Robert M. Zoske: Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie, München (Verlag C.H. Beck), 2. Aufl. 2018, 368 Seiten
I.
Wie allgemein in der Geschichtsschreibung geht es bei Biografien um den Zwiespalt von ›wirklicher‹ Vergangenheit und individuellem sowie zeitbedingtem Erkenntnisinteresse. Ob unbewusst oder in zielgerichteter Absicht – nicht selten kommt es zu verengter Wahrnehmung von ›ungeraden‹ Lebenswegen der Porträtierten. In spezifischer Weise gilt dies für die Geschichte der Weißen Rose, Symbol ethischer Lauterkeit, des Opfermuts und des Martyriums junger Menschen im vergeblichen Kampf gegen das Böse in Gestalt des Nationalsozialismus.
Über lange Zeit prägte das von Inge Scholl, der ältesten Schwester von Hans und Sophie Scholl, 1952 erstmals veröffentlichte Buch Die Weiße Rose das Bild des Widerstandskreises. Darin spielte sie die anfängliche HJ-Begeisterung aller Scholl-Geschwister – auch ihre eigene als Ulmer ›Ring‹-Führerin im BDM (Bund Deutscher Mädel) – herunter. Erste Zweifel hätten Erlebnisse des sechzehnjährigen Hans (als einer der drei ›Jungvolk‹-Führer in der Ulmer HJ ) auf dem NSDAP-Reichsparteitag im September 1935 in Nürnberg geweckt. Inspiriert von der ›bündischen‹ Jungenschaft, sei er dort mit entsprechenden Wimpeln aufgetreten und darüber mit höheren HJ-Funktionären in Konflikt geraten.
Desillusioniert – und zu früher Widerständigkeit motiviert – wurden die Geschwister durch das Schockerlebnis im November 1937. Inge, Werner und Sophie wurden von der Gestapo wegen ›bündischer Umtriebe‹ festgenommen und verhört. Hans Scholl, dem eine Karriere als Kavallerieoffizier vorschwebte, wurde aus der Kaserne in Bad Cannstatt heraus verhaftet. Anfang Juni 1938 standen Hans Scholl und Ernst Reden, der mit den Geschwistern, namentlich mit Inge, befreundete bündische Ideengeber, vor dem Stuttgarter Sondergericht. Während Hans dank einer nach dem ›Anschluss‹ Österreichs verkündeten Amnestie für geringe Haftstrafen frei kam, wurde Reden – trotz Strafverbüßung in Untersuchungshaft – für mehrere Monate in das KZ Welzheim gebracht.
Die für die Verurteilung maßgeblichen Anklagepunkte – homosexuelle Handlungen nach § 175 und § 174 (Missbrauch Abhängiger) – blieben in Inge Scholls Erinnerungsbuch unerwähnt. Ebenso fehlte jeglicher Hinweis auf die langjährigen Beziehungen der Familie Scholl zu dem Nationalkommunisten Richard Scheringer.
Laut Eckard Holler, einem der besten Kenner der Geschichte der Weißen Rose, ging diese Fehlstelle auf die Einflussnahme amerikanischer Förderer zurück. Der Name des Mannes, der in dem Ulmer Reichswehrprozess 1930 wegen nationalsozialistischer Propaganda angeklagt, Hitler – eine Woche nach den spektakulären Septemberwahlen – zu einem großen Auftritt samt ›Legalitätseid‹ verholfen hatte, sodann in ›Festungshaft‹ zur KPD konvertiert war, passte nicht ins westliche Bild demokratischen Widerstands. Tatsächlich ist die Figur Scheringers aus der Biografie des jungen Hans Scholl nicht wegzudenken. Auf Scheringers Dürrnhof bei Kösching verbrachten die Geschwister 1937/38 ihre Sommerferien. In der Phase der Widerstandsaktivitäten sowie nach der Hinrichtung von Hans und Sophie arbeitete die mittlere Schwester Elisabeth als Kindergärtnerin auf dem Hofe Scheringers.
