen Zeit und den Verlust des Einklangs mit den tragenden intellek­tuellen Bewe­gungen der Epoche. Goethes „große Einsamkeit“ begründet sich dreifach: In ihr ver­dichten sich die Erfahrungen desjenigen, der sich mehr und mehr von seinen Generationsgenossen verlassen fühlte, dessen epochale Lebensbedin­gun­gen sich massiv von denen unterschieden, unter denen er aufgewachsen war, und dessen Selbstverständnis in entschiedener Opposition zum Zeitgeist stand. Um das Jahr 1805 gelangten diese drei Dimensionen seiner Erfahrung zu ent­schiedener Entfaltung und riefen in ihm jenes Schwellenbewußtsein hervor, das den Beginn seines Alters mar­kiert und im Gefühl der Verein­samung Ausdruck fand. Für die Vertreter der jungen Generation war Goethe damals längst derjenige, der immer schon dagewesen war: das ewige Vorbild, der ewige Gegner. Es fällt auf, dass Goethe nach Schillers Tod keine freund­schaftliche Verbindung zu einem Vertreter der jüngeren Generation mehr auf­gebaut hat, ja dass er in allem, was er fortan unternahm, nach neuen Bun­des­­genossen ernsthaft nicht mehr Ausschau hielt – bis hin zu der radi­kalen Entscheidung, seine ab 1816 erscheinende Alterszeitschrift Kunst und Altertum fast ganz allein zu schreiben. Dauerhaft enge Beziehungen hat er nach Schillers Tod nur noch zu bewährtesten Freunden unterhalten, aber auch diese Freundschaften stan­den im Zeichen des Imperativs, Distanz er­tragen zu können, ja ertragen zu müssen. Sein Kunstfaktotum Heinrich Meyer, das er seit der Italienreise kannte, war ihm als Direktor der Zeichen­schule dienstlich und sozial so weit untergeordnet, dass allzu große persön­liche Nähe ohnehin ausgeschlossen blieb. Die anderen Freunde, Carl Fried­rich Zelter etwa oder Wilhelm von Humboldt, lebten weit entfernt im von Goethe idiosynkratisch verabscheu­ten Berlin und kamen nur selten nach Weimar. Die großen Ver­treter der jungen Generation schließlich hat Goethe nicht mehr recht an sich heran­gelassen und immer versucht – bei aller persönlichen Wertschät­zung wie etwa im Falle Sulpiz Boisserées –, sie auf Distanz zu halten, denn er mußte ständig – und dies keineswegs immer zu Unrecht – befürchten, für Absich­ten und Pro­gramme, die ihm nicht gemäß waren, benutzt zu werden. Der späte Goethe war einer, der gelernt hatte, die Welt auf Distanz zu halten, und dies auch deshalb, weil, wie er aus Teplitz am 23. Juni 1813 an Zelter schrieb, „man in dieser jetzt zerrissenen Welt nicht mehr weiß wem man angehört. Schon 8 Wochen bin ich hier, lebe einsam, friedlich“.[7]
Im Frieden der Einsamkeit zu leben mußte er allerdings, nach dem plötz­lichen Ende der kulturpolitischen und literaturstrategischen Symbiose mit Schiller, erst mühsam lernen. Deshalb die geradezu panischen Versuche Goethes, in den Wochen und Monaten nach Schillers Tod Zelter zu einem Besuch in Weimar oder Lauchstädt zu bewegen, um den erlittenen Verlust durch die zumindest zeitweilige Nähe eines wenn auch ganz anders gearteten Freundes auszugleichen, von dem er sicher wußte, daß er mit ihm die gleichen Grundüberzeugungen teilte: „Jacobi erwarte ich alle Tage. Warum kann ich nicht hoffen, Sie auch noch dieses Jahr zu sehen?“ (19. Juni 1805)[8] „Mit hin und wieder schreiben ist nichts getan.“ (22. Juli 1805)[9] „Bis zum heutigen Tage habe ich mir, wiewohl nur mit einer schwachen Hoffnung, geschmeichelt Sie hier zu sehen. Es gehört zu den traurigsten Bedingungen, unter denen wir leiden, uns nicht allein durch den Tod, son­dern auch durch das Leben von denen getrennt zu sehen, die wir am meisten schätzen und lieben und deren Mitwirkung uns am besten fördern könnte.“ (4. August 1805)[10] Zelter hat die Not, die sich in diesen Sätzen aussprach, erkannt und Goethe noch im August für wenige Tage in Lauchstädt besucht. Danach hat Goethe dann sehr rasch Strategien zur aktiven Bewältigung seiner neuen Einsamkeit ausgebildet: die Gründung der Mittwochs­gesell­schaft im Herbst 1805, bei der Goethe den Damen des Weimarer Hofes naturwissenschaftliche Vorträge hielt, ab 1806 die regelmäßigen Reisen ins fashionable Karlsbad mit seiner internationalen Ge­sell­schaft und den damit gegebenen Möglichkeiten auch zur erotischen Revita­li­sierung, die Neube­lebung der Aktivitäten als Sammler, als Theaterdirektor und Naturforscher.
