Es war das Sommermärchen der 90er-Jahre: 1995 bezauberte das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude mit dem verhüllen Reichstag ganz Deutschland, fünf Millionen Besucher pilgerten in Berlins Mitte. Jahrelang kämpfte das unzertrennliche Künstlerpaar darum, den Reichstag verhüllen zu dürfen. „Zwanzig Jahre lang hat Christo daran gearbeitet. Hat diese idiotischen westdeutschen Politiker überzeugt. Diese Spießer und Hosenscheißer. Die eine Seite des Gebäudes stand im Osten, es musste also erst die Mauer fallen, weil die Russen und die Zone natürlich auch nicht mitmachen wollten. Dann hat er den Stoff herstellen lassen und die Seile und alles eingepackt. Hitler, Goebbels, Wilhelm Zwo, den Osten und den Westen. Alles weg. Eingepackt.“, wie es eine Protagonistin in Gregor Sanders Roman ausruft.
Der verhüllte Reichstag, in dem „sich jeder Deutsche widerspiegeln“ wird, wie Willy Brandt es so treffend ausdrückte, kann auch als Metapher für den neuen Roman von Gregor Sander stehen. Auch hier geht es um Verhüllungen, Verschleierungen, um Sein oder Schein, um Dualitäten. Im großen Maßstab gedacht fällt da zuerst West und Ost ein. Das geteilte Berlin steht hierbei stellvertretend für das geteilte Deutschland und dieses wiederum für ein zweigeteiltes Europa. Es geht jedoch auch um zwischenmenschliche Beziehungen, sei es nun die Liebe von Mann und Frau oder um Freundschaft. Gregor Sander lässt seine Geschichte in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts beginnen, in der Endphase des hochgelobten, aber kurz vor dem endgültig Absturz stehenden Sozialismus. Noch hält das Absperrband. Die Haare der zwei siebzehnjährigen Neubrandenburgerinnen Astrid und Jana gleichfalls, als sie zu einem Sommerfest der Berliner Bohème an einen See geladen sind. Künstler, die Ausstellungsverbot haben, so wie Katharina, eine anarchistische Malerin und ihr Sohn Julius, dessen Vater und Halbbruder in Hamburg lebt und der in einer Punkband die Klampfe zupft. Jener Julius, der von Jana gern abgelegt werden will und der sowieso viel besser zu Astrid passen würde. Man ist jung, frei und stark. Frei? Die Ketten, sie sind allerorts spürbarer im Vorwendesommer und erste Glieder reißen bereits.
Ein Vierteljahrhundert später ist man zwar um ein paar graue Haare weniger, doch vielleicht auch ein bisschen Verstand reicher geworden. Die zuweilen schmerzliche Dualität im Zwischenmenschlichen ist jedoch geblieben. Man liebt immer noch, auch wenn Personenkonstellationen und gesellschaftliche Einstellungen mitunter gewechselt haben. Die schüchterne Astrid, mittlerweile geschiedene Mutter von zwei Kindern, arbeitet als Kardiologin in einem Krankenhaus im Westen von Berlin. Ihr Julius heißt jetzt Paul, moderiert im Radio und seine Wiege stand ursprünglich hinter dem eisernen Vorhang. AstridsFreundin Jana hingegen, die damals unbedingt raus wollte aus dem Arbeiter- und Bauernstaat, und es auch schaffte, umgibt ein dunkles Geheimnis, das letztendlich gelüftet wird. Eine Reise von Astrid und Paul nach Budapest, zu den Wurzeln des Auseinanderbrechens hochfliegender Jugendträume, lässt auf einmal alles in neuem Glanz erscheinen. Genau wie die schillernden Farbnuancen von Christos Stoffbahnen um den Berliner Reichstag. Nuancen, die je nach Windspiel und Sonneneinstrahlung von tiefgrau bis hin zu schillernden Orangetönen changieren können…
Gregor Sander hat in seinem Roman die „Generation Wende“ wieder aufleben lassen. Verpackt in einer Liebesgeschichte und aus dem Blickwinkel der „kleinen Leute“ beleuchtet er in wechselnden Zeit- und Erzählebenen (einmal wird in der 3. Person berichtet, dann wieder in der Ich-Form aus der Sicht von Astrid) die damalige Umbruchszeit Ende der Achtziger. Allerdings reißt er viele Themen nur an, ohne sie konsequent weiterzuverfolgen. Vor allem der Hintergrund der diffizilen Frauenfreundschaft scheint mir ein wenig zu leichtfertig abgehandelt und gar zu schnell fallengelassen. Alle agierenden Personen bleiben irgendwie nur flüchtig präsent. Nichtsdestotrotz eine gut lesbare, spannende Lektüre, die ihre politischen Unruhen bis ins Ungarn der Jetztzeit mitnimmt. Und vielleicht ist Gregor Sanders gewisse Inkonsequenz auch gezieltes Stilmittel. Weil möglicherweise nur im Augenblick die Ewigkeit und nur in der Vergänglichkeit die Erinnerung aufgehoben ist. Genauso wie es Christo mit seinem Kunstwerk bezweckte. Denn wer weiß was gewesen wäre, wenn….
Gregor Sander
Was gewesen wäre
Wallstein Verlag (Februar 2014)
235 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3835313592
ISBN-13: 978-3835313590
Preis: 19,90 EUR
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