In den Mittelpunkt rückten im Gefolge von Inge Scholl die christlich-humanistischen Motive der jungen Widerständler, die patriotischen Passagen in den Flugblättern wurden weniger betont. Diese traten im Titel der Übersetzung eines Buches des amerikanischen Journalisten Richard Hanser (Deutschland zuliebe, 1980) hervor.
Die lange unbeachteten Aspekte des Stuttgarter Prozesses gerieten erst mit den Arbeiten von Sönke Zankel (Die Weisse Rose war nur der Anfang, 2006) in den Blick. Typisch für Zankels Behandlung des Themas – ursprünglich eine am Münchner Geschwister-Scholl-Institut vorgelegte Dissertation – war die holzschnittartige Analyse der Flugblätter, die er im Sinne eines demokratischen Katechismus abfragte. Erst im fünften Flugblatt hätten die Widerständler einen »Kurswechsel zur Demokratie« vollzogen. (Siehe dazu H. A.: https://www.globkult.de/geschichte/entwicklungen/108-staendige/herbert-ammon/566-die-geschichtliche-tragik-der-rweissen-rosel-und-die-politische-moral-der-nachgeborenen)
II.
Mit der Hans-Scholl-Biografie des Theologen und einstigen Pfarrers Robert Zoske liegt nun ein weiteres Werk zur Weißen Rose vor. Bei seinen Archivstudien stieß der Autor im Nachlass von Inge Aicher-Scholl auf eine umfangreiche Sammlung von bislang unveröffentlichten Gedichten ihres Bruders, die in dem – aus einer umfangreichen Dissertation entstandenen Buch – auf einundfünfzig Seiten abgedruckt sind.
Der poetische Impuls des jungen Hans Scholl entsprang der in der Jugendbewegung gepflegten Liebe zu Volksliedern und Dichtung, insbesondere zur Lyrik Stefan Georges. Dessen Gedicht Wer je die flamme umschritt/ Bleibe der flamme trabant/ […] (aus dem Stern des Bundes, 1928) traf das Selbstverständnis der um einen ›Führer‹ gescharten bündischen Gruppen. Nicht zufällig gab Hans Scholl seiner Ulmer HJ-Gruppe den Namen ›Trabanten‹. Das in einem Brief des achtzehnjährigen Scholl beschworene Bild (»Wir wollen doch Flamme sein«, S. 41) inspirierte den Titel des vorliegenden Buches.
Die Gedichte aus den Jahren 1936 bis 1942 lassen Scholl als einen empfindsamen, von Naturromantik, heldisch-mythischen Phantasien ([Tschang-King-Fu], begonnen 1937, vollendet im Frühjahr 1939, S. 236f.), erotischen Projektionen und religiös-romantischer Ergriffenheit – etwa in einer zwölfseitigen Ode an die Himmelskönigin Maria (datiert 12. Mai 1938, S. 248-259) – bewegten jungen Menschen erscheinen. Es wird deutlich, dass derlei Emotionen nicht identisch waren mit simplem HJ-Enthusiasmus. Nichtsdestoweniger dachte Scholl nach Teilnahme am ›Westfeldzug‹ in Frankreich als Unteroffizier in einer Sanitätsabteilung noch im September 1940 (»obwohl er gerade die Grausamkeit des Krieges unmittelbar erlebt hatte«, S.121) – an eine Offizierskarriere.
Im letzten erhaltenen Brief, geschrieben – zwei Tage vor der verhängnisvollen Flugblattaktion am 18.Februar 1943 – an seine zeitweilige Freundin Rose Nägele, bezeichnete sich Scholl als homo viator. Ein paar Sätze weiter aber heißt es: »Es kann ja kommen, was da wolle, ich habe Anker geworfen, im Grunde kann ich nicht mehr gestört werden.« (S.148).
