Er war ein Ausnahmeathlet, ein Solitär, unter den Philosophen – zum Tod von Odo Marquard

Er war ein Ausnahmeathlet, ein Solitär, unter den Philosophen, schon rein äußerlich unterschied er sich vom aristokratisch-intellektuellen Großmut vieler seiner Kollegen, und er hatte ihnen etwas voraus: eine tief fundierte Skepsis gegenüber der Wahrheitsfrage, war selbstironisch und stand für eine kritisch-polemische Einschätzung der Gegenwart. Äußerlich fiel er kaum auf, aber was er sagte, hatte die Studenten der Jenaer Universität in Bann gezogen – nach der Wende endlich einer, dem man den professoralen Gestus nicht ansah, der verständnisvoll war und in der Offenheit des Denkens stand – ganz getreu der Maxime, dass die Wahrheit nur die halbe sei. Nun ist der Philosoph Odo Marquard, geboren in Pommern, am 9. Mai 2015 in Celle gestorben. Er selbst nannte sich „einen in Hinterpommern geborenen Zwangsostfriesen, der am Fuße des Vogelsbergs sein bedenkliches Leben verbringt und darum ja auch sowieso eher zuständig ist für nonkonformistische Teile der südhessischen Grundlagenfolklore.“ Und wie er eingesteht, sei er „kein philosophischer Missionar“ und hat auch „keine Weltbeglückungspläne, die die Menschheit nur ja nicht vergessen soll.“ Skeptisch ist er bis zum Schluß geblieben, getreu der Maxime: „Skepsis ist der Entschluss zu einem vorläufigen Denken. Wenn die Erfahrung anderes lehrt, soll sie es tun. Aber bis dahin […].“

Selbst die Titel vieler seiner Bücher und Essays wie „Apologie des Zufälligen“, „Skepsis und Zustimmung“, „Abschied vom Prinzipiellen“, „Philosophie des Stattdessen“, „Zukunft braucht Herkunft“, „Individuum und Gewaltenteilung“, „Skepsis in der Moderne“ sind eindrucksvolle Bonmonts, einprägsame philosophische Belletristik, in denen sich der Stilist und Humorist verewigte, er war – wie er sich selbst nannte – ein „Transzendentalbelletrist“. Auch der spektakuläre Begriff der „Inkompetenzkompensationskompetenz“ wurde seit 1973 zum geflügelten Wort im marquardschen Jargon der Uneigentlichkeit. Nicht müde wurde er, die Philosophiegeschichte als einen sukzessiven Verlust von Kompetenz zu charakterisieren. Anstelle von apodiktischen Geltungs- und Wahrheitsansprüchen tritt der unausweichliche und auch unleidliche „Abschied vom Prinzipiellen“ und damit einher geht der antike Mythos der Universalisierbarkeit – er verliert seine Geltungshoheit. Einst war die Philosophie kompetent, heute, so der kritisch-skeptische Befund Marquards, der manch jungen Philosophiestudenten sowie die Etablierten des Fachs mit dieser provokanten These verstörte, sei sie nur noch kompetent für eines: „nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz.“ Auch soteriologisch sei sie gescheitert, weil sie von der christlichen Heilsperspektive überboten wurde und nur als „Magd der Theologie“ ihr Überleben sichern konnte. Technologisch habe sie ebenso versagt, ein Blick in die moderne Medizin, künstliche Intelligenzforschung, Gentechnik, Neurobiologie genügt, um zu sehen, daß der von der Philosophie versprochene Nutzwert oder Hoheitsanspruch, so Marquard, von den Naturwissenschaften überboten wurde. Und politisch ist sie ebenfalls gescheitert, weil der Mensch, so wie es jüngst Norbert Bolz am Beispiel des staatlichen Paternalismus beklagte, seine Selbstzufriedenheit und Glückssuchezugunsten des „An-der-langen-Leine-gehalten-Seins der politischen Praxis übergeben habe, also auch hier Inkompetenz der Philosophie, was Marquard zum Schluß nötigt, der einstigen Leitwissenschaft eine düstere Prognose auszustellen: „Die Philosophie: sie ist zu Ende; wir betreiben Philosophie nach dem Ende der Philosophie.“ Oder anders formuliert: Die Restkompetenz der Philosophie ist die Verwaltung der Inkompetenz, also Inkompetenzkompensationskompetenz.
Im Blick hatte Marquard auch immer die Endlichkeit des Subjekts, vielzitierte der moderne Stoiker Seneca und dessen „vita brevis est“, „Das Leben ist kurz“ und: Marquard folgerte konsequenzlogisch „carpe diem“, „Nutze den Tag“. Nun kann man sich der philosophischen Frage nach der eigenen Sterblichkeit stellen oder nicht: Sartre, die Existentialisten und die 68er gingen ihr aus dem Weg, sie verdecke das Sein, relativiere die Spaßkultur, Heidegger verabsolutierte diese derart, daß er das Leben vom Tod her durchreflektierte. Hatte Heidegger die Zeitlichkeit im Blick, so Marquard die Vergangenheit, denn weil wir wissen, daß wir sterben müssen, sind wir auf unsere Vergangenheit verwiesen. „Jedermanns Zukunft ist ‚eigentlich‘ sein Tod.“ Oder: „Das Prinzipielle ist lang, das Leben kurz.“