Den Effekt dieser Strategien aber bildete nicht die Aufhebung der Ein­sam­keit als vielmehr deren Transformation aus einem auferlegten nega­tiven Schick­sal in einen selbstgewählten Zustand der schöpferischen Abge­schie­den­­heit, der freiwilligen Isolation von störender Gesellschaft und unerbete­nen Besuchern, von lästigen Zerstreuungen und Abhaltungen, die Einübung der Ein­samkeit also als einer produktiven Existenzweise. Die Zeugnisse für diese positive Akzeptanz von Einsamkeit als schöpferischer Zurückgezogen­heit von den Alltagsgeschäften, den gesellschaftlichen An­for­de­rungen und den Zu­mutun­gen des Zeitgeists rhythmisieren die Alters­korrespondenz mit den engen Freunden. „Übrigens lebe ich denn doch sehr einsam: denn in der Welt kommen einem nichts als Jeremiaden entgegen“, so 1807 in einem Brief aus Karlsbad an Zelter, in dem auch der Satz steht: „Ich möchte daher das Seculum sich selbst überlassen und mich ins Heilige zurückziehn.“[11] 1808 heißt es wieder aus Karlsbad in einem Brief an Zelter, dass Goethe seine „Zeit abermals in der Einsamkeit nutzen werde“.[12] Ähnlich wird der Ministerkollege Christian Gottlob Voigt immer wieder zum Empfänger der Goetheschen Ein­sam­keitsbekundungen, wobei sich im Falle der Briefe an Voigt der Adressaten­bezug darin bekundet, dass Einsam­keit hier die pro­duktive Distanz zum Hof bezeichnet und der Ort der Ein­sam­keit nicht Karlsbad, sondern der gemein­sam betreute Wissenschafts­standort Jena ist: „Herzlichen Dank, daß Sie meine Einsamkeit mit einem freundlichen Wort erheitern“, so im November 1806 aus Jena.[13] Oder im De­zem­ber 1807: „Übri­gens ist es hier so stille, daß es mir selbst zu still scheint, der ich um der Stille willen herübergekommen bin.“[14] Hier schwingt noch die Ambivalenz der Einsamkeit zwischen quälendem Schick­sal und ersehnter Zurück­gezogen­heit mit. Im Mai 1809 spricht Goethe in einem Brief an Voigt ironisch von der „jenaischen Einsamkeit, wo der Tag an Stille der Nacht gleicht“,[15] und im August dann dankt er für „erfreuliche Mitteilungen, die in meine Einsamkeit zur guten Stunde gelangten“.[16] Freund Meyer schließlich wird zum Emp­fänger der aufs höchste gesteiger­ten Goethe­schen Bekundung von produk­tiver Einsamkeit; sie erreicht ihn im Juli 1816 in einem Brief Goethes aus Tennstedt, der den Bericht über dessen zahlreiche Aktivitäten mit dem Satz abschließt: „Und so sehen Sie hier ein Exercitium, wie ich als Schreibemeister zu Tennstedt ein sonder­bares Leben in der absolutesten Einsamkeit führe.“[17] Freilich haben die Freunde die entschiedene Neigung des späten Goethe, sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen, nicht ohne Sorge betrachtet; so schrieb der urbane und weltoffene Wilhelm von Humboldt am 30. Juli 1819 über Goethe an seine Frau Caroline: „Das einzige, was ich mit einer Art Schmerz an ihm bemerkte, ist, daß er doch in seinem einsamen Leben sich so in sich zu vertiefen, in allen seinen Ideen, ohne in neuere Ansichten einzugehen, ehern zu werden und sich so zu beschränken scheint.“[18]
Es ist zu fragen, welche Konsequenz die Goethesche Einsamkeit als zu­nächst erzwungene und dann freiwillig gesuchte Distanz zum Alltag, zur Gesell­schaft und schließlich zum Zeitgeist für sein schriftstellerisches Werk besessen hat. Tatsächlich läßt sich Goethes Spätwerk sowohl thematisch als auch formal als große Poesie der Einsamkeit lesen. Am 22. April 1814 schickt Goethe an Zelter den Vierzeiler:

Zu verschweigen meinen Gewinn
Muß ich die Menschen vermeiden
Daß ich wisse woran ich bin
Das wollen die andern nicht leiden.[19]

Dies formuliert die soziale Bedingung der Poesie der Einsamkeit des späten Goethe: die selbstgewählte Isolation vom literarischen Publikum und dessen Urteil um der Ermöglichung des Werks als des eigentlichen Lebensgewinns willen. Diesem Spruch lassen sich viele vergleichbare aus dem Spätwerk zur Seite stellen, die alle eine Poetik der Publikumsfeindschaft formulieren, die die Einsamkeit als poetische Existenzweise voraussetzt:

Man kann nicht immer zusammen stehn,
Am wenigsten mit großen Haufen.
Seine Freunde die läßt man gehn,
Die Menge läßt man laufen.[20]

Und so stehen denn auch Figuren der Einsamkeit im Zentrum von Goethes Spätwerk. Goethes dramatisches Spätwerk wird von dem Festspiel Pandora eröffnet, dessen Hauptfigur ein Einsamer ist: Epimetheus, den seine Frau Pandora, die allegorische Verkörperung der Schönheit, verlassen hat und der sich nun, melancholisch auf sich selbst zurückgeworfen, in einer modernen Welt zurechtzufinden hat, die von der instrumentellen Vernunft, wie sie sein Bruder Prometheus verkörpert, und von kriegerischen Gewalt­verhältnissen bestimmt wird. Sein Leben ist der unabschließbaren Trauer um den Verlust der Schönen und damit des Schönen gewidmet:

Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist,
Fliehe mit abegewendetem Blick!
Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist,
Zieht sie, ach! reißt sie ihn ewig zurück.[21]

Goethe hatte bei der Konzeption des Stücks fest geplant, ihm einen zweiten Teil unter dem Titel Pandorens Wiederkunft hinzuzufügen, dessen Inhalt eben derjenige sein sollte, den der Titel versprach: die Versöhnungs­phan­tasie der Rückkehr Pandoras in die Wirklichkeit. Aber diesen zweiten Teil des Dramas, den er schon genau schematisiert hatte, hat Goethe dann doch nicht mehr geschrieben: Das Schöne kehrt nie mehr in die Welt zurück, Epimetheus, der Repräsentant des sentimentalisch-selbstreflexiven Menschen der Moderne, bleibt auf immer einsam in der von Gewalt und Nützlichkeits­denken geprägten Wirklichkeit zurück. Die Prognose auf die „große Einsam­keit“, der die Weimarischen Kunstfreunde nach dem Tod Schillers entgegen sehen, hatte Goethe nicht lange vor der Niederschrift des Dramas formuliert, und es ist auch diese große Einsamkeit, die sich in dem Stück reflektiert. Es ver­abschiedete alle Illusionen des klassischen Jahrzehnts über eine Erneue­rung der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus dem Geist der ästhetischen Erzie­hung und mußte gerade deshalb Fragment bleiben: das unvollendete Drama Pandora als Poesie der Einsamkeit.
Einsame sind, jeder für sich, auch die vier liebeskranken Helden des Romans, der Goethes erzählerisches Alterswerk eröffnet: Die Wahlverwandt­schaften. Er erzählt die Geschichte eines Ehepaars, das auf einem Landgut nur sich selbst, also einsam, zu leben gedachte, dessen Leben aber durch die Hin­zu­ziehung zweier weiterer Menschen aus den Fugen gerät. Ihre Katastrophe vollzieht sich als Prozeß wachsenderVereinsamung eines jeden von ihnen: Die eine, Ottilie, zieht sich so sehr „in sich zurück“, dass sie schon am Ende des ersten Teils „nichts weiter zu sagen“ weiß[22] und nur noch in Form ihres Tagebuchs mit sich und der Welt kommunizieren kann, der andere, Eduard, flieht in seiner Sehnsucht nach dem „Untergang“[23] in die Kommunikations­katastrophe des Kriegs, der eine, der Hauptmann, ergeht sich in einem kom­mu­ni­kationsunabhängigen Pragmatismus, die andere, Charlotte, in einer kom­mu­nikationsresistenten Moralität, bis sie sich am Ende, durch Neigung und Begehren einander zugetan, jeder für sich so sehr verinselt haben, dass zwei von ihnen sterben und die beiden anderen so erstarrt und schicksalslos zurückbleiben, dass der Roman von ihrem Fortleben nichts mehr zu sagen weiß. Die Einsamkeit aller Beteiligten ist um so trostloser, als sie durch Liebe begründet und durch Mitgefühl stabilisiert wird. Jeder bleibt auf sich selbst zurück­geworfen, weil er jederzeit in die Seele des anderen blicken kann:
Sie [Ottilie] mußte sich dabei der geräuschvollen Geschäftigkeit erinnern, mit welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeiert, sie mußte des neugerichteten Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich soviel Freundliches ver­sprach. Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einsamer sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie fühlte sich auch nur um desto mehr allein. Sie lehnte sich nicht mehr auf seinen Arm, und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stütze zu finden.[24]
Als Poesie der Einsamkeit läßt sich auch der im Winter 1807/08 entstan­dene 17 Stücke umfassende Sonettenzyklus lesen, mit dem auf dem Gebiet der Lyrik das Goethesche Alterswerk einsetzt: das Zeugnis der zum Scheitern verurteilten Leidenschaft des alternden Dichters gegenüber der achtzehn­jähri­gen Wilhelmine Herzlieb, die Goethe selbst in einem Brief an Zelter „mehr wie billig“ genannt hat.[25] In einem um 1823 verfaßten Paralipomenon zu den Tag- und Jahres-Heften hat er seine Liebe zu Minchen Herzlieb als ein Kompen­sationsphänomen für die 1807 in Jena erneut wachgewordene „Sehnsucht nach dem Abgeschiedenen“, nach Schiller also, und damit als einen Effekt seiner Vereinsamung charakterisiert, wobei sich der Schmerz über den „auf ’s neue empfundenen Verlust“in „Liebe und Leidenschaft“ zu einem jungen Mäd­chen verwandelt habe, „die, wie alles Absolute, was in die bedingte Welt tritt, vielen verderblich zu werden drohte“.[26] Deshalb bildet die Achse des Sonettzyklus der Imperativ zur Entwöhnung von der zum Ideal verklärten Geliebten; das Lebensalter schreibt ihm sein „Geschick“, die Entfernung von der jungen Frau, zwingend vor, und danach sublimiert sich diese Liebe in das Glück der Erinnerung und die Leidenschaft in den Glanz ihrer formalen Bewältigung im Sonett: „Was man Geschick nennt, läßt sich nicht versöhnen, / Ich weiß es wohl und trat bestürzt zurücke.“[27] Zurück in die Einsamkeit.
Und so läßt sich das Goethesche Spätwerk in großen Teilen als Poesie der Einsamkeit lesen: die Marienbader Elegie nicht nur, sondern ebenso Wilhelm Meisters Wanderjahre, denn der Held auch dieses Romans ist und bleibt ein Ein­samer, der die Geliebte, um deretwillen er seine lange Wanderung unter­nimmt, im gesamten Roman nur ein einziges Mal durch ein Fernrohr zu sehen bekommt, bevor sie ganz nach Amerika entschwindet. Ein Einsamer ist schließlich auch der Faust des zweiten Teils der Tragödie, der der Liebe allenfalls in Gestalt einer Phantasmagorie teilhaftig wird und sich in dem Moment, in dem diese sich in Wolken auflöst, in einen bin­dungs­unfähigen Militär- und Modernisierungstycoon verwandelt, der ver­gessen hat, was Liebe ist und dementsprechend handelt. Deshalb bedarf es am Ende in der Berg­schluchtenszene auch eines gewaltigen Liebes­aufwands, um dennnoch Fausts Erlösungsfähigkeit dramatisch unter Beweis zu stellen.
So ist die Einsamkeit als Lebensform in der Thematik von Goethes Spät­werk allgegenwärtig, auch wenn er den Begriff selbst dort weitgehend gemie­den hat. Aber die selbstgewählte Einsamkeit als Distanz zu den Anforde­rungen des Alltags, der Gesellschaft und des Zeitgeists stellt nicht nur in thema­tischer, sondern ebenso in formaler Hinsicht eine Bedingung für den spezifischen Charakter des Goetheschen Spätwerks dar. Es ist das Werk eines Autors, der sich auch im Hinblick auf die künstlerische Form um die An­forderungen des Zeitgeists nicht mehr scherte und seine Distanz zum Publikum als einen Zugewinn an künstlerischer Freiheit definierte: „Wer dem Publikum dient, ist ein armes Tier; / Er quält sich ab, niemand bedankt sich dafür.“[28] Nach dieser Maxime hat er konsequent in seinem Spätwerk gehan­delt; es ist Poesie der Einsamkeit auch in dem Sinne, dass ihm die selbst­gewählte Isolation und die rigorose Distanz zu den Anforderungen des Publikums überhaupt erst jene formale Radikalität ermöglichte, die das Alterswerk Goethes insgesamt auszeichnet. Die für ein Drama unerhörte Ausweitung des Versrepertoires, die Goethe 1807 in Pandora vornahm, und die hochstilisierte Kunstsprache des Stücks mit ihren Verkürzungen, Verdich­tungen und neuen Wortkompositionen überforderten die Rezeptionsgewohn­heiten nicht nur des zeitgenössischen Publikums erheblich. Der Erzähler der Wahlverwandtschaften gebärdet sich vom ersten Satz an so, als gelte es, ein Exer­zitium in romantischer Ironie besonders glanzvoll zu absolvieren: „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte […]“.[29] Goethe wußte, was er dem Publikum mit diesem Roman inhaltlich und formal zumutete, und hat ihn deshalb auch als Flaschenpost an den engen Kreis seiner bewährten Freunde definiert: als ein, wie es 1809 in einem Brief an Zelter heißt, „Mittel“, „mich mit meinen auswärtigen Freunden wieder einmal vollständig zu unterhalten.“[30] Überall in seinem Alterswerk polt Goethe das Gefühl der geistigen Isolation und der Verlassenheit vom Zeit­geist in eine produktive Distanz zum zeitgenössischen Publikum um, die ihm seine provozierende Altersradikalität in allen künstlerischen Formfragen erlaubt. Der Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre unterläuftin seiner komplexen Verschachtelung von Romanhandlung und eingeschalteten No­vellen und in seiner offenen Struktur bis heute die gattungstheoretischen Kate­gorisierungswünsche der Literaturwissenschaft, und im Falle der „sehr ernsten Scherze“[31] des zweiten Faust stand Goethe das Provokations­potential des Werks so deutlich vor Augen, dass er die radikalste Konsequenz zog, die ein Autor ziehen kann: Er entzog es den Augen der lesenden Welt. Die Mißachtung war wechselseitig: Keines der Goetheschen Alterswerke war ein Erfolg beim Publikum. Sie repräsentieren also nicht nur thematisch und formal, sondern auch im Blick auf ihre Aufnahme beim Publikum eine Poesie der Einsamkeit.