Den geistigen Weg Scholls zeichnet der Biograph Zoske, bekannte Einflüsse vertiefend, anhand der Lektüren nach: von jugendbewegtem Lesestoff, obenan die Heldenfibel von Eberhard Köbel (tusk), des legendären Gründers der d.j.1.11., aber auch die von den Nazis indizierten Geschichten von Schalom Asch sowie Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque hin zu vornehmlich religiöser Literatur, im Umfeld des Renouveau catholique zu Augustin und Thomas von Aquin, zu Paul Claudel und Nikolai Berdjajew. Zu erfahren ist, dass der ›Hochland‹-Herausgeber Carl Muth, der ihm zu Weihnachten 1941 ein Buch mit dem Briefwechsel von Claudel und dem Konvertiten Jacques Rivière (1886-1925) schenkte, den pietistisch erzogenen Protestanten Scholl zur Konversion bewegen wollte. Anscheinend hat Scholl, der im Herbst 1939 über den aus der katholischen Jugendbewegung stammenden Otto (›Otl‹) Aicher die Welt des Reformkatholizismus kennenlernte, diesen Schritt selbst auch erwogen. Zu erfahren ist aber auch, dass Muth und dessen Mitarbeiter, der Konvertit Theodor Haecker, Schollls Vorliebe für Stefan George und Thomas Mann ablehnten.
III.
Die ersten vier mit Weiße Rose betitelten Flugblätter wurden von Scholl und seinem Freund Alexander Schmorell Ende Juni/Anfang Juli 1942 verfasst und – alsbald unter Mithilfe von Sophie Scholl – verbreitet. Den Übergang zu aktivem Widerstand (signalisiert in Flugblatt 5 durch die Überschrift Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland) begründet auch Zoske mit den Erlebnissen Scholls und seiner Freunde während ihres Einsatzes als Sanitäter in Russland hinter der Ostfront bei Smolensk im Herbst 1942.
Wie andere Autoren betont er die christliche Erziehung Scholls, den in der d.j.1.11 gepflegten Nonkonformismus, sodann die Vertiefung der Religiosität im Kreis um Carl Muth. Diesen Prägungen fügt Zoske in ausführlichen, ins Spekulative zielenden Passagen eine weitere hinzu: Scholls »lange verschwiegen[en]« – »homo- oder bisexuellen Neigungen« (S. 12). Als Beleg dienen ihm die erwähnte Verurteilung durch das Stuttgarter Sondergericht, die Homosexualität Ernst Redens, die mit Masturbation verknüpfte, schwärmerische Liebe des sechzehnjährigen Scholl zu dem zwei Jahre jüngeren ›Trabanten‹ Rolf Futterknecht sowie ein während der Nordlandfahrtfahrt 1936 – von dem homosexuellen Leiter der HJ-Fahrtenstelle – vermittelter Besuch bei einem großgermanisch gestimmten, homosexuellen Major in Schweden, dazu zwei Briefe an diesen »heimlichen Freund«. Diese zeigten – außer der gemutmaßten homoerotischen Zuneigung –, »wie stark Hans Scholl zu jener Zeit in einer nationalkonservativen, militaristischen Gedankenwelt lebte.« (S.62)
Dass Scholl sich der erwähnten Handlungen schämte, führt Zoske auf den »Druck von Erziehung und Gesellschaft, bürgerlicher Moral und christlicher Tradition« zurück. Das habe ihn aber nicht gehindert, »einige Monate später ein einfühlsames Gedicht an und über eine androgyn-erotische Engelsgestalt, den ›Gottesreiter‹, zu verfassen, sich für die knabenhaft-grazilen Figuren der Renée Sintenis zu begeistern, die Werke der bi- bzw. homosexuellen Poeten Rilke (sic!), George und Verlaine zu verehren und in den Jahren 1939-140 eng mit Hellmut Hartert und ab 1941 mit Alexander Schmorell befreundet zu sein.« (S. 84) Obgleich danach breit ausgeführt wird, wie sich Hans Scholl in rascher Folge in verschiedene Mädchen verliebte und alsbald auch intime Beziehungen pflegte, spielt dies für Zoskes Deutung keine Rolle.
