Eine Welt ohne Vergangenheit und Zukunft?

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Das Zeitalter des kollektiven Individualismus und die Formung des Homo stimulus werfen eine der fundamentalsten Fragen der Menschheitsgeschichte auf!

Die Welt der Zukunft ist unzweifelhaft die des kollektiven Individualismus. Dieser wird von der modernen Reizgesellschaft sowie dem Verhaltenskapitalismus getragen und wirft eine grundlegende Frage auf, die weit über die Betrachtung der eigentlichen Elemente hinausgeht. Vielleicht ist es die wichtigste Frage des 21. Jahrhunderts. Zeitenwandel, Homo Stimulus, Beahvioral Capitalism, Stimulus Society, Milieukampf – um diese konkreten Anpassungsprozesse, so wichtig ihre Beobachtung auch sein mögen, soll es nicht gehen, sondern vielmehr um einen fundamentalen, beinahe philosophischen Gedanken, der bislang noch ein kleines Schneegestöber darstellt, dass in wenigen Jahrzehnten zur unaufhaltsamen Lawine werden kann.

Braucht es noch den roten Faden?

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Die zentrale Frage, die aufgeworfen werden muss, ist die nach der Kausalität. Ja, das Leben erscheint kausal. Ursache, Wirkung, Reihenfolge. Geburt, Heranwachsen, Altern, Sterben. Die Logik scheint die Existenz des Zusammenhanges zu bestätigen. Aber braucht das menschliche Leben der Zukunft überhaupt eine Vergangenheit und ein Fortschreiten? Oder doch nur den Moment?

Die Fragestellung ist natürlich bewusst überspitzt formuliert und tatsächlich war es lange Zeit unverstellbar, dass es einen Verzicht auf Kausalität im menschlichen Leben geben kann. Ist sie nicht ein unverzichtbarer Teil des Daseins? Ist menschliches Leben ganz oder teilweise ohne den berühmten roten Faden auch nur denkbar? Der Leser dieser Zeilen mag dieses spontan verneinen und doch wird er sich früher oder später, entsprechende Lebensdauer vorausgesetzt, mit dem besagten Gedanken beschäftigen müssen, denn es deutet sich an, dass diese Frage eine zentrale des 21. Jahrhunderts werden könnte.

Aber ein Verzicht auf Kausalität? Unvorstellbar? In der Philosophie war es das nicht. Allerdings ist Mut und Abstraktion in Gedanken leichter zu finden als in der Wirklichkeit.  Nur folgten irgendwann auch Teile der Naturwissenschaft, man denke an die Quantenphysik. Ja, richtig. Doch ist das nicht alles nur für das Leben unbedeutende Nische? Abgekoppelt von einer Welt, in der B nun einmal A voraussetzt? So schwer verständlich und damit irrelevant? So mag man denken.

Neue Zeiten – neue Weltansichten

Für manche ändert sich diese Weltansicht allerdings mit dem einsetzenden Zeitenwandel, mit der immer mehr wahrnehmbaren Einbettung des Menschen und dem damit beginnenden Zeitalter des kollektiven Individualismus. Mehr und mehr wurde es, wenngleich erst einmal für eine kleine Gruppe, vorstellbar, dass der Mensch den roten Faden oder Teile davon zugunsten, einer dauerhaften individualisierten Welt, die ein vorher und nachher nicht unbedingt braucht, aufgeben könnte. Umso vollkommener der kollektive Individualismus, desto weniger Bedarf gibt es an Zusammenhängen, da immer die momentane Bedürfnisbefriedigung im Mittelpunkt stehen wird. Die Reize kommen und wirken. Immer wieder. Keine Notwendigkeit einer Vergangenheit, keine für die Zukunft. Bei Bedarf lassen sich Erinnerung irgendwann vielleicht sogar künstlich erzeugen, allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass die Zufriedenheit des Moments solcher Blicke noch bedarf, wenn auch nicht ausgeschlossen.

An dieser Stelle muss natürlich darauf verwiesen werden, dass ein Extrem beschrieben wird – wohlwissend, dass die Realität stetig die Mischform bevorzugt.  