Es entspricht der Goetheschen Alterseinsamkeit als einer selbst­ge­wählten produktiven Isolation von den Ansprüchen der Zeit, dass sein Verhältnis zum eigenen Werk, aber auch zur Kunst insgesamt historisch, ja geradezu museal wurde. Mit dem Tod Schillers erloschen die Innovations­impulse des Weimarer Klassizismus für immer, und das Projekt einer lebendigen Kunst- und Kulturerneuerung aus dem Geist der griechischen Antike mündete in Kunstgeschichte und Philologie: Im Jahre 1804 wurde der Nachlaß des großen Klassizisten Asmus Jacob Carstens für die herzoglichen Sammlungen angekauft und damit musealisiert; im Jahre 1805 gab Goethe das Sammelwerk Winckelmann und sein Jahrhundert heraus, das das klassizistische Projekt durch die Methodenkoppelung von Edition und Kunstgeschichtsschreibung gegen die eigene Absicht unwiderruflich historisierte; im Jahre 1808 erschien der erste Band der von Goethe nach­drücklich geförderten und zunächst von Carl Ludwig Fernow und Heinrich Meyer herausgegebenen Winckelmann-Aus­gabe. Der Klassizismus trat damit endgültig in seine retrospektive Phase ein; das Jahrhundert Winckel­manns war zuende. Charakteristisch für den defen­siv-retrospektiven Charak­ter all dieser Unternehmungen, charakteristisch aber auch für die strategische Dimension der Goetheschen Einsamkeit als Abwehr der Zumutungen des Zeitgeists sind die Sätze, mit denen Goethe im Jahre 1807 seinen Ministerkollegen Voigt für die Förderung des editorischen Lang­frist­vorhabens der Weimarer Winckelmann-Ausgabe zu gewinnen suchte: „Ich kann in meiner gegenwärtigen Stille keine andern Plane hegen als solche, die darauf hinausgehen, daß Weimar seinen alten literarischen Ruf erhalten und von dieser Seite bedeutende Wirkungen äußern möge, zu einer Zeit, da unsre Widersacher, besonders seit den letzten Unfällen, uns so gern für ver­nichtet erklären möchten.“[32] Wissenschaftsförderung also als standort­orien­tierte Kulturpolitik, aber auch als defensiv-retrospektive Abwehr innovativer Kulturentwicklungen im Zeichen der Romantik, die an anderen Orten – zum Beispiel in Berlin oder Heidelberg – bessere Entfaltungsmöglichkeiten be­saßen. Dabei mußte dennoch das von Goethe gewählte Mittel zur Sicherung der kulturellen Standortvorteile Weimars, die Edition, den histo­risch-muse­alen Charakter der Kulturansprüche der Stadt nach dem Tod Schillers ins Bewußtsein heben; schließlich sind auch die acht Bände der Weimarer Winckelmann-Ausgabe, die in Goethes Bibliothek stehen, weit­gehend unauf­geschnitten geblieben, Goethe selbst hat also kaum in ihnen gelesen.
Die Tendenz zur Historisierung und zur Musealisierung erfaßte nach 1805 auch Goethes eigene schriftstellerische und seine Sammlungspraxis. Spä­testens seit dem Oktober 1809, als er das erste Schema zu Dichtung und Wahr­heit entwarf, war Goethe als Schriftsteller – und dies bis an sein Lebensende – nicht zuletzt ein Autobiograph, der sich im Rückblick auf das Erlebte und Geleistete und in Abgrenzung von den seine Schreibsituation bestimmenden epochalen Tendenzen seiner Identität versicherte und dabei zugleich seine eigene Existenz konsequent historisierte. Die schriftstelle­rische Selbsthistori­sie­rung aber hob die Einsamkeit des Dichters nicht auf, sondern begründete und stabilisierte sie im Medium der Selbstreflexion. Auch als Sammler schließ­lich bildete Goethe nach 1805 ein historisierendes und musealisieren­des Verhältnis zur Kunst aus: Erst nach dem Tod Fernows 1808 baute er gezielt und systematisch seine graphische Sammlung auf und unterwarf sie fortan einer kunsthistorischen Strukturierung. Die Einsamkeit des Dichters in seiner Epoche und seine fortschreitende Neigung zur Historisierung nicht nur seines Lebens, sondern auch der Kunst stehen in einem Bedingungs­verhältnis.
Im Falle des eigenen Werks bildete die Erarbeitung der Gesamtausgabe die Entsprechung zur Neigung des späten Goethe zur Historisierung und Musealisierung der Kunst. Am 21.2.1806 schloß Goethe die Redaktions­ar­beiten am ersten Band der geplanten Werkausgabe ab; die 13 Bände um­fassende Ausgabe Goethe’s Werke erschien in zügiger Folge in den Jahren 1806 bis 1810 bei Cotta.Daß Goethe die Ausgabe so rasch vorangetrieben hat, bildete nicht zuletzt eine Konsequenz der weltpolitischen Lage. Nach dem Sieg der napoleonischen Streitkräfte über das preußisch-sächsische Heer bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 hat Goethe als Zuschauer des poli­ti­schen Schiffbruchs alles daran gesetzt, in einer großen editorischen Rettungs­aktion sein literarisches Lebenswerk in einen sicheren Hafen zu bringen; an Zelter schrieb er wenige Wochen nach der Niederlage, die nicht zuletzt eine katastrophale Niederlage seines Herzogs war: „Die Farbenlehre schreitet stark vor. Auch werden meine Ideen und Grillen über die organische Natur nach und nach redigiert und so will ich von meinem geistigen Dasein zu retten suchen was ich kann, da Niemand mehr weiß, wie es mit dem Übrigen werden wird.“[33]Dies könnte als Motto über der produktiven Einsamkeit seines Alters stehen: von seinem geistigen Dasein zu retten, was gerettet werden konnte. Er tat damit dasjenige, was er nach dem Tod Schillers zu tun sich vorgenommen hatte: das „Nächste“, und das Nächste war ihm nun einmal das eigene Werk. So hat er denn in den politischen Turbulenzen der Jahre nach der Niederlage Preußens alles daran gesetzt, im Medium seiner Gesamtausgabe, während um ihn her alles zusammenbrach, „der Vergessen­heit und Vergänglichkeit zu entziehen was ich gedacht und allenfalls geleistet habe“;[34] so schrieb er an Zelter im März 1807 in dem Brief, mit dem er diesem den ersten Band seiner Werke übersandte.
