Eine Kontroverse mit Wagner – der neue „Ring des Nibelungen“ von Valentin Schwarz in Bayreuth

Bayreuther Festspiele 2022; Walküre; Insz. Valentin Schwarz

So weit von Wagner hat sich wohl noch kein Regisseur seit Beginn des Regietheaters in den 70-Jahren entfernt. Eine Familiengeschichte wolle er inszenieren, frei nach dem Konzept einer Netflix-Serie, hatte Valentin Schwarz schon im Vorfeld seiner Regietätigkeit betont. Um normale Menschen solle es gehen, nicht um „Theaterauftritte“. Individuelle Biografien will er auf die Bühne bringen und den Figuren dabei zusehen wie sie altern. Dass der Ring als ein „Drama von Heute“ gesehen werden kann, erkannte George Bernhard Shaw bereits 1889 und ebnete damit den Weg für die Klassiker des sogenannten Regietheaters.

Mit einer Überschreibung des Rings aus familien- psychologischer Sicht geht Valentin Schwarz aber einen gänzlich neuen und mutigen Weg. Er verändert die Familienstrukturen, streicht das mythische Gold und ersetzt es allegorisch durch das Kind. Es gibt keine Götter und Zwerge, keine Tarnkappe, keinen Drachen und auch keinen Feuerzauber. Nothung, das Schwert, taucht erst im dritten Teil, dem „Siegfried“, auf. An das Libretto gebunden, versucht Valentin Schwarz sich  selbstbewusst von der Dominanz des Textes zu lösen und den Zuschauer aus einer Art Bildungstraum vom Ring zu wecken.

Wer ist dieser Valentin Schwarz, der bereits 2019 als neuer Ring-Regisseur benannt wurde und im selben Jahr beim Bayreuther Symposium zur Wagner-Regie erste Einblicke in seine Gedankenwelt gab. Da hatte der 1989 in Oberösterreich geborene Schwarz schon einige Inszenierungen an den Opernhäusern in Köln, Darmstadt, Dresden, Stuttgart und Wien abgeliefert und den Wettbewerb „Ring Award Graz“ 2017 gewonnen. Katharina Wagner hält ihn für einen der begabtesten jungen Opernregisseure der Gegenwart und vertraute ihm das Kernstück der Festspiele, den Mega-Zyklus des Rings, an.“Alles muss zusammenpassen“ sagt Schwarz und ergänzt „Richard Wagner hat den Ring aus verschiedenen Quellen mit einigