Ellen Thiemann ist eine von uns! Als ehemalige Insassin des berüchtigten Frauenzuchthauses Hoheneck im erzgebirgischen Stollberg weiß sie nur zu gut, wovon sie schreibt, wenn sie unerbittlich über DDR-Verhältnisse aufklärt. Sie wurde 1937 in der sächsischen Hauptstadt Dresden geboren und heiratete 1960 den damaligen Fußballspieler des „Sportclubs Dynamo Berlin“ (Stasi-Verein) und späteren Sportjournalisten Klaus Thiemann. Als am 29. Dezember 1972 ihre geplante Flucht nach Westberlin scheiterte, nahm sie alle Schuld auf sich, um die Familie zu schützen, und wurde am 22 Mai 1973 wegen „Republikflucht“ zu drei Jahren und fünf Monaten Zuchthaus verurteilt. Sie wurde nach Hoheneck gebracht, wo sie mit Schicksalen von Mitgefangenen konfrontiert wurde, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Sie wurde am 29. Mai 1975 nach Ostberlin entlassen und konnte nach der Scheidung mit ihrem Sohn am 19. Dezember 1975 den SED-Staat verlassen. Über ihre Erlebnisse vor, während und nach der Haft hat sie 1984 das Buch veröffentlicht „Stell dich mit den Schergen gut. Erinnerungen an die DDR“, das inzwischen mehrmals in erweiterten Ausgaben erschienen ist.
Schon beim Schreiben ihres ersten Buches in Köln, wo sie Wohnung und Arbeit gefunden hatte, beschlich sie das ungute Gefühl, dass ihr Ehemann, von dem sie am 8. Juli 1975 geschieden worden war, schon vor ihrer Verhaftung Zuträger, also „inoffizieller Mitarbeiter“, der „Staatssicherheit“ gewesen sein könnte. Sie hatte noch in Ostberlin Aufzeichnungen von ihm gefunden, die diese Befürchtung nahelegten. Als nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 die Akten zugänglich wurden, kam auf niederschmetternde Weise dafür die Bestätigung!
Trotz der innerlich längst vollzogenen Trennung von Klaus Thiemann war sie entsetzt über die tiefe Verstrickung ihres Ex-Mannes in die kriminellen Machenschaften der „Staatssicherheit“. Wie sie feststellen konnte, wurde sie schon Monate vor dem Fluchtversuch vom 29. Dezember 1972 von der „Staatssicherheit“ auf Schritt und Tritt überwacht, wobei dem Führungsoffizier selbst noch die unwichtigsten Kleinigkeiten überbracht wurden. In ihrem zweiten und umfangreichsten Buch „Der Feind an meiner Seite“ (2005) hat Ellen Thiemann das Doppelleben ihres Ex-Mannes umfassend aufgeklärt.
Mit ihrem dritten Buch „Wo sind die Toten von Hoheneck?“ (2013) kehrte sie zum Themenkreis des ersten von 1984 zurück, das sie aus der Erinnerung an eine düstere Zeit geschrieben hatte. Damals, fünf Jahre vor dem Einsturz der Berliner Mauer, erschienen westdeutschen Lesern, sofern sie das alles überhaupt wissen wollten, aufklärende Erlebnisberichte aus dem DDR-Gulag oft überzeichnet, subjektiv überhöht oder grundsätzlich unglaubwürdig. Als ich 1965 mein Hörspiel „Verhaftet in Leipzig“ mehreren Sendern angeboten hatte, fragte „Radio Bremen“ bei mir an, ob denn das auch alles stimmte, was ich da geschrieben hätte. Ellen Thiemann und anderen DDR-Häftlingen wie Eva Müthel („Für dich blüht kein Baum“, 1957) und Walter Kempowski („Im Block“, 1969) wird es kaum anders gegangen sein. Seit 1992 aber sind in der Berliner Gauck-Behörde und ihren Filialen in den ehemaligen Bezirkshauptstädten die Akten von „Staatssicherheit“ und „Volkspolizei“ zugänglich. Wer diese Akten eingesehen hatte, musste feststellen: Es war alles noch viel schlimmer, als wir es damals ahnen konnten!
Deshalb ist Ellen Thiemann seit 1990 immer wieder in die erzgebirgische Kleinstadt Stollberg gefahren, schon für den 11. Mai 1990 hatte sie einen Besuchstermin für Hoheneck bekommen, wo sie von denselben Offizieren, die ihre Vergangenheit angeblich nicht kannten, empfangen und beflissen durch die Anstalt geführt wurde, die dort schon 1973/75 ihren Dienst verrichtet hatten. Elf Tage später, am 22. Mai, hatte sie eine Lesung in einer Stollberger Buchhandlung, die wegen des großen Andrangs von 150 Zuhörern in einen Kirchenraum verlegt werden musste. Solche Erlebnisse motivieren, die Geschichte des „dunklen Ortes“ (so der Titel eines Buches über Hoheneck) näher zu erforschen. Was die Autorin mit ihrem dritten Buch vorlegt, ist das Ergebnis jahrelangen und unermüdlichen Recherchierens über ein berüchtigtes DDR-Zuchthaus, über das jenseits der innerdeutschen Grenze fast nichts bekannt war!
Ellen Thiemann hat ihr Buch, dessen Geleitwort Bundestagspräsident Norbert Lammert verfasst hat, in fünf Abschnitte gegliedert, wobei sie im zweiten „Gefangen auf Hoheneck“, noch einmal, verständlicherweise, auf ihre Geschichte eingeht. Jetzt aber, zwei Jahrzehnte nach Mauerfall und Aktenöffnung, ist das ein völlig neues Erzählen, weil der Autorin nun die Hintergründe dessen, was ihr vor und in Hoheneck zugestoßen ist, bekannt sind. Sie hat ja nicht, wir alle nicht, wie der Arbeiterführer und Reichstagsabgeordnete August Bebel (1840-1913) in ehrenvoller Festungshaft 1872/74 auf Schloss Hubertusburg bei Oschatz in Sachsen gesessen, wo er zwei Jahre lang ununterbrochen lesen und sich weiterbilden konnte, um danach gestärkt den „Klassenkampf“ fortzuführen! Bei politischen DDR-Häftlingen war das ganz anders: Ellen Thiemann war eingesperrt mit „Kindsmörderinnen, Totschlägerinnen, ehemaligen KZ-Aufseherinnen, Wirtschafts- und Kleinkriminellen“. Und dazwischen auf den Zellen, die offiziell „Verwahrräume“ hießen, hausten überall die „Staatsverbrecher“, die es offiziell nicht gab und die in einem Rechtsstaat niemals verhaftet und verurteilt worden wären. Sie waren nach Hoheneck gebracht worden wegen so merkwürdiger „Delikte“ wie „Republikflucht“ oder „staatsfeindliche Hetze“ oder „Staatsverleumdung.“
Ellen Thiemann entdeckte, dass es in der Haftanstalt ein Netz von Stasi-Informanten gegeben hatte, sowohl unter der Wachmannschaft wie auch unter den Häftlingen, die sich davon Vorteile wie Haftvergünstigungen oder vorzeitige Entlassung versprachen. Nur durch Zufall stieß sie darauf, dass eine ehemalige Schließerin in Hoheneck 1985/89, die im Zivilberuf Textilverkäuferin gewesen war, nach dem Mauerfall auf der Karriereleiter nach oben gerutscht war: Sie arbeitet heute im Sächsischen Justizministerium in Dresden! Die einstigen „Volkspolizisten“ im Wachdienst der DDR-Zuchthäuser mögen noch so unmenschlich aufgetreten sein, Gefangene misshandelt oder für Wochen in stockdunkle Arrestzellen gesteckt haben: Der Freistaat Sachsen gewährt ihnen bis heute Straffreiheit und Unterschlupf im Staatdienst!
Je weiter man beim Lesen in diesem Buch vordringt, desto bestürzender sind die Erkenntnisse, die Ellen Thiemann über die medizinische „Versorgung“ im DDR-Strafvollzug ausbreitet. Man kann die Scheußlichkeiten nicht annähernd aufzählen, mit denen sie bei ihrer journalistischen Arbeit, die Zeit, Geld und Überwindung kostete, konfrontiert wurde. Im dritten Kapitel „Ausgeliefert“ berichtet sie über den systematischen Missbrauch bei der Verabreichung von Psychopharmaka und Sedativa durch medizinisch ungeschultes Personal an kranke und wehrlose Gefangene. Sie machte Stasi-Ärzte wie Dr. Herbert Vogel ausfindig, der sie einst in Berlin-Hohenschönhausen als Röntgenarzt behandelte und der nach 1989 als Obermedizinalrat in Bernau bei Berlin eine Privatklink betrieb, als wäre nichts geschehen, und den sie anzeigte. Auch den untergetauchten Hohenecker Chefarzt Oberstleutnant Dr. Peter Janata, dem sie einst ausgeliefert war, konnte sie entdecken, da er 1990/91 bei den Ermittlungen gegen den MfS-Minister und Doppelmörder Erich Mielke (1907-2000) als wohlwollender Gutachter fungierte. Ellen Thiemann berichtet von Selbstmorden verzweifelter Hoheneckerinnen und von Margot Honeckers teuflischem System der Zwangsadoptionen, massenweise „legal“ vollzogen an den Kindern von „Staatsfeinden“. Nicht einmal für dieses Kapitalverbrechen musste sich die Ex-Ministerin, die seit Jahrzehnten in Chile eine üppige Rente aus Deutschland bezieht, vor Gericht verantworten.
Dieses Buch kann man nicht wie einen Roman in einem Zug durchlesen, besonders dann nicht, wenn man von drei „bisher unbekannten Schicksalen“ in Hoheneck erfährt, die Ellen Thiemann ermittelt hat. Die Dresdner Frisöse Elke Junge beispielsweise saß wegen eines Fluchtversuchs bei der Stasi in Untersuchungshaft und wäre von ihrem Vernehmer fast umgebracht worden, als er ihren Kopf gegen die Betonwand schleuderte und dadurch einen Schädelbruch verursachte, der nie behandelt wurde. In Hoheneck wurde sie von der „Erzieherin“ Margarete Suttinger (Spitzname „Einsfünfzig mit Hut“) zwei Tage und eine Nacht in einer Wasserzelle gesperrt, aus der sie „völlig durchnässt, zitternd, frierend und vor Kälte ganz steif“ ausgeschlossen wurde. Als sie im Sommer 1974 freigekauft worden war, bekam sie mit 36 Jahren eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugesprochen.
Den ehemaligen SED-Kadern und verwandtem Gelichter, die diese blutige Diktatur 1949 installiert hatten, haben den Mauerfall 1989 schadlos überstanden und höhere Renten eingeklagt. Es geht ihnen heute glänzend im „Kapitalismus“, den sie einst gnadenlos bekämpften. Nie sind sie, höchstens in Einzelfällen, wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gestellt worden, wie der „bedauernswerte“ Ex-Staatsratsvorsitzende Egon Krenz, der wegen der Mauermorde verurteilt wurde und knapp vier Jahre als Freigänger in Berlin-Plötzensee einsaß, also nur die Nächte in einer Gefängniszelle verbrachte, worüber er sich bis heute bitter beklagt.
Seitenlang kann man bei Ellen Thiemann nachlesen, wie angenehm die Ex-Kader heute ihr süßes Leben gestalten und wie sie jenen Tag herbeisehnen, an dem sie wieder in ihre alten Machtpositionen eingesetzt werden. Ich konnte das am 29. August im Hotel Thüringen in Suhl selbst erleben, wo eine Gruppe von 60 Stalinisten von alten Zeiten schwärmte, die wieder kämen, irgendwann.
Vorher freilich kommt die biologische Lösung für diese Leute von vorgestern! Und sicher dürfte sein, dass die DDR-Verhältnisse 1949/89 in wenigen Jahrzehnten auch so gründlich erforscht werden wie das „Dritte Reich“ 1933/45.
Ellen Thiemann „Wo sind die Toten von Hoheneck? Neue Enthüllungen über das berüchtigte Frauenzuchthaus der DDR“. Herbig-Verlag, München 2013, 272 Seiten, 19.99 Euro
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