Dabei überrascht die Konsequenz, mit der Goethe sich parallel zur Arbeit an der Werkausgabe und auf der Höhe der politischen und militärischen Konflikte aus allen öffentlichen Angelegenheiten zurückzog, dies Geschäft geradezu fluchtartig und panisch seinen Ministerkollegen überließ und sich statt dessen dem „Nächsten“, der pragmatischen Sicherung seiner Lebensver­hältnisse und seines Werks, widmete und sich im übrigen in sein „Innerstes“, den Schutzraum der schöpferischen Einsamkeit, zurückzog. In dem selben Brief, in dem er Zelter wenige Wochen nach der Schlacht von Jena und Auer­stedt von seinen Maßnahmen zur editorischen Rettung seines Werks unter­richtete, findet sich der Satz: „Es war nicht Not mich der öffentlichen Ange­legen­heiten anzunehmen, indem sie durch treffliche Männer genugsam besorgt wurden; und so konnt’ ich in meiner Klause verharren und mein Innerstes bedenken.“[35] Auch dies bezeichnet den spezifischen Charakter der Goetheschen Einsamkeit: Während im Äußeren alles zusammenbricht, bedenkt und sichert er sein Innerstes. Und während Zelter nach dem Zu­sammenbruch Preußens seine Realitätstüchtigkeit unter großen persön­lichen Opfern dem Magistrat der Stadt Berlin zur Verfügung stellt, stellt Goethe sich in seiner „Klause“ gleichsam tot, als sei er der Welt bereits abhanden ge­kommen, während er sich in Wahrheit doch nur dem ihm Nächsten widmet; am 30. August 1807 schreibt er an Zelter, den Freund und sich selbst nach dem ungleichen Brüderpaar Prometheus und Epimetheus aus seiner Pandora stilisierend: „Es ist wirklich etwas prometheisches in Ihrer Art zu sein, das ich nur anstaunen und verehren kann. Indessen Sie das kaum zu ertragende gefaßt und gelassen tragen und sich Plane zu künftiger erfreulicher und schaffender Tätigkeit bilden, habe ich mich wie ein schon über den Cocyt Abgeschiedener verhalten und an dem letheischen Flusse wenigstens ge­nippt.“[36] Sich ganz auf das Innerste und Nächste zu konzentrieren, hieß in dieser Zeit der kriegerischen Bedrohung eben auch, sich aus dem politischen Raum zurückzuziehen.
Nach dieser Maxime hat er als für Wissenschaft, Kunst und Theater zuständiger Minister nach 1805 konsequent gehandelt: Er hat seine Ent­schei­dun­gen nie im Rahmen politischer Struktur- und Rahmenüber­le­gungen getroffen, die über einen Hinweis auf die gefährdeten Zeiten hinaus­gegangen wären, sondern sich immer im Rahmen seiner Doppelstrategie der Einsam­keitsbewältigung auf die pragmatische Erledigung des „Nächsten“ konzen­triert. Er hat also in den Jahren nach Schillers Tod und dann vor allem nach der Schlacht von Jena weniger als Wissenschafts- und Kulturpolitiker operiert, der aktuelle Entscheidungen vor dem Hintergrund langfristiger Strukturplanungen trifft, sondern als wissenschaftlich und kulturell hochkom­petenter Verwaltungsjurist, der die aktuellen Probleme in den ihm anver­trauten Institutionen identifiziert und sie zügig einer pragmatischen Lösung zuführt. Charakteristisch für die von Goethe bewußt vorgenommene Abkop­pe­lung der Wissenschaftsverwaltung von den politischen Rahmenbedingun­gen in diesen Krisenjahren ist sein Briefwechsel mit dem Ministerkollegen Christian Gottlob Voigt, mit dem er die Oberaufsicht über das fürstliche Museum zu Jena teilte, zu dem das anatomische und das naturhistorische Museum sowie das botanische Institut gehörten. Am 16. August 1806 teilt Voigt Goethe mit, dass er soeben das Abdankungspatent Franz II. erhalten habe, der zehn Tage zuvor die deutsche Kaiserkrone niedergelegt hatte. Voigt verbindet diese Nachricht mit ausführlichen Räsonnements über den „Notstand der Zeit“ und die welthistorische Bedeutung dieses Ereignisses: „Das römische Kaiserwesen steht nun in der Reihe der untergegangenen Reiche.“[37] Goethe nun sagt zwar in seinem Antwortbrief vom 19. August „gehorsamsten Dank für die Mitteilung Grund habender Neuigkeiten“, kom­mentiert das welthistorische Ereignis selbst aber mit keinem Wort, sondern gibt sich mit der ordnungsamtlichen Feststellung zufrieden, dass mit diesen Informationen dem „Märchen produzierenden Talent der Jenenser“ ab jetzt der Boden entzogen sei. Von dort geht er unmittelbar zu den anstehenden Geschäften über: der Museumsabrechnung, einer Besprechung mit dem Historiker Heinrich Luden, der Inventarisierung der mineralogischen und zoologischen Sammlung durch den Museumskustos Johann Georg Lenz. Es ist also das „Nächste“, dem seine Sorge gilt, und nicht das große Ganze, auf das Voigt in dieser Situation seinen Blick richten muß. Goethe ist die Dis­proportion seiner Aufmerksamkeit auf die „Museumsrechnung“ zum allgemeinen Interesse am Ende des Reichs natürlich vollkommen bewußt, und es ist nun bemerkenswert, wie er seine briefliche Umfokussierung vom politisch Größten aufs administrativ Nächste begründet: „Ich möchte mit meinem Aufborgen, Abzahlen, etatsmäßigen Leisten und Amortisieren Ew. Exzellenz nicht ungeschickt erscheinen. Es sind zwar nur Kleinigkeiten; es ist aber nicht übel, wenn man selbst in ältern Jahren Kleinigkeiten noch so behandelt, wie man das Große behandeln möchte und sollte.