Enzyklopädie der Melancholie, Zum Werk W.G. Sebalds

Man wird in der deutschen Literatur nach 1945 nicht leicht ein Werk finden, das so hartnäckig um die Themen der Zerstörung und Trauer kreist, wie jenes des 1944 in Wertach im Allgäu geborenen und 2001 bei einem Autounfall in seiner englischen Wahlheimat Norwich ums Leben gekommenen Literaturwissenschafters und Schriftstellers W. G. Sebald. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist Sebald vor allem durch seine späten, erzählenden Werke, zunächst im angloamerikanischen Raum, über diesen Umweg auch in seinem ungeliebten Heimatland, und durch die Züricher Vorlesungen, die 1997 unter dem Titel Luftkrieg und Literatur veröffentlicht wurden. Die Hauptthese dieser Vorlesungen von der ausgebliebenen Trauerarbeit über die größte nationale Katastrophe Deutschlands, die Sebald zufolge nach Kriegsende literarisch niemals angemessen aufgearbeitet wurde, sorgte kurzfristig für einen Eklat im deutschen Feuilleton. Ein Rascheln sollte es wieder nur gewesen sein im Blätterwald, ein Beben von mittlerer Stärke auf der Richterskala der täglichen Hiobsmeldungen, wie man im Nachhinein feststellen muss. Vergessen scheint heute wieder, was damals immerhin Anlass für eine öffentliche Diskussion war. Ein Lapsus, der Sebalds provokanten Befund von der Erinnerungslosigkeit der Deutschen freilich nur bestätigt, wenn man fairerweise hinzufügt, dass der Gedächtnisschwund heute längst ein globaler ist, also nicht nur das Ergebnis einer nationalen Verdrängungsleistung im Dienste des unmittelbaren Überlebens, sondern Produkt der Überforderung durch die medial vermittelte Informationsflut, eine synchrone Begleiterscheinung der Nachrichtenexplosion.

Den Leerstellen von Literatur und Literaturwissenschaft, den vergessenen Rändern der Geschichte und den Außenposten der Gesellschaft galt das Augenmerk Sebalds freilich von Anfang an, der in seiner keine zwei Jahrzehnte dauernden schriftstellerischen Karriere die durchaus riskante Entwicklung vom Literaturwissenschafter zum eigenständigen Stilisten vollzog, der in seinen Büchern literarische Gattungsgrenzen sprengte und die Genres kunstvoll miteinander vermischte.

