Es ist der Traum von einer im Innersten reformierten, Christus ähnlich gewordenen Kirche, der seit tausend Jahren die Herzen bewegt. Dieser Traum aber verbindet sich seit rund achthundert Jahren mit dem Namen des heiligen Franziskus von Assisi.
Genau an diesen Traum erinnerte ich mich unmittelbar nach der Wahl des Papstes Franziskus. Es reizt mich, diesen Traum zu beschreiben, denn er verbindet das Ideal der Geschwisterlichkeit aller Christen mit der Erwartung einer Kirche, die eben nicht die frühkapitalistische des zwölften Jahrhunderts, auch nicht die weithin hochkapitalistische des einundzwanzigsten Jahrhunderts, sondern die Jesus ähnlicher ist.
Eine Episode vom Tag der letzten Papstwahl: Der neugewählte Papst ließ erklären, er nenne sich nicht Franziskus I., sondern Franziskus. Warum nicht der erste, auf den dann noch viele folgen könnten? Gibt es vielleicht eine Planstelle in Gottes Haushalt, die „Franziskus“ heißt? So wie eben jeder Papst „Petrus“ ist, da er laut Kuppelinschrift der Peterskirche Matthäus 16,18 auf sich bezieht (Du bist Petrus…).
In der Tat: Es gibt diese Planstelle, es gibt nur einen Franziskus, und das ist der Franziskus der Endzeit, so wie er im zwölften und dreizehnten Jahrhundert von der Christenheit und danach öfter noch von Franziskanern in die Endzeit-Erwartung eingebaut wird. Merkwürdig ist schon: Joseph Ratzinger hat über diese Erwartung 1959 seine Doktorarbeit geschrieben. Und sein Nachfolger im Amt Petri erfüllt diese Erwartung oder besser gesagt: möchte seinen Teil zu dieser Erfüllung beitragen. Der heilige Bonaventura (1220-1274) war der Urheber dieser Geschichtstheologie, wonach Franziskus der Inbegriff einer prägenden Gestalt der Endzeit ist.
Franziskus von Assisi hat eine Deutung im Sinne einer Geschichtstheologie erfahren, die wie keine andere das Mittelalter geprägt hat. Der heilige Franz von Assisi ist zum großen Interpreten des Evangeliums geworden. Er übersetzte in die Sprache des hohen Mittelalters, was Jesus für die Kirche bedeuten sollte. Und meines Erachtens ist das auch heute aktuell.
Die Endzeit, die mit Franziskus beginnt, ist nach dieser Erwartung eine Zeit der großen inneren Umgestaltung der Kirche. Keine Frage: Das Papsttum bleibt, aber Franziskus prägt eine Kirche, in der Demut und Bescheidenheit, freiwillige Armut und Geschwisterlichkeit der Christen herrschen.
„Erfunden“ und an den heiligen Bonaventura und sein Verständnis von Kirche weitergegeben hat dieses „Ideal“ der Zisterzienserabt Joachim von Fiore (†1202). Dieser rechnet, schlicht gesagt, mit einem Zeitalter des Heiligen Geistes in der Kirche, das mit und nach ihm beginnen soll. Und der Heilige Geist ist es auch, der die Spielregeln in der Kirche bestimmt. Schon im Neuen Testament ist die am Heiligen Geist inhaltlich orientierte Ethik ein Handeln nach Machtverzicht, Demut und Bescheidenheit.
Dass es jetzt nun ausgerechnet ein Jesuit ist, der sich nach Franz von Assisi benennt, hat manche gewundert („der falsche Orden“). Es ist aber verständlich, weil nach Joachim von Fiore das letzte Zeitalter der Kirche auf jeden Fall eines ist, „in dem die Mönche das Sagen haben“. Also kurzum: So war es. Franz von Assisi starb am 3. Oktober 1226. Der Franziskaner Bonaventura (†1274) hält seinen Ordensgründer für den entscheidenden Reformator der Kirche. Er setzt ihn ein in das Geschichtsbild des Zisterzienserabtes Joachim von Fiore (†1202). Damit bekommt Franziskus seinen Ort zu Beginn des Zeitalters des Heiligen Geistes.
Denn so sollte nach Joachim die Heilsgeschichte verlaufen: Auf die Epoche des Vaters (Altes Testament) folgt die des Sohnes (Neues Testament, bis ca. 1180), darauf die des Heiligen Geistes. Das Bild der Kirche und die Spielregeln ändern sich jeweils. Jedenfalls ist das Zeitalter des Heiligen Geistes, das Joachim das „Dritte Reich“ nennt, das der unmittelbaren Zukunft. Als Mönch strenger Observanz fühlt sich Joachim dieser neuen Zeit verpflichtet. Alle Reform, nach der sich die Christenheit spätestens seit dem Anfang des zehnten Jahrhunderts (Cluniazensische Reform) sehnt, soll hier endlich Wirklichkeit werden. Auffällig ist übrigens, dass alle diese Reformbewegungen in der Mitte Frankreichs und in Burgund ihren Ausgang nehmen. Das gilt auch für die Zisterzienser, die wie die Cluniazenser reformierte Benediktiner sind. Jedenfalls fand Bonaventura in Franz von Assisi den heiligen Mönch schlechthin, von dem und von dessen Wirkung her man eine wirkliche Kirchenreform erwarten konnte.
Die Initialzündung sollte ausgehen von Franziskus, den Bonaventura in die Deutung der Offenbarung des Johannes einbaute. Denn Bonaventura rechnet, wie Joachim von Fiore, damit, dass die Apokalypse sich in der unmittelbaren Gegenwart vollzieht. Eine solche direkte „Anwendung“ der Offenbarung auf das Zeitgeschehen haben wir Neuzeitmenschen längst den Sekten überlassen. Dabei halte ich eine solche Auswertung unter bestimmten Umständen für legitim, dann nämlich, wenn man auf bestimmte zeitliche und personelle Festlegungen verzichtet.
Bonaventura sagt, Franziskus sei der „Engel des sechsten Siegels“ (Apk 7,2-3). Derartige Festlegungen kann heute niemand mehr akzeptieren. Aber soll die Offenbarung des Johannes deswegen verfallen und schlechthin wertlos sein? Dann hätte die konsequenteste Geschichtstheologie des Neuen Testaments überhaupt keine theologische Bedeutung mehr. Das kann nicht sein. Die Offenbarung des Johannes ist nicht „der Rottengeister Gaukelsack“, wie Martin Luther meinte. Wenn man darin nach Gottes Wort und verbindlicher Offenbarung sucht, dann vielleicht im oben angedeuteten Sinne einer „Planstelle“. Mit dem Engel des sechsten Siegels könnte die Offenbarung des Johannes in der Tat eine Lichtgestalt beschreiben, die in dunklen Zeiten die Menschen der Welt daran erinnert, dass Gott sie nicht vergessen und verlassen hat. Diese Planstelle ist wie ein Kleid, das bereit liegt und auf verschiedene, vielleicht wenige Menschen immer wieder passen könnte.
Der Engel des
Sechsten Siegels
Über diesen Engel heißt es in der Offenbarung des Johannes (7,2-3): „Und einen anderen Engel sah ich heraufsteigen vom Osten her. Er hielt ein Siegel des lebendigen Gottes in der Hand und rief den vier Engeln, denen die Macht verliehen war, Erde und Meer Schaden zuzufügen, laut zu: Lasst Erde, Meer und Wald so lange unversehrt, bis wir diejenigen, die unserem Gott gehorsam sind, an der Stirn versiegelt haben, damit sie nicht abtrünnig werden.“
Es ist sicher nicht völlig zufällig, dass man weltweit mit Papst Franziskus genau die Erwartungen verbindet, die schon der heilige Bonaventura mit der Planstelle namens „Franziskus“ verknüpfte. Joachim von Fiore hatte übrigens von einer monastischen Gestalt geredet, aber den Namen Franziskus nicht genannt. Es waren dann Franziskaner, zu denen auch Bonaventura gehörte, die diese Figur zu Beginn des dritten Zeitalters eindeutig Franziskus nannten.