“[38] Diese Bot­schaft ist eindeutig: Goethe erhebt in dieser Situation eines welthistorischen Umbruchs die institutionelle Verantwortung für das „Nächste“, die ihm anvertrauten wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen und deren Mitarbeiter, zum politischen Handlungsmodell für „das Große“: die politi­sche Verantwortung für die Staaten und die konkrete Verantwortung für deren Bürger. Hier gewinnt die Goethesche Einsamkeit, der Rückzug aufs „Nächste“ und ins „Innerste“, ihre politische Dimension: nicht im Sinne eines apolitischen Quietismus, sondern im Sinne eines politischen Handelns im Zeichen der konkreten individuellen Verantwortung aller politischen Akteure für die ihnen anvertrauten Institutionen und diejenigen, die in ihnen leben. So wie er sich um das Museum kümmerte, so „sollten“sich die Regenten um das „Große“ der Staatenwelt kümmern: mit dem Blick auf Bedeu­tung, Nutzen und Tradition der ihnen anvertrauten Institutionen und mit Sorge für den einzelnen, für jene „Kleinigkeiten“, die so leicht unter die Räder der welthistorischen Prozesse geraten.
Nach dieser Maxime hat Goethe in den Jahrzehnten nach Schillers Tod unter den Bedingungen mannigfacher politischer und militärischer Gefähr­dungen operiert: im Sinne der Erhaltung und Förderung des ihm anver­trauten „Nächsten“ unter möglichster Ausklammerung aller Bedingun­gen, die die weltpolitische Lage mit sich brachte, und aller Zumutungen, die der auf die politischen Entwicklungen reagierende Zeitgeist an ihn richtete. Dabei half Goethe die Rollenverteilung zwischen seinem Ministerfreund Voigt und ihm selbst ganz außerordentlich: Er ließ Voigt, wie er ihm am 26. August 1806 schrieb, „die wichtigsten Sorgen für Gegenwart und Zukunft“[39] über­nehmen, konnte sich damit das aktuelle politische Räsonnement ersparen und heftete, in ständiger Abgrenzung des ihm anvertrauten Kleinen von dem sich seinem Zugriff entziehenden Großen, seinen Blick auf das Nächste, also zum Beispiel auf die Finanzierung der Jenenser wissenschaftlichen Sammlungen; über deren Haushalt schrieb er wenige Wochen vor der Schlacht von Jena und Auerstedt an Voigt: „Würde in dem Laufe des Jahres unsere Supellex [die Ausstattung] etwas gar zu knapp, so wäre es immer noch Zeit, allenfalls ein paar hundert Taler aufzunehmen. Soviel von diesen kleinen wissenschaft­lichen Finanzen. Möge im Großen alles gelingen, daß wir, wo nicht zu den Gewinnenden, doch wenigstens nicht zu den Verlierenden gerechnet werden.“[40] Es gelang aber im Großen keineswegs alles, und so gehörte denn schon wenige Wochen später das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach entschieden zu den Verlierenden. Und da tat nun Goethe bereits wenige Tage nach der verlorenen Schlacht von Jena dasjenige, was zu tun er sich an­gewöhnt hatte: Er richtete den Blick auf das ihm anvertraute Nächste. Während sich Voigt auf die Folgen der Niederlage für das gesamte Herzog­tum und damit auf gewaltige Kontributionen einzurichten hatte, dachte Goethe an die seiner Aufsicht unterstellten Jenenser naturwissen­schaftlichen Sammlungenund deren finanzielle Sicherung in einer Situation allgemeiner institutioneller Auflösung. Er sah, dass im allgemeinen Chaos eingetreten war, was er in Friedenszeiten in seinem Brief an Voigt acht Wochen zuvor bereits als Befürchtung ausgesprochen hatte: dass es im Haushalt der Jenenser Sammlungen zu Engpässen kommen und die Nach­bewilligung von „ein paar hundert Talern“ notwendig werden könnte. Eine Woche nach der verlorenen Schlacht, am 21. Oktober 1806, schrieb er deshalb an Voigt: „Möchten Ew. Exzellenz nicht etwa 100 oder 200 Rtlr. auszahlen lassen, daß ich nur einen kleinen Fond hätte, um für diesen Winter die jenaischen Dinge kümmerlich durchzuführen?“[41] In Initiativen wie dieser bewährte sich die Goethesche Doppelstrategie der Lebensbewältigung, auf die er sich nach dem Tod Schillers einzurichten begonnen hatte: Einsamkeit als produktive Lebensform jenseits der Ansprüche und Prioritäten, die von der allgemeinen Lage und vom Zeitgeist vorgeschrieben wurden, in Verbindung mit pragmatischer Tätigkeit im lokalen wie temporalen Nahbereich im Sinne einer konkreten Verantwortung für dasjenige, was ihm anvertraut war.


[1] Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abtheilung, Bd. 36, Weimar 1893, S. 266. – Die Anmerkungen beschränken sich, wie es dem Charak­ter einer philologischen Skizze gemäß ist, auf die Zitatnachweise. Es soll aber vermerkt werden, dass diese Skizze wichtige Anregungen im Hinblick auf Goethes Haltung zu den Zumutungen des Zeitgeists den aus dem Nachlaß veröffentlichten Goethe-Texten Hans Blumenbergs ver­dankt; Hans Blumenberg: Goethe zum Beispiel. In Verbindung mit Man­fred Sommer hg. vom Hans Blumenberg-Archiv. Frankfurt am Main und Leipzig 1999.
[2] Arthur Henkel: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman. Tübingen 1954, S. 2. Zur gegenwärtigen Diskussion um den Begriff der Entsagung bei Goethe vgl. den von Hans-Jochen Gamm verfaßten Artikel „Entsagung“ im Goethe Handbuch. Hg. von Bernd Witte u.a. Bd. 4/1. Stuttgart/Weimar 1998, S.268–270. Einen Artikel „Einsamkeit“ ent­hält das Goethe Handbuch bezeichnenderweise nicht – im Unterschied zu seinem acht Jahr­zehnte älteren Vorläufer: Goethe-Handbuch. Hg. von Julius Zeitler. Bd. I. Stuttgart 1916, S. 464–466.
[3] Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Aus­gabe. Bd. 20.1. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. München/Wien 1991, S. 98. (die Bände der Münchner Ausgabe werden im folgen­den mit der Sigle MA zitiert.)
[4] Ebd., S. 197.
[5] Ebd., S. 198.
[6] Ebd., S. 309.
[7] Ebd., S. 324.
[8] Ebd., S. 103.
[9] Ebd., S. 106.
[10] Ebd., S. 108.
[11] Ebd., S. 155f.
[12] Ebd., S. 183.
[13] Goethes Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt. Bd. III. Unter Mitwirkung von Wolf­gang Huschke bearbeitet und hg. von Hans Tümmler. (Schriften der Goethe-Gesell­schaft. Bd. 55.) Weimar 1955, S. 145.
[14] Ebd., S. 179.
[15] Ebd., S. 230.
[16] Ebd., S. 249.
[17] Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer. Hg. von Max Hecker. Bd. 2. (Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 34.) Weimar 1919, S. 370f.
[18] Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hg. von Anna von Sydow. Bd. 6. Im Kampf mit Hardenberg 1817-1819. Berlin 1913, S. 580.
[19] MA 20.1, S. 346; MA 9. Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814, München/Wien 1987, S. 106.
[20] MA 9, S. 134.
[21] Ebd., S. 176.
[22] Ebd., S. 401.
[23] Ebd.
[24] Ebd., S. 416.
[25] MA 20.1, S. 311.
[26] WA I, Bd. 36 (wie Anm. 1), S. 391.
[27] MA 9, S. 15.
[28] MA 9, S. 134.
[29] Ebd., S. 286.
[30] MA 20.1, S. 211.
[31] So Goethe am 17. März 1832 in seinem letzten Brief an Wilhelm von Humboldt; Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander v. Humboldt. Hg. von Ludwig Geiger. Berlin 1909, S. 287.
[32] Goethes Briefwechsel mit Voigt (wie Anm. 11), S. 161.
[33] MA 20.1, S. 142.
[34] Ebd., S. 143.
[35] Ebd., S. 142.
[36] Ebd., S. 162f.
[37] Goethes Briefwechsel mit Voigt (wie Anm. 11), S. 121.
[38] Ebd., S. 122.
[39] Ebd., S. 125.
[40] Ebd., S. 125f.
[41] Ebd., S. 137.

Mit freundlicher Genehmigung der Akademie der Wissenschaften und der Künste Mainz

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Über Osterkamp Ernst 1 Artikel
Prof. Dr. Ernst Osterkamp, geboren 1950, studierte in Münster Germanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie. 1992 war er Gastprofessor an der Universität Würzburg. Seit 1992 ist erProfessor für Neuere deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Humboldt-Universität zu Berlin.

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