Bei allem Zufall, oder stoisch gesprochen – Schicksal, der bzw. das sich ereignet und unberechenbar ist, bleibt dies zumindest eine anthropologische Konstante, die zum einen impliziert, sich seiner Herkunft zu versichern, zum anderen den Mut erfordert, diese Zumutung der Herkunft, die sich weder verleugnen noch abstreifen läßt, zu ertragen. Kierkegaard hatte – allerdings mit einer theologischen Attitüde als der bekennende Polytheist Marquard Ähnliches im Blick, wenn er in seiner „Die Krankheit zum Tode“ die fatale Diagnose der Verzweiflung darin sah: „Verzweifelt nicht man selbst sein wollen“. Was Kierkegaard noch Verzweiflung nennen wird, könnte man mit Marquard als Selbstermächtigung des Menschen beschreiben, der gegen sein Schicksal rebelliert und die Veränderungsmaxime zum Paradigma seiner künftigen Lebensplanung erklärt. Mit anderen Worten: Die Rebellion gegen die Herkunft verstellt die Zukunft. Der emanzipierte Mensch der Moderne, ihn hat Marquard im Blick, will permanente Veränderung und die damit einhergehenden Selbstversteigungen, die Hybris des Ich, das mehr sein will, als seine Herkunft ihm erlaubt, bringt ihn dann auch in einer globalisierten und schnell sich verändernden und auf Anpassung und Mainstream abstellenden Welt in genau jenes Dilemma, sich neu erschaffen, zu definieren, um den Preis des Sich-selbst-und-seiner-Herkunft-Verleugnens. Familie, Sprache, Institutionen, Religion, Staat, Tradition, Kultur und Religion werden im Selbstmechanisierungswahn zugunsten innerlich erkaufter Leere und Adaptionsfähigkeit ausgetauscht. Was bleibt ist der sich selbstenttäuschende Mensch, der irritiert sich selbst aufreibt und entweder in die Arme der Ideologen fällt oder sich auf die Couch des Dr. Freud begibt.


„Weil sie einem alten Mythos der Moderne aufsitzen, der den schnellen Wandel von allem und jedem – nach dem Vorbild des technischen Fortschritts – zu fordern scheint. Aber da ist eine Schwierigkeit: das wachsende Veraltungstempo. Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller veraltet auch das Veralten selbst, und umso schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden. Rascher Wandel schafft Vertrautheitsdefizite. Kinder, für die die Wirklichkeit unermesslich neu und fremd ist, tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem überall bei sich – ihre Teddybären. Mein Teddybär ist ein Plüschlöwe, den ich mir irgendwann in Polen gekauft habe.“

Wie jüngst Hartmut Rosa plädiert Marquard für Entschleunigung, die rasante Wirklichkeit eines Paul Virillo zu kompensieren, gelingt nur über die Langsamkeit, die Marquard aber nicht als Müßigkeit oder einen Aufruf zur Langeweile versteht – das Leben ist ja kurz und wir sind immer schon unsere Vergangenheit mehr als wir unsere Zukunft sein können. Und wie der Gießener Professor und Ehrendoktor der Friedrich-Schiller-Universität Jena bekennt: „Unser Tod ist stets schneller als die meisten unserer Änderungen.“ Als Bürger, so das Plädoyer für die Bürgerlichkeit, plädiert Marquard im liberalen Staat für einen Ausgleich, für das aristotelische Maß, zwischen einerseits Erneuerung und Schicksal, andererseits Beschleunigung und Langsamkeit, Globalisierung und Herkommen. Hierin sieht er seinen Widerstand in einer Welt der totalen Globalisierung und Modernisierung.

Wo Freiheit endet, dies hat Marquard immer wieder kritisch gegen den Geist der 68er und ihre Tribunalisierung der Wirklichkeit – samt dem darin innewohnenden Entlarvungsgestus linker Ideologiekritik – vorgebracht, wird die Existenz des Menschen in das Korsett einer Erlösungsideologie gepreßt und endet in einem radikalen Totalitarismus. Freiheit, wie sie Marquard versteht, entsteht durch ein Determinantengedrängel, eben durch Gewaltenteilung, durch den Pluralismus, den er keineswegs nur in der Politik eingefordert wissen will, sondern zugleich in der Religion, ein Lob des Polytheismus singt er dabei, dies aber nicht vor dem Hintergrund einer alternativen Religionsbegründung, er ist protestantischer Christ, sondern er verwehrt sich auch hier einer totalen Vereinnahmung des Menschen durch ein So-und-nicht-anders-glauben-Dürfens. Freiheit heißt Einsicht in die Notwendigkeit der „Herkunftshaut“, eröffnet aber die Perspektive, sich mit dieser zu versöhnen und darüber frei zu werden. Und die Freiheit des Skeptikers besteht darin, der allein selig machenden ideologischen Vernunftregie die vielen Freiheiten verschiedener Lesarten und vieler Geschichten“ entgegenzusetzen, getreu der Maxime: „Der Skeptiker redet mit allen, der Diskursethiker letztlich nur mit Gleichgesinnten.“


„Auf die rechte Verweigerung der Bürgerlichkeit – bei den Nazis – folgte in Deutschland nach 1968 die linke Verweigerung von Bürgerlichkeit. Ich plädiere für die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung. An Habermas kritisiere ich den geschichtsphilosophischen Monotheismus, die These von der absoluten Alleingeschichte der Emanzipation, von der Totalgeschichte der Weltverbesserung, und ein Diskurs-Ideal, das die Vielfalt der Geschichten und Meinungen nur als Anfangskonstellation gestattet. Das Diskurs-Ziel ist der Konsens, als das Ende, an dem nur noch eine einzige Meinung, und damit ein meinendes, total aufgeklärtes Über-Wir, herrscht. Das zerstört nicht nur die Vielfalt der Meinungen, Geschichten, Sprachen, Sitten, Küchen, die doch unser kleines, kurzes Leben durch andere Leben bereichert. Darin steckt auch ein autoritäres Dissensverbot, die mythenfeindliche Ermächtigung durch eine Alleinvernunft, die es stört, dass man erzählt, statt sich zu einigen. Dieser Diskurs ist die Rache des Solipsismus an seiner Vertreibung. Nein, die Philosophie muss das Gespräch fundamentaler bejahen und dabei wieder erzählen dürfen.“

Marquard blieb als Skeptiker Optimist, der die Endlichkeit des Menschen ernst nimmt und anstelle einer Totalnegativierung der Wirklichkeit, die „stetig steigende Jammerrate“ den Blick für das offenhält, was in der Welt eben Nicht-Krise ist; genau diese Geisteshaltung motiviert letztendlich ein stoisches Einüben in der Schicksal, erobert sich den Status des Mit-der-Welt-Zufriedenseins, ermöglicht in der endlichen Welt den Mut zum Glücklichsein; ja er plädiert für die liebevolle Annahme des Unvollkommenen, diesem sich nicht zu verweigern, dieses nicht zu verdrängen und zu schmähen, sondern dafür, sich diesem zustimmungsfähig gegenüber zu verhalten.

Wie Robert Spaemann formulierte – und Marquard wiederholt es – trägt die Beweislast „nicht das Vorhandene und Überkommene, sondern der Veränderer“. Wer also das Neue will, muß es begründen! Dabei wehrt sich Marquard gegen den „Generalverdacht, alles Überkommene sei unvernünftig und müsse deshalb geändert werden“, er begreift diese „Stimulierung des Außerordentlichkeitsbedarfs“ vielmehr als „deutsche Krankheit“ und glaubt nicht an die Allmachts- und Erlösungsansprüche der Philosophie wie einst der Deutsche Systemidealismus à la Fichte. Denn gerade das zeichnet ja den Skeptiker gegenüber jenen Philosophien aus, die ein Alleinstellungsanspruch aufstellen, daß sich dieser verweigert, ein universelles Prinzip aufzustellen und damit zugleich noch den Anspruch der Weltrettung zu verknüpfen, was, wie die Geschichte lehrt, so zumindest Marquard, eher zu bösen Häusern und Enttäuschungen führt, für die der Mensch als sensibles und zerbrechliches Wesen überhaupt nicht konstituiert ist. Für die Abarbeitung am Absoluten, sei es das Ich oder Gott, ist der Mensch nicht geschaffen.

Auf die Frage, was er an seinem letzten Lebenstag tun würde, hatte Marquard lakonisch geantwortet: „Schlafen“, weil er nun mal sehr gern schläft. Nun hat die Kürze des Lebens den Skeptiker des 21. Jahrhunderts selbst eingeholt, doch Odo Marquard hat uns viel zum Denken aufgegeben.

Die Zitate stammen von einem Interview mit Odo Marquard aus dem „Spiegel“
DER SPIEGEL9/2003
Das Interview führten: Schmitter, Elke und Schreiber, Mathias

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Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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