„Der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren.“, ist in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ zu lesen. Seit der Antike beschäftigt homo sapiens sapiens sein eigenes Ich. Dazu wurde er philosophisch analysiert und „auf Herz und Nieren“ untersucht. Man hat ihn verdrahtet, geröntgt, in Computertomografen geschoben und seziert. Jüngstes Ergebnis: die Entzifferung unserer eigenen Programmiersprache. Eigentlich, so meinte man, müsste damit auch das letzte Rätsel unseres so rätselhaften Ichs gelöst sein. Allerdings ist die Wissenschaft immer noch nicht dahinter gekommen, wie diese merkwürdige Rechensubstanz in unserem Schädel, die uns zu dem macht, was wir sind, tatsächlich funktioniert und woher diese flüchtigen und unfassbaren Gedanken kommen, die uns täglich durch den Kopf gehen. Sie haben weder Form noch Geruch noch irgendeine andere körperliche Gestalt. Und trotzdem basieren sie auf einer physischen Grundlage und hängen direkt vom Funktionieren dieses rätselhaften, anderthalb Kilogramm schweren Kontrollzentrums ab, als das unser „rosiger Wackelpudding“ fungiert.
Eines scheint jedoch mittlerweile ziemlich sicher zu sein: Wir haben über die meisten unserer Handlungen, Gedanken und Empfindungen keinerlei bewusste Kontrolle. „Im undurchdringlichen Dickicht unserer Neuronen laufen eigenständige Programme ab. Unser Bewusstsein – das 'Ich' (…) – macht nur den kleinsten Teil dessen aus, was in unserem Gehirn abläuft.“, erklärt David Eagleman. Da unser Gehirn ihm größtenteils den Zugang verweigert, kann man es eher mit einem blinden Passagier auf einem Ozeandampfer vergleichen, „der behauptet, das Schiff zu steuern, ohne auch nur von der Existenz des gewaltigen Maschinenraums im Inneren zu wissen.“ Blaise Pascal formulierte diese Kontroverse treffend: „Der Mensch ist gleichermaßen außerstande, das Nichts zu sehen, dem er entstammt, wie das All, das ihn umgibt.“
Um diese erstaunliche Tatsache geht es in dem Buch des US-amerikanischen Neurowissenschaftlers und Schülers des legendären Biologen Francis Crick. Sind wir vielleicht doch mehr als nur ein Neuronenbündel, die Summe von einzelnen Bauteilen? Steuert das Gehirn unseren Laden wirklich inkognito? Und ist „in jedem von uns (…) auch ein anderer, den wir nicht kennen.“, wie es Carl Gustav Jung schrieb? Eagleman führt den Leser auf äußerst unterhaltsame Art und Weise durch diese gewaltige und geheimnisvolle Fabrik, die im Hintergrund rattert. Mittels zahlreicher Fallbeispiele führt er vor, dass unser Bewusstsein tatsächlich nicht die Fäden in der Hand hält und das Geschehen bestenfalls als leises Flüstern registriert. Ganz nach dem Motto von Augustinus (354 – 430), der bekundetet: „Ich fasse selbst nicht ganz, was ich bin.“, wirbelt David Eageman in seinem spritzigen, äußerst aufschlussreichen und interessanten Buch vermutliche Erkenntnisse gehörig durcheinander.
Auch wenn letztendlich ersichtlich wird, dass unsere Wahrnehmung nicht nur eine unvollständige bis falsche Rekonstruktion der Welt ist und wir nicht das sehen, was wir vor Augen haben, sondern nur dass, was uns unser Gehirn sagt, so verschaffen wir schon allein durch unseren Geist dem Gehirn Licht, das unweigerlich und lebenslang zum im Dunkeln sitzen verdammt ist. Nach der Lektüre jedenfalls muss die eingangs geäußerte Aufforderung „Erkenne dich selbst“ in einem völlig neuen Licht betrachtet werden. „Zur Selbsterkenntnis gehört dann auch die Einsicht, dass unser bewusstes Ich im Schloss des Gehirns nur einen kleinen Raum bewohnt und kaum Einfluss auf die Realität hat, die das Gehirn präsentiert.“, so der Autor. Und auch wenn unsere Wirklichkeit offensichtlich von unserer Biologie abhängt, haben wir diesen Zusammenhang noch lange nicht verstanden, obwohl wir die Bauteile bereits identifiziert haben. Denn wenn „unser Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir nicht intelligent genug, um es zu verstehen.“ Eines ist jedoch unbestritten: Es ist das Erstaunlichste, was das Universum hervorgebracht hat.
David Eagleman
Inkognito
Das geheime Eigenleben unseres Gehirns
Campus Verlag, (Februar 2012)
328 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3593389746
ISBN-13: 978- 3593389745
Preis: EURO
Kommentar hinterlassen
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.