Warum heute, wo das Aufspüren und Erforschen sozialer, ethnischer und kultureller Randzonen selbst zu einem prestigeträchtigen, autonomen Forschungszweig innerhalb der Kulturwissenschaften mutiert ist, Sebalds literarisches Erbe noch immer seltsam anachronistisch anmutet, wird noch zu klären sein. Weil aber vom Unzeitgemäßen mitunter der nachhaltigste Anreiz ausgeht, ist der Ruhm dieses Werks untergründig gewachsen, sprunghaft zuletzt durch die tragischen Umstände von Sebalds eigenem Ende, das den sehr persönlichen Charakter seines literarischen Unterfangens noch einmal zu unterstreichen schien. Denn Sebald nahm offenbar tatsächlich aus persönlicher Neigung auf sich, was heute nicht selten nur noch durch professionelle Profilierungssucht motiviert ist. Die Radikalität seiner Position, die singuläre Gestalt seines mäandernden, im hohen Ton der Elegie verfassten Spätwerks lässt sich vielleicht am besten ermessen, indem man ihr den Realismus der Trümmerliteratur gegenüberstellt. Sachverstand und Kompromissbereitschaft waren die Gebote der Stunde Null, die jene, denen die undankbare Aufgabe zufiel, von einer traumatisierenden Vergangenheit in eine lebbare Gegenwart und vertrauensvollere Zukunft überzuführen, zu einem Ton konzilianter Offenheit verpflichtete. Wie sehr aber gerade dieser Ton das Leid der Opfer, insbesondere ihre Sprachlosigkeit, die viele gar nicht und manche erst spät nach langem Stillschweigen durchbrechen konnten, just wieder verfehlen musste, wurde deutlicher erst durch den historischen Abstand und im Kontrast zu jenen Werken, mit denen die Opfer schließlich selbst aus dem Schatten getreten sind. Während man hier um Schadensbegrenzung, Verständigung und Wiedergutmachung bemüht war, verwies man dort auf das subjektive, irreduzible Pathos des Leidens. Dies konnte im Übrigen wie bei Celan durch eine lyrische, allen Kategorien öffentlicher Kommunikation sich verweigernden Hermetik geschehen, oder wie bei Jean Améry, dem Sebald zwei ausführliche Essays widmete, durch philosophische Intrasigenz. Gemeinsam aber war allen diesen Stimmen, dass der Protest in ihnen allen politischen Zugeständnissen zum Trotz nicht mehr verstummen wollte. Gegen die Idee einer Restitution verfocht Jean Améry, um nur das eloquenteste Beispiel zu nennen, in einer ironischen Umkehrung der „Herrenmoral“ Nietzsches sein Recht auf Ressentiments. Denn dass junges Leben notwendigerweise auf den Trümmern des alten und verbrauchten neu sich formiert und konsolidiert, ist biologisch und auf dem Feld der Ästhetik so unabweisbar, wie es politisch und ethisch unannehmbar bleibt. Der Betroffene wird und kann die hohle Wendung vom Leben, das eben weitergehen müsse, nicht ohne „reaktiven Groll“ (Améry) zur Kenntnis nehmen. Groll, den Améry empfand angesichts der atemberaubenden Geschwindigkeit, mit der sich in Deutschland nach dem Krieg der wirtschaftliche Wiederaufbau vollzog, Groll, der schließlich aber auch nur die Folie abgab für eine viel weiter reichende Empörung über den historischen Prozess als solchen in seinem nicht wiedergutzumachenden objektiven Verlauf. Bei Améry wie auch später bei Sebald steht die Geschichte selbst unter Anklage. Die Geschichte als Schlachtbank und degoutantes Leichenschauhaus. Doch während Améry noch im ketzerischen Ton des unmittelbar Betroffenen im Stile eines selbsternannten Reaktionärs sich empörte, weicht dieses Kämpferische beim nachgeborenen Sebald dem unvermischten Klang der Klage und einem Ernst, der sich noch die letzten Spuren von Ironie verbietet. Die Melancholie, die Freud bekanntlich ins Pathologische verwies und strikt von der „normalen“ Trauer unterschied, ist von dieser im Gegenteil nicht mehr zu trennen in den Büchern Sebalds, dieses modernen Meisters der Wehklage, weil der Katastrophe in Permanenz, zu der die Geschichte der Zivilisation entartet ist, auf der affektiven Ebene eine Trauer entspricht, die ins Uferlose geht. Eine Trauer, die mit ihrer Arbeit nicht mehr fertig wird, weil sich diese in Wirklichkeit auf eine immer unüberschaubarere Menge von Dingen erstreckt, die der unübersehbar sich ausweitenden Zerstörung ununterbrochen anheimfallen. Und Sebalds Schriften, vor allem die erzählenden späteren, Die Ausgewanderten, Schwindel.Gefühle, Die Ringe des Saturn und Austerlitz, sind ja nicht zuletzt Memorabilien, die das Gedächtnis bewahren wollen dieser durch unaufhörlichen Verschleiß, Verlust und Vergessen bedrohten Dinge, Menschen, Bücher. Gewiss genießt darin das Schicksal des jüdischen Volkes gleichsam Priorität in der Rangstufe des zu Gedenkenden, aber auch vom Los eines uralten Ulmenwaldes, von einer Baumseuche plötzlich dahingerafft, ist da die Rede, von Freunden und Kollegen, die spurlos verschwanden ebenso wie von bibliographischen Kuriositäten, versinkenden Städten und aufgegebenen Produktionszweigen, von einem monomanisch im Labyrinth seiner ephemeren Entwürfe verstrickten Modellbauer und Visionär, von luminösen Fischkadavern und einer dementen chinesischen Wachtel, von der Agonie versklavter Völker und von der industriellen Tötung der Seidenraupen als Teil einer enzyklopädisch angelegten Fibel über die „Naturgeschichte der Zerstörung“ (Sebald). Die Arbeit an ihr, die den Schriftsteller schließlich bis zu seinem eigenen, viel zu frühen Tod beschäftigen sollte, hob an im Grunde schon mit seinen ersten literaturwissenschaftlichen Studien zur modernen österreichischen Literatur. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung, die beiden Essaybände Beschreibung des Unglücks und Unheimliche Heimat, zählen längst zu den Standardwerken der Germanistik des 20.Jahrhunderts. Die Sachkompetenz und stilistische Brillanz des Autors, die bereits diesen Titeln eine über den engen akademischen Kreis hinausweisende Leserschicht einbrachten, erklären ihren Erfolg aber doch nur zum Teil. Die fantasievolle, sozusagen rhizomatische Vorgehensweise Sebalds, die scheinbar Zusammenhangloses in ebenso überraschenden wie nachvollziehbaren Bezügen über Zeit- und Gattungsschwellen hinweg miteinander verbindet, hat ebenfalls ihres dazu beigetragen. Und schließlich die Persönlichkeit Sebalds selbst: Dass hier nämlich einer, indem er die historische Krise eines Volkes und ihren Niederschlag in der Literatur reflektiert, auch über sich selbst und seine eigene Verunsicherung, seine eigene krisenhafte Existenz Auskunft gibt. Mimetisch hat man dieses Verfahren genannt, das man ebenso gut identifikatorisch hätte bezeichnen können. Denn Einfühlungsvermögen und Identifikation gehen Hand in Hand bei diesem Autor, der seine Essayistik, sieht man von den wenigen polemischen Aufsätzen wie jenen kontovers besprochenen über Alfred Andersch ab, gleichsam betrieb als Ahnenforschung wahlverwandter Geister. Empathisch wie seine Herangehensweise an geschätzte Schriftstellerkollegen auch sein Zugang zur Geschichte. An derjenigen Österreichs interessiere ihn, bemerkt er im Vorwort von Unheimliche Heimat, ihre „traumatische Entwicklung von dem weit ausgedehnten Habsburger-Imperium zur diminutiven Alpenrepublik“. Und es ist eben dieselbe „traumatische Entwicklung“, der er in den Biographien großer Einzelgänger, eines Robert Walser, Bruce Chatwin oder Peter Altenberg, über die er so glänzend zu schreiben vermochte, nachzuspüren versucht, insofern jedes dieser Leben einen fortschreitenden Gebietsverlust, einen schöpferischen Raubbau an den eigenen Ressourcen bedeutet hat.

Melancholisches Mitgefühl leitet daher den Blick dieses gestrengen Phänomenologen, leitet, aber trübt ihn nicht. Vor dem Abdriften ins Trüb-Sentimentalische bewahrt seine Melancholie ihre konkrete, historische Perspektive und eine intellektuelle Disziplin, die in der Literatur heute ihresgleichen sucht. Der Ambivalenz jedes großen literarischen Unternehmens, das sich vorzugsweise an Zustände und Leidenschaften heftet, die sie vorgeben muss, beseitigen zu wollen, entgeht freilich auch Sebald dadurch nicht. Er ist sich ihrer schließlich selber durchaus bewusst, etwa wenn er nach den versteckten Motiven seiner Forschungsinteressen fragt und sie schließlich in dem Trauma seiner Kindheit gefunden zu haben meint. Einer Kindheit, die, wie er zugibt, zwar relativ glimpflich verlief „in einer von den unmittelbaren Auswirkungen der sogenannten Kampfhandlungen weitgehend verschonten Gegend“. Dennoch sei es ihm „bis heute, wenn ich Photographien oder dokumentarische Filme aus dem Krieg sehe, als stammte ich, sozusagen, von ihm ab und als fiele von dorther, von diesen von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herauskommen werde.(LuL)Kaum etwas, schreibt er an anderer Stelle, verbinde er mehr mit dem Wort Stadt „als Schutthalden, Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man in die leere Luft sehen konnte“(A), weshalb eben diese Bilder der Zerstörung „perverserweise, und nicht die ganz irreal gewordenen frühkindlichen Idyllen, () so etwas wie ein Heimatgefühl in mir hervorrufen.“ (LuL) Was war, lebt allein in den Nachwehen fort, die Gegenwart ist in der Vergangenheit nur als Phantomschmerz, welcher Erinnerung konstituiert, überhaupt greifbar.

Dass die Traurigkeit der Melancholie grundlos sei, ist eine psychologische Binsenweisheit und meint, dass nicht die Realität des Objekts, sondern die Tiefe der Empfindung seines Verlustes ausschlaggebend sei für die Herausbildung der Krankheit, die Identifikation des Melancholikers mit dem verlorenen Gegenstand. Bemerkenswert an Sebalds persönlichem Fall aber ist, dass seine Schwermut eine kollektive Amnesie zum gegenstandslosen Gegenstand hat. Mehr als von der inneren Gestimmtheit des Melancholikers erfährt man daher in diesem Werk von den gesellschaftlichen Determinanten des persönlichen Curriculum, das für gewöhnlich einen Leidensweg verzeichnet, dessen Lauf sich zurückverfolgen lässt manchmal bis in weit hinter die eigene Geburt zurückreichende, kollektive Schuldzusammenhänge. Über die Komplexität solcher Zusammenhänge von kollektivem Verhängnis und individuellem Schicksal, Zeitgeschichte und Biographie vermitteln Sebalds akribisch recherchierte Texte und Dokumente so manches. Wie auch über die Notwendigkeit der Empörung. Empörung als Zurückweisung jenes Teils der eigenen Leidensgeschichte, der nicht endogen ist, und für den der Kliniker die Gründe nicht in der Psychologie des Patienten suchen muss, sondern in der Sozialpathologie des gesellschaftlichen Umfelds. In seiner späten Prosa weitet Sebald darum seine Spurensuche auch auf das außerliterarische Feld aus, stilistisch durch die Verschmelzung von Essay, Autobiographie und Reisetagebuch. Die selbstdiagnostizierte Schwermut verweist auf eine Zerstörung, deren Spuren der Autor nicht nur in anderen literarischen Werken ortet, sondern jetzt nahezu überall, in den Städten und Landschaften, die er in der Manier eines promeneur solitaire durchwandert, in den Gesichtern und Geschichten der Menschen, die er dabei trifft, in den Tieren, die sie jagen und essen, oder die sie sich halten, um sie andern, noch gewinnbringenderen Zwecken zuzuführen, in den Erzählungen und Familienromanen jüdischer Emigranten, in Geschichtsbüchern, Bildern und Gebäuden, in alten Folianten und Fotographien. So umfassend ist die Zerstörung, von der er Zeugnis ablegt, dass hier der antizivilisatorische Reflex manchmal ans Halluzinatorische grenzt. Kein anderer deutscher Autor hat die Verwüstungen der Zivilisation drastischer vorgeführt, keiner die Atmosphäre der Hysterie, in der sich die Historie und der Untergang der Humanitas entfalten, in bedrückenderen Bildern einzufangen gewusst. Mit Ausnahme vielleicht von Rolf Dieter Brinkmann, dessen paranoiden Pop allerdings bei Sebald eine mehr gebändigte Sprache gegenübersteht, die in ihren lyrischen Passagen manchmal opernhafte Töne anschlägt. Die Ringe des Saturn, das ist der schwermütige Zwilling des maniakalischen Rom. Blicke. Ebenso poetisch, am sinnlichen Detail orientiert wie dieser, dabei ästhetisch nicht weniger kompromisslos, nicht weniger radikal oder extremistisch, aber ins entgegengesetzte Extrem ausschlagend. Ob wir aber mit Brinkmann durch die von wimmelnder Verrottung gezeichneten, lärmenden Vorstädte Roms wandern, oder mit Sebald in der bedrohlichen Stille der stillgelegten Industrielandschaften Suffolks, zu Fuß selbstverständlich, immer zu Fuß und im Falle des Letzteren natürlich mit verschlissenem Schuhwerk, immer werden wir dabei auch aus nostalgisch verbrämten Touristenträumen gerissen und brutal mit den Realien der Gegenwart konfrontiert. Und zwar buchstäblich und bildlich, denn beide Textkonvolute sind ja reich bebildert. Dass die Nahaufnahme, der Blick aufs Detail die abgelichtete und beschriebene Realität zuweilen ins Monströse verzerrt, gehört dabei unzweifelhaft zur Strategie des ästhetischen Verfahrens beider Autoren. Die Wirklichkeit erscheint eben um so horrender im Zoom darauf. So beispielsweise:

Ich trinke Bier in kleinen Schlucken, stehe da weiter mit dem Weihnachtskuchen im Arm, und ich begreife, daß es tatsächlich ein Drecksvolk ist mit ihren Kellnern und Frisören, ihren Verhaltensweisen, die arrogant sind, wenn sie sich bedienen lassen können, mit ihrer kleinkrämerhaften Agilität, ihrer Comichaften Unruhe, ihrem Kinder-Fetischismus und ihrem sogenannten „leichteren“ Leben, das nichts anderes heißt als verwohnen, zersiedeln, auswohnen, mit ihren Papst- und Madonnenbildern, mit ihrer blödsinnigen römischen Vergangenheit, die nichts als Ruinen sind, und mir wird das alles an winzigen Einzelheiten klar, an großen Löchern in den Wänden aus Pappe an der Treppe und den geschniegelten Frisuren der Leute, „dolce far niente“ am Arsch, () „der liebliche Süden“: ein Autofriedhof. Dann Steine, Wäsche, was sonst noch? Elektrische bunte Lichter, die mechanisch an und ausgehen. „Bene“? In Ruinen sind amerikanische Automaten installiert. Was geht das mich an, ich bin für die Verrottung nicht verantwortlich, ich habe auch keinen romantischen Blick dafür. Ich hau ab. Davon habe ich genug gesehen.

(Rolf Dieter Brinkmann)

Oder so:

Unbegreiflich erschien es mir jetzt, als ich nach Lowestoft hineinging, wie es in einer verhältnismäßig so kurzen Zeit so weit hatte herunterkommen können.() Gleich einem unterirdischen Brand und dann wie ein Lauffeuer hatte der Schaden sich fortgefressen, Bootswerften und Fabriken waren geschlossen worden, eine um die andere, bis für Lowestoft als einziges nur noch die Tatsache sprach, daß es den östlichsten Punkt markierte auf der Karte der britischen Inseln. Heute steht in manchen Straßen der Stadt fast jedes zweite Haus zum Verkauf, Unternehmer, Geschäftsleute und Privatpersonen versinken immer weiter in ihren Schulden, Woche für Woche hängt irgendein Arbeitsloser oder Bankrotteur sich auf, der Analphabetismus hat bereits ein Viertel der Bevölkerung erfaßt, und ein Ende der stetig fortschreitenden Verelendung ist nirgends abzusehen. Obgleich mir dies alles bekannt war, bin ich nicht vorbereitet gewesen auf die Trostlosigkeit, die einen in Lowestoft sogleich erfaßt, denn es ist eine Sache, in den Zeitungen Berichte über sogenannte unemployment blackspots zu lesen, und eine andere, an einem lichtlosen Abend durch Zeilen der Reihenhäuser mit ihren verschandelten Fassaden und grotesken Vorgärtchen zu gehen und, wenn man endlich angelangt ist in der Mitte der Stadt, nichts vorzufinden als Spielsalons, Bingohallen, Betting Shops, Videoläden, Pubs, aus deren dunklen Türöffnungen es nach saurem Bier riecht, Billigmärkte und zweifelhafte Bed&Breakfest Etablissements mit Namen wie Ocean Dawn, Beachcomber, Balmoral Albion und Layla Lorraine. (RdS)

Es sind Stellen wie diese, die Susan Sontag vielleicht zu der defätistischen Bemerkung veranlasste, Sebald vermittle in seinen Büchern etwas von dem Lebensgefühl eines Abendländers am Ende der abendländischen Zivilisation. Und wirklich erscheint der Okzident darin als Flucht- und Endpunkt gleichermaßen der allgemeinen zivilisatorischen Entwicklung.

Auf hunderten von registrierwütigen Seiten (und wie viele müssen es gewesen sein, die der eigenen unermüdlichen Selbstkorrektur zu Opfer fielen?) reihen sich die Bilder vom Verfall, von der ökonomischen Implosion, dem kulturellen und sozialen Niedergang. Vom kolonialen Fantasma ist übrig geblieben nur das leere Gehäuse einer imperialen Villa aus dem Fin de Siècle, von den bengalischen Feuern des Fortschritts, die ausgehend von den europäischen Ursprungsländern des Kapitalismus den gesamten Globus erleuchten wollten, nichts als Schutt und graue Asche. Staub, von dem der Maler Aurach in Die Ausgewanderten behauptet, er wäre ihm das Liebste auf der Welt, ist er doch das Einzige, was sich noch vermehren lässt. Beißender Staub, der Joseph Conrad den Atem verschlug in den Steinbrüchen Kongos, in denen das unterworfenen Volk sich zu Tode schuftete, und den Sebald auf Conrads Spuren wiederfinden wird in der Luft der belgischen Hauptstadt mit ihren düsteren, von der nicht bewältigten Schuld gezeichneten Einwohnern.

Wem das Schreckliche so nahe rückt, der muss es nicht mehr in der Weite suchen. Sebald jedenfalls genügte schon ein kleines Hotelzimmer in einer mitteleuropäischen Stadt, um direkt ins Herz der Finsternis vorzustoßen und Exemplarisches über unsere Gegenwart, wie er sie nun einmal vorfand, zu sagen. (Und man kann die folgende Stelle nicht lesen, ohne mit Entsetzen an Sebalds eigenen gewaltsamen und anonymen Tod zu denken, den er auf der Straße fand, in seiner Wahlheimat England immerhin, wie übrigens auch Brinkmann):

Wie oft, dachte ich mir, bin ich nicht schon so in einem Hotelzimmer gelegen, in Wien, in Frankfurt oder in Brüssel, und habe, die Hände unterm Kopf verschränkt, nicht wie hier auf die Stille, sondern mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehorcht, die zuvor schon stundenlang über mich hinweggegangen war. Das also ist, habe ich mir dann immer gedacht, der neue Ozean. Unaufhörlich, in großen Schüben über die ganze Breite der Städte kommen die Wellen daher, werden lauter und lauter, richten sich weiter und weiter auf, überschlagen sich in einer Art Phrenesie auf der Höhe des Lärmpegels und laufen als Becher aus über Asphalt und die Steine, während von den Stauwehren an den Ampeln bereits neue Wogen hereinrauschen. Ich bin im Verlauf der Jahre zu dem Schluß gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird, so wie wir das langsam zugrunde richten, was da war lange vor uns. (SG)

Es gibt zu dieser Stelle im Werk Sebalds eine andere, die sie ergänzt und weiterdenkt. Sie hält in einer ausgedehnten Bewegung, ähnlich einer langen und langsamen Kamerafahrt, den Blick des Reisenden aus dem Fenster eines Flugzeugs auf das Land unten fest. So, aus der Vogelperspektive betrachtet, erscheint es wieder weit und der im Zoom fokussierte Horror in luftiger Höhe aufgehoben in einer Schwerelosigkeit, Leichtigkeit ohnegleichen. Das Meer ist nun nicht mehr der ununterbrochen brandende Verkehr, sondern wird am Horizont sichtbar als grün schimmernder Dunstkreis so wie dem Auge des Astronauten der ganze Planet vielleicht in der unvorstellbaren Entfernung, die die von allen guten Geistern verlassene Erde wieder sich selbst überlässt:

Nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen. Gleich ob man über Neufundland fliegt oder bei Einbruch der Nacht über das von Boston bis Philadelphia reichende Lichtergewimmel, über die wie Perlmutt schimmernden Wüsten Arabiens, über das Ruhrgebiet oder den Frankfurter Raum, es ist immer, als gäbe es keine Menschen, als gäbe es nur das, was sie geschaffen haben und worin sie sich verbergen. Man sieht die Wohnstätten und die Wege, die sie verbinden, man sieht den Rauch, der aufsteigt aus ihren Behausungen und Produktionsstätten, man sieht die Fahrzeuge, in denen sie sitzen, aber die Menschen selber sieht man nicht. (…) Wenn wir uns so aus der Höhe betrachten, ist es entsetzlich, wie wenig wir wissen über uns selbst, über unsern Zweck und unser Ende, dachte ich mir, als wir die Küste hinter uns ließen und hinausflogen über das gallertgrüne Meer. (RdS)

Zitate aus:

UH = W. G. Sebald, Unheimliche Heimat, Salzburg/Wien, 1991
SG = W. G. Sebald, Schwindel. Gefühle, Frankfurt am Main, 1994
A = W. G. Sebald, Die Ausgewanderten, Frankfurt am Main, 1994
RdS = W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn, Frankfurt am Main, 1995
LuL = W. G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München/Wien, 1999

Das Zitat von Rolf Dieter Brinkmann ist entnommen dem Buch: Rom. Blicke, Hamburg 1991

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