Und doch bleibt der Gedanke verblüffend logisch, auch, wenn er bei manchem Leser verständlicherweise auf Ablehnung stoßen muss, aber wozu braucht ein komplett eingebetteter Mensch, dem – ebenfalls überspitzt formuliert – jeder Wunsch quasi von den Augen abgelesen wird, noch einen roten Faden? Und ist diese Einbettung nicht der Kern, des Verhaltenskapitalismus, der modernen Reizgesellschaft – kurz des kollektiven Individualismus?  Warum sollte er sich noch an schöne Erlebnisse aus der Vergangenheit erinnern wollen? Schreckliche gäbe es nicht, wenn er denn sein Leben schon im Rahmen verbracht hätte. Und kümmern muss er sich doch auch um nichts. Das erledigen alles Algorithmen und die künstliche Intelligenz. Und wären damit nicht auch alle zufrieden? Der Gedanke, dass die Kausalität in Teilen in einem vollkommenen kollektiven Individualismus am Ende verloren geht, ist damit keinesfalls abwegig, sondern sogar wahrscheinlich. 

Ein erschreckendes Beispiel

Nehmen wir ein Beispiel: Das eines Demenzkranken im fortgeschrittenen Krankheitsstadium, der Ereignisse, Entscheidungen und Personen binnen weniger Minuten vergisst. Ein solcher Mensch kennt Kausalität nur noch eingeschränkt; vielleicht auch gar nicht mehr. Irgendwann entrückt er wahrscheinlich vollkommen. Für Beobachter ein schrecklicher Zustand, für den Erkrankten vermutlich dann, wenn er die Veränderung bewusst wahrnimmt.  Was aber nimmt er noch wahr? Was ist Glück jenseits des roten Fadens? Sind das dann nur einzelne Momente, die sofort vergehen? Wir wissen es natürlich nicht und der Neurowissenschaftler könnte hier, aufgrund nachweislicher Veränderungen des Gehirns manchen Einwand vorbringen, aber es ist nicht zu leugnen, dass auch das Leben Varianten ohne Kausalität aufzeigt, wenn sie uns auch schrecklich erscheinen mögen.

Ein konkretes Beispiel

Nun betrachten wir die Mechanismen des Verhaltenskapitalismus, die Einbettung, die moderne Reizgesellschaft und den Homo stimulus und es zeigt sich ein ähnliches Prinzip:

Wie viele der aktivierenden Reize, die für einen kurzen Moment eine Reaktion hervorriefen, sind bereits nach wenigen Sekunden vergessen? Spielt es eine Rolle, ob diese – für das Individuum – in irgendeinem Zusammenhang stehen? Genügt es nicht, dass das Kurzvideo für eine Minute unterhaltend war, die Textnachricht kurzzeitig die Aufmerksamkeit forderte? Sind auf diese Art und Weise nicht Hunderte, vielleicht Tausende soziale Interaktionen bar jeder Kausalität?  Zweifellos mag es sinnbefreite und nicht erinnerungswürdige Zerstreuung schon immer gegeben haben, aber in dieser Form und Intensität?  

Nun soll der Homo stimulus keinesfalls mit einem Demenzkranken verglichen werden, denn der Reizmensch ist letztendlich nur eine Anpassung und Weiterentwicklung und trägt einen potentiellen Verzicht auf Zusammenhänge nicht in sich, sondern sie würde sich am Ende aus der Wechselwirkung mit dem Umfeld und der persönlichen Anlage ergeben. Der Erkrankte ist dagegen ein bedauernswertes Individuum, der Stück für Stück die Kontrolle und am Ende sich selbst verliert. Es ist ihm, nach heutigem Stand der medizinischen Entwicklung, nicht möglich, sich gegen das Kommende zu wehren, während der Homo stimulus aktiv gestalten kann.

Gestalten oder gestaltet werden?

Um agieren zu können, bedarf es aber auch des Wissens.  Der Zeitenwandel, der Homo stimulus, die Reizgesellschaft, der Verhaltenskapitalismus, die Ära des kollektiven Individualismus – die Zeichen sind sichtbar, sie müssen nur gedeutet und gesteuert werden, denn aufzuhalten sind sie nicht. Große Teile der Menschen sind bereit, sich der neuen Zeit zu öffnen und begrüßen sie sogar. Ebenso wird für jede neue Generation alles ein wenig mehr verständlicher sein als für die zuvor. Und damit steht am Ende auch die Kausalität auf dem Spiel.

Und droht nicht ohne Zusammenhang ein beispielsloser Kontrollverlust über viele Bereiche des Lebens? Oder ist das hinnehmbar für eine vielleicht bessere Zukunft? Ist es am Ende egal? Für nicht wenige vermutlich durchaus.

Eine gewagte These? Oder doch nur eine unbequeme Wahrheit?

Nicht in Extremen denken!

Selbstverständlich lassen sich Einwände finden, um diese mögliche Zukunft als utopisches oder dystopisches Gedankenspiel abzutun. Das funktioniert aber nur bei einem Denken in Extremen. Daher sei der offensichtlichste Einwand genannt:

Der kollektive Individualismus kann nicht vollkommen sein, solange es noch Milieukämpfe gibt und ein Ende ist nicht abzusehen, da die Welt die Verteilungsfragen – aus heutiger Perspektive – niemals wird lösen können und der Zeitenwandel jede Menge ungeklärte Probleme sowie Konflikte mit sich bringt.

Diese Anmerkung ist richtig und das Ringen zwischen dem Phänomen des Milieukampfes und dem individuellen Kollektivismus wird uns als Menschheit noch das ganze Jahrhundert beschäftigen, doch sollten wir an dieser Stelle nicht in Extremen denken, denn es gibt doch nicht nur eine Auswahl zwischen der totalen und der aufgegebenen Kausalität, sondern so viel dazwischen.

Ja, es wird ihn weiter geben. Den armen Menschen, der jeden Tag mit einem schlechtbezahlten Job um seine wirtschaftlichen Existenz kämpfen muss, aber das wird auch ihn nicht davon abhalten, sich parallel einbetten zu lassen und damit vielleicht auch einen Teil der Kausalität zu verlieren.  Ja, auch der Homo stimulus wird weiter Nahrung zu sich nehmen müssen. Er wird lieben wollen und doch lebt er in einer Reizgesellschaft und in Zeiten des Verhaltenskapitalismus. 

Dort, in der Parallelität wird auch die Realität der Zukunft liegen. Dort, in einem unvollkommenen kollektiven Individualismus mit seinen mannigfaltigen Zwischen- und Teillösungen in denen die Kausalität mal bedeutend bleibt und dann wieder immer unschärfer wird.

Trotzdem bleibt die grundsätzliche Frage und es macht daher Sinn, sie bereits heute zu stellen.

Bei diesem Beitrag von Andreas Herteux handelt es sich um einen angepassten Auszug aus der Mongrafie „Homo Stimulus: Grundlagen menschlicher Anpassung und Weiterentwicklung im Zeitalter des kollektiven Individualismus“ (ISBN-13: 978-3948621124, DOI10.5281/zenodo.3666616).

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Weitere relevante Schriften sind:

Alle Grafiken lassen sich zudem auf der offiziellen Seite der Erich von Werner Gesellschaft und des Erich von Werner Verlages abrufen.

Ergänzende Definitionen:

Unter einer modernen Reizgesellschaft versteht man ganz allgemein einen Zusammenschluss von Individuen, der in starker Frequenz beeinflussenden, in der Regel künstlich erzeugten, Reizen ausgesetzt ist und sich diesen nur schwer oder nicht entziehen kann bzw. zum Teil auch nicht möchte.

Unter einem Homo Stimulus, versteht man eine derartig konditionierte Person, die an eine permanente Konfrontation mit hochfrequentierten, kurzen sowie künstlichen Reizen gewöhnt ist und sich ihnen kaum oder nur teilweise entziehen kann oder will. Im Gegenteil werden bestimmte Reize oft selbst eingefordert oder ein entsprechender Reizdialog angestoßen.

Unter Verhaltenskapitalismus versteht man eine Spielart des Kapitalismus, in der menschliches Verhalten zum zentralen Faktor für die Produktion und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen wird.

Unter einem kollektiven Individualismus wird ein Individualismus verstanden, bei dem das Individuum so eingebettet wird, dass die individuelle Selbstentfaltung innerhalb eines nicht oder kaum sichtbaren Rahmens erfolgen kann.

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