Franziskus ist für das Mittelalter der „Engel des Sechsten Siegels“ (der Apokalypse) und wegen seiner Stigmata der „andere Christus“. Er gehört also in die Heilsgeschichte, näherhin in die Endzeit. Und wenn sich jemand „Papst Franziskus“ nennt, dann zieht er sich diese Rolle auf den Leib. So jedenfalls der heilige Bonaventura in seinem „Leben des heiligen Franziskus“, dessen Experte jetzt in Rom im Ruhestand lebt. Bonaventura ist das beide Päpste verbindende Stichwort. Präzise heißt es noch bei Baluzius (†1718) über Franziskus: „Patet ipsum vere esse Angelus aperitionis sexti signaculi – Offenbar ist er wirklich der Engel der Öffnung des sechsten Siegels“.
Der heilige Bonaventura schreibt im Vorwort seines Großen Franziskuslebens, Johannes habe Franziskus treffend in seiner Weissagung unter dem Bild des Engels bezeichnet, der vom Aufgang der Sonne aufsteigt und das Zeichen des lebendigen Gottes trägt. Bonaventura preist Franziskus darum als „einen neuen Mann, den der Himmel der Welt geschenkt hat“.
Schon Thomas von Celano (†1260) hatte Franziskus als „neuen Evangelisten“ gepriesen, durch den „dem Erdkreis unerhoffte Frohbotschaft und heilige Erneuerung ward“. Auch Celano betrachtet seine Zeit als das sechste Zeitalter, dass die Minderbrüder „in der jüngsten Zeit“ gesandt seien, „um den vom Dunkel der Sünde umhüllten Menschen Beispiele des Lichtes zu zeigen“. Franziskus aber sei „der Prophet unserer Zeit, gleich einem neuen Apostel, der neue Mensch, … der Mann aus der anderen Welt“. So betrachten die Franziskaner laut Bonaventura Ordensregel und Testament des Heiligen als das „Gesetz des kommenden Weltzeitalters“, das mit der recht verstandenen Frohbotschaft Christi ein und dasselbe sei. „Für sie stand die Gestalt ihres Ordensvaters am Anfang der neuen, sehnsüchtig erwarteten Weltzeit.“ Gott weise jedem Menschen und jedem Ding seine Zeit an; darum habe Gott in seiner weisen Vorsehung die Apostel und deren Jünger mit Wundervollmacht ausgestattet, um den Götzendienst zu vernichten, dann seiner Kirche gelehrte Theologen geschenkt, um die Irrlehrer zu überwinden, und endlich in der Endzeit den Liebhaber der höchsten und freiwilligen Armut erweckt, um die Habsucht auszurotten. Doch gibt Bonaventura klar zu erkennen, dass mit dem Wort „Endzeit“ keineswegs gesagt sei, die Wiederkunft Christi stehe schon bald bevor. Anders als die Joachiten (das heißt die Anhänger Joachims von Fiore) sieht Bonaventura das sechste Zeitalter und mit ihm Franziskus als „Wegbereiter für den wiederkommenden Herrn“. Dafür beruft sich Bonaventura oft auf das Wort des Franziskus, er sei „Herold des großen Königs“. Das Zeichen Gottes, das der Engel trägt, ist demnach in Ezechiel 9,4 begründet, wonach der Mann im Linnengewand das Tau-Zeichen den Männern auf die Stirn drückt.
Die geschilderte Deutung der Gestalt des Heiligen von Assisi „als Engel, der vom Aufgang der Sonne heraufkommt und das Siegel des lebendigen Gottes trägt“, ist nur Bonaventura eigen. Schon bei seiner Auseinandersetzung mit Wilhelm von Saint-Amour hatte er sich für die Heilssendung der neuen Mendikantenorden (Bettelorden) auf die Worte berufen, die sich an die obige Vision vom Engel des sechsten Siegels anschließen, und erklärt: „Sie sollen ihre ganze Sorge darauf richten, die Knechte Gottes auf der Stirn mit dem Siegel des lebendigen Gottes zu bezeichnen.“
Dass dieser Engel des sechsten Siegels Franziskus sei, nimmt Bonaventura an, weil Franziskus die Wundmale Christi trug und damit das Siegel Gottes, und eben dieses fand er auch in Ezechiel 9,4 wieder. In althebräischer Schrift hat das Taw Kreuzesform, anders in der späteren und seit zweitausend Jahren üblichen Quadratschrift. Gewissermaßen spiegelverkehrt heißt es vom Antichrist: „Hier lässt der Antichrist den Juden Kreuzzeichen an die Stirn und in die rechte Hand machen zu einem Zeichen, dass sie an ihn glauben. Das ist geschrieben in der Apokalypse des Johannes, im Kompendium Buch VII.“ (so im „Blockbuch vom Antichrist“).
So macht die Stigmatisierung den heiligen Franziskus zum Widersacher des Antichrists, zum „anderen Christus“. Nach Angelo Clareno hat Christus vielfältig zu den Christen gesprochen, durch die Väter, die Apostel, die Märtyrer, die Heiligen, jüngst aber in seinem seraphischen Sohn Franziskus, den er zum Erben all derer machte, die nachfolgen in Armut, Gehorsam und Keuschheit. Und Christus hat ihn erhöht: Er ist der „alter Angelus ascendens ab ortu solus, qui signum in se habet Dei vivi“ – der „andere Engel, der vom Osten her aufsteigt und das Zeichen des lebendigen Gottes an sich trägt“. Er ist der „novus homo“ nach Gottes Bild. Auch an dieser Stelle fällt auf: Das große Thema Benedikts XVI. war ein Kreisen um Christus und den Menschen als „Bild Gottes“.
Der heilige Bonaventura bezieht sich auch in seinen Predigten auf diese Tradition: Das Zeichen des lebendigen Gottes ist der Eifer um das Heil der Menschen. Die Bezeichneten sind die „qui sunt in conformi vita Christi“, also die dem Leben Christi gleichen. Gottes Bild wird in Franziskus erneuert, heißt es auch bei Matthäus von Aquasparta OFM (†1302, Predigten über Franziskus). Das „Zeichen des lebendigen Gottes“ wird hier mit der Imago-Theologie der Bibel verbunden. Es geht um den Menschen, der am sechsten Tag – daher das sechste Siegel – erschaffen wurde, schreibt Ioannes Peckham OFM (†1292). Der „andere Engel“ von Apokalypse 7,2 kann dabei auch, so meinte man, mit dem „anderen Engel“ aus der Apokalypse 14,6 gleichgesetzt werden.
Als der Engel des sechsten Siegels ist Franziskus daher eine positive Gestalt, keineswegs eine apokalyptische Schreckensfigur. Die berühmte Vision des heiligen Franz, er sei Pfeiler in der vom Einsturz gefährdeten Kirche geworden, greift auf das Bild der Säule aus der Apokalypse zurück (3,12) und umreißt die Erwartungen, die man mit ihm verband. Denn viele Menschen haben immer wieder gefragt: Was hat denn der heilige Franz mit der katholischen Kirche zu tun? Die Antwort gibt die Säulen-Vision. Offenbar hat der heilige Franz selbst von der Aufgabe geahnt, die ihm zukommen sollte.
Und die ganze Christenheit hofft und betet, dass der Papst, der sich Franziskus als Patron und zum Leitbild erkoren hat, dieser wahrhaft apokalyptischen Aufgabe gewachsen sein möge. Der heilige Franz ist für seine Anhänger „der Mann aus der anderen Welt“. Wenn der „vom Ende der Welt“ her berufene Papst Franziskus sich wirklich auf das dritte Zeitalter, das des Heiligen Geistes einlässt, dann bedeutet das: Dieser Papst, der in seinem Heimatland zahlreiche Erfahrungen mit den Pfingstlern gemacht hat, wird genau wissen, dass auch wir Katholiken öfter vom Heiligen Geist reden und öfter zu ihm beten sollten. Denn dieses sind die vorzüglichsten Gaben des Heiligen Geistes: Charismen für alle Getauften, Aufhebung der trennenden Brücken, Heilung all dessen, was krank oder verwundet ist, schließlich die Hoffnung auf ein neues, begeistertes Christsein.
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