Éric Vuillard. Der Krieg der Armen. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Berlin (Matthes & Seitz) 2020, 68 S., 16,00 € . ISBN 978-3-95757-837-2.
Spätestens seit der Veröffentlichung seines Romans „Die Tagesordnung“ (2017), für den er den hoch dotierten Prix Goncourt erhielt, ist Eric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, der Vertreter eines neuen Genres in der französischen Erzählliteratur geworden. Er verzichtet auf eine opulente Entfaltung großer historischer Themen zugunsten der Fokussierung auf einzelne Geschehnisse, in denen sich politische Triebkräfte schlaglichtartig entfalten. Die Voraussetzungen dafür bestehen nicht nur in der Umsetzung von spezifischen narrativen, syntaktischen und stilistischen Verfahren. Vielmehr noch kennt er sich in der neueren französischen Geschichte wie auch in der mythisierten amerikanischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts aus. Außerdem spürt er die mitteleuropäischen revolutionären Abläufe im späten Mittelalter wie auch der frühen Neuzeit auf. So erfasst er in „14. Juli“ (2018) die Französische Revolution ebenso unter spezifischen Blickwinkeln wie auch die Anfänge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in „Die Tagesordnung“. Und in dem gerade erschienenen „Der Krieg der Armen“ beschreibt er fokusartig gewaltgeladene Abläufe vor und während des deutschen Bauernkriegs zwischen 1524 und 1525. Zwischen den Buch-Kapiteln ‚Die Geschichte von Thomas Müntzer’ und ‚Müntzer enthauptet’ zündet er ein Feuerwerk, das eine Reihe von eigenwilligen Themen aufgreift. Es sind biografische Fakten, die Kindheit und Jugend von Thomas Müntzer markieren, und theologische Argumente, die auf das im 16. Jahrhundert von Glaubenskämpfen erschütterte kirchliche Lehrwerk verweisen. Außerdem setzt sich Vuillard mit der Entstehung des Druckgewerbes auseinander, das die Verbreitung der Flugschriften ermöglichte. Er berichtet über die Bauernrevolten im England des 14. Jahrhunderts, wirft Schlaglichter auf Müntzers frühe Tätigkeit als Prediger im sächsischen Zwickau und als engagierter Beobachter der hussitischen Revolte gegen die katholische Kirche in Prag.
Um 1520 vollzieht Müntzer eine radikale inhaltliche Wende in seinen Predigten. Sein Wort wendet sich gegen Latein als die Amtssprache der Kirche, es klagt in seinen Messen im sächsisch-anhaltinischen Allstedt einen verbitterten Christus an, es revoltiert gegen die christliche Vernunft des Erasmus von Rotterdam. Das Wort Müntzers will nun eine Seele verkörpern, die das Ritual und die Taufe ablehnt. Ja, so betont es Vuillards meandernder Erzähler, dieser Müntzer revoltiert in deutscher Sprache gegen den Kurfürsten Friedrich, schreit „jetzt ist Schluss mit dem honigsüßen Ton, Schluss mit der Katzbuckelei“ und wird von der Obrigkeit vorgeladen. Und diese ist erzürnt, will Rechtfertigung von dem Prediger Müntzer, der den Traum Nebukadnezars zitiert, in dem alle Reichen vernichtet werden sollen. Müntzer aber geht noch weiter in seiner Schmähung der Regenten. „Das von jeher beschworene brave Volk Gottes“ ersetzt er nun in seinen Predigten durch „ein anderes, aufdringlicheres, hitzigeres Volk, ein echtes Volk.“ Und dieses Volk, so Vuillard, „stinkt, es murrt, aber es denkt auch.“ (S. 36) Und es hört auch dem Prediger zu, der den Mächtigen zuruft: Tötet die gottlosen Regenten, denn sie „überlassen uns nichts, weder Brot noch Freiheit.“
Es gehört zu den besonderen Merkmalen der Erzählstruktur in diesem spannungsgeladenen Text, dass die Ursachen für den Ausbruch des Kriegs der Besitzlosen gegen die Reichen bereits im sprachlichen Vorfeld benannt werden. Mund, Zerstörung, steht da und es signalisiert den Umbruch vom Zuhören zum Zustimmen und dem Augenblick, in dem das elende Volk aufbricht, um die Worte Müntzers in die revolutionäre Tat umzusetzen. „Jetzt kann man alles sagen! Die Gedanken blitzen, ziehen einander an, diejenige, die keine Worte hinterlassen, fallen für immer.“ (S. 38)
Und wie beschreibt Vuillard die Revolte des gemeinen Mannes? Sie setzt ein mit einer historiografischen Darlegung der Aufstandsgebiete, beschreibt Müntzers Briefattacken gegen die Landesherren und dessen psychomentale Wandlung, die ihn befähigt, sich in einen Zustand eines Gerechtigkeit empfindenden Missionars zu verwandeln. Gleichzeitig habe er sich erfolglos, so Vuillard, um Reformen bemüht, die in einer kleinkarierten Handwerkerdemokratie endeten. Darüber hinaus bricht der Aufstand im thüringischen Mühlhausen zu früh aus. Und weil die bäuerlichen Haufen, verstärkt durch Handwerker und Tagelöhner, im März 1525 weder genügend Waffen besaßen noch einen militärisch geschulten Anführer hatten, endete die Schlacht gegen die vereinten fürstlichen Armeen im benachbarten Frankenhausen in einem Gemetzel, in dem Müntzer gefangengenommen und enthauptet wird.
Es gehört zu den besonderen narrativen und syntaktischen Eigenarten dieses pointierten Textes, dass dessen Erzähler im Augenblick der sich abzeichnenden Niederlage der Entrechteten erneut seine Position wechselt. Er stellt ein gleichsam mitfühlendes Ich dar, das die Abschlachtung der gemarterten Körper nicht zu begreifen vermag, das Martyrium der Unterdrückten erleidet. Im Vergleich zu den zahlreichen gelehrten historiografischen Abhandlungen und den geschichtsphilosophischen Deutungsgeschichten „Der Krieg der Armen“ aus der Feder von Eric Vuillard, hat das Wirken und Scheitern von Thomas Müntzer eine vielschichtigere Darstellung gefunden. Auf der Grundlage dieses Textes gewinnt die Persönlichkeit des Reformers eine unvergleichbar vielschichtigere Betrachtung, die es dem mitfühlenden zeitgenössischen Leser erlaubt, zu den Ursachen und dem Ausbruch einer epochalen Revolution vorzustoßen. Einen wesentlichen Anteil daran hat zweifellos die kongeniale übersetzerische Fähigkeit von Nicola Denis. Sie verleiht diesem „brennenden“ Text eine Plastizität, die seine Lektüre zwischen Einsichten in die „grausame“ Geschichte, Mitgefühl für die sozial Entrechteten und Wahrnehmung von spätmittelalterlicher deutscher Sprache zu einem unvergesslichen Erlebnis macht.