Kritik verdienen noch andere Schwachstellen des Buches. Der Name Scheringer kommt darin nicht vor. Auf Befragen bei einer Buchvorstellung bekannte der Autor, dass ihm der Name des Nationalkommunisten noch nicht begegnet sei. Zoske schreibt als Theologe, nicht als Historiker. Bei seiner Rekonstruktion der zwischen pantheistischer Naturromantik und christlichem Glauben oszillierenden Religiosität des jungen Scholl strapaziert er seine Exegese der naturgemäß unreifen Texte. Dies geht in einer von Hans verfassten Hundegeschichte bis an die Grenze der Peinlichkeit: »Möglicherweise besteht im Teilen des Brotes ein Bezug zum christlichen Abendmahl, nur dass es hier zwischen Mensch und Tier gefeiert wird.« (S. 53) An den mehr ästhetisch als ideologisch begründeten Konflikten zwischen HJ und dj.1.11 zielt der Satz »Die nationalsozialistische Jugendorganisation wollte eine deutschnationale Gemeinschaft, die dj.1.11 eine kosmopolitische« (S. 34) vorbei.
IV.
Von derlei Kritikpunkten abgesehen, hat Zoske zur Geschichte der Weißen Rose einige erhellende Forschungsergebnisse vorgelegt. Außer der Entdeckung der Poesie des jungen Scholl kann er anhand der ersten Flugblätter belegen, dass darin Passagen aus den über BBC verbreiteten Rundfunkreden Thomas Manns eingearbeitet sind. Aus einem frühen Bericht (1947) von Traute Lafrenz geht hervor, dass die Vorstellung von einem Hamburger Zweig der Weißen Rose auf einem »großen Missverständnis« beruht. In Hamburg habe es sich nur um einen »losen Kreis« von Diskutanten gehandelt. (S. 335, Fn. 179).
Dass Geschichte auch in der ›offenen Gesellschaft‹ dem Missbrauch offensteht, bewies unlängst die Affäre um den Journalisten Claas Relotius, der (in einem fingierten »Spiegel«-Gespräch) Traute Lafrenz Page, der letzten Überlebenden der Weißen Rose, Aussagen zur deutschen Gegenwart (genauer: zur AfD) in den Mund legte, die sie nie gemacht hatte. In einer ausführlichen Fußnote ( S. 348—350, Fn. 229) korrigiert Zoske eine weitereLegende, die sich in der DDR um Gisela Schertling (»Die letzte Geliebte«, S. 141f.), – sie war nur am Rande mit den Flugblattaktionen in Berührung gekommen – als vermeintlich »christlich motivierte« Widerstandskämpferin gebildet hatte. Vier Wochen vor dem Mauerfall verlieh Erich Honecker der zuvor im DDR-Kirchendienst tätigen Schertling die ›Ehrenmedaille zum 40. Jahrestag‹ der Staatsgründung. In Wildau südöstlich von Berlin pflegt die Stadtverwaltung ihr Ehrengrab.
Zu Recht betont Zoske die Rolle Hans Scholls als der zentralen, zu aktivem Widerstand drängenden Führungsfigur der Weißen Rose. Dass unser heutiges Bild der Weißen Rose wesentlich von dem Film über Sophie Scholl (2005) geprägt ist, dass in der Walhalla bei Regensburg nicht Hans, sondern die Schwester Sophie mit einer Büste geehrt wird, »widerspricht den historischen Tatsachen.« (S.212 f.). Insofern Zoskes Blick auf die gemutmaßte ›Homo- oder Bisexualität‹ Hans Scholls gerichtet ist, scheint auch in seinem Buch der neuerdings schwul eingefärbte Zeitgeist durch. Immerhin betont er das im heutigen Deutschland weithin verpönte patriotische Motiv des Protagonisten der Weißen Rose.