„Ich bin in einer Irrenanstalt!“ Diese Worte spricht Peter Kien, vierzigjähriger Hauptprotagonist in Elias Canettis monströsem und befremdlichen, einzigen Roman gegen Ende des ersten Teils aus. Und zu diesem Urteil ist mittlerweile auch der Leser gekommen, allerdings in einem umfassenderen Sinn, als es der Stoßseufzer des Geblendeten, Privatgelehrter von Beruf und „der größte Sinologe seiner Zeit“, ausdrückt. Der lebt in seiner riesigen Bibliothek wie in einer Muschel, aller Welt entfremdet, wortlos und einsam. Sein abstraktes Denken macht es ihm unmöglich, die Realität zu begreifen: „Man näherte sich der Wahrheit, indem man sich von den Menschen abschloss. Der Alltag war ein oberflächliches Gewirr von Lügen.“
Bis ihn seine sechzehn Jahre ältere Haushälterin durch einen schamlosen Trick in die bestimmt grauenhafteste Ehe derWeltliteratur lockt. Von da an kämpfen beide verbissen um die 25.000 Bände starke Bibliothek des Sinologen und um vermeintlich höchst lukrative Testamente. Thereses blauer gestärkter Rock wird zum obsessiven Voodoo-Kult. Kien tut sich in Folge mit einem buckligen Zwerg und Zuhälter namens Fischerle zusammen, den er in der Bar „Zum idealen Himmel“ kennenlernt. Therese wiederum findet einen Beschützer in dem gewalttätigen Hausbesorger Benedikt Pfaff, der bereits Frau und Tochter zu Tode prügelte. Alle zusammen bewegen sich in einer exzessiven Gefühls- und Geistesverfassung, die an die Grenzen der Tollheit stößt.
„Die Blendung“ offenbart nichts Gutes. Jedermann ist Jedermanns Feind und bekämpft einander buchstäblich bis zum Wahnsinn. Canettis Figuren haben zwar Jedermanns-Gesichter, aber ihnen gelingt es aus jeder Normalität einen Prozess zu machen. Nichts Unmenschliches ist ihnen fremd. Alle Figuren der Handlung, vom Kanalräumer bis zum Polizeioffizier, vom Hausmeister bis zum Psychiater, sind zugleich irre und gewöhnlich. Der Autor siedelt das Geschehen in einer Sphäre des Grotesken an, wo das Ungeheuerliche als das Normale erscheint. Am Ende kriegen alle ihre Strafe: Fischerle wird auf grausame Weise ermordet, Therese und Pfaff werden von Kiens Bruder kaltgestellt, und Kien selbst verbrennt in seiner Bibliothek.
In drei Bücher gliedert sich der Roman: „Ein Kopf ohne Welt“, „Kopflose Welt“ und „Welt im Kopf“; erst im dritten Teil stellt der Erzähler die eigentliche Schlüsselfigur, Kiens Bruder, seines Zeichens Psychiater, genauer vor. Die inneren und äußeren Monologe der einzelnen Protagonisten, ihr halblautes Vorsichhin-Murmeln, ihre irren Selbstgespräche, bei Kien vor allem seine Ich-Gespaltenheit im Wachzustand, sind dabei die „Sahnehäubchen“ des Romankonstrukts. Jeder Mensch, so lautet das Credo Canettis, lässt sich auf seine akustische Maske reduzieren. Und diese hat er in dem Buch par excellence herausgearbeitet. Primitive Sätze reiht er wie Dominosteine aneinander und offenbart damit die komplexe Psychose, „den einzigen Krüppel“, „die einzige Bestie“ mit Namen Menschheit. „Betrachte der Menschen Art zu sein, beobachte die Beweggründe ihres Handelns, prüfe das, woran sie Befriedigung finden. Wie kann ein Mensch sich verbergen! Wie kann ein Mensch sich verbergen!“, lässt Kien Konfuzius verzweifelt ausrufen.
Letztendlich leitet Canetti durch die eigentliche Hauptfigur George, Psychiater und Bruder Peter Kiens, auf sein späteres Hauptwerk „Masse und Macht“ über. Im Drang der Menschen, in einer höheren Tiergattung, der Masse, aufzugehen und sich darin so vollkommen zu verlieren, als hätte es nie EINEN Menschen gegeben, erkennt dieser die viel tiefere und eigentliche Triebkraft der Geschichte. Bildung sieht er dabei als „Festungsgürtel des Individuums gegen die Masse in ihm selbst“ an. „Den sogenannten Lebenskampf führen wir, nicht weniger als um Hunger und Liebe, um die Ertötung der Masse in uns. Unter Umständen wird sie so stark, dass sie den einzelnen zu selbstlosen oder gar gegen sein Interesse laufenden Handlungen zwingt. (…) Zahllose Menschen werden verrückt, weil die Masse in ihnen besonders stark ist und keine Befriedigung findet.“
„Vorbild“ für die Figur Peter Kiens soll dem Autor übrigens Immanuel Kant gewesen sein. Zunächst nannte Canetti den pedantischen Weltverächter seines Romans „Brand“, dann „Kant“ und gab ihm schließlich den Namen „Kien“. 1927 brennt ihn Wien der Justizpalast, 1933, Canetti wartete noch immer auf einen Verleger für seinen Weltenbrand, brennen in Deutschland die Bücher. Im Oktober 1935 erschien „Kant fängt Feuer“ letztendlich unter dem Titel „Die Blendung“. Und hier lässt er dann seinen imaginären Philosophen sein ganzes trockenes Denkgebäude in Brand stecken. Zurück bleibt die Frage: „Bis zu welchem Grad von Leichenstarre kann es ein Mensch maximal bringen, der noch atmet und dessen Herz schlägt?“ „Die Blendung“ jedenfalls ist ein schrecklich großartiger Roman, der solch grauenhaft-abstrakten Seelenlandschaften en masse zu Tage fördert.
Elias Canetti
Die Blendung
Verlag, Berlin (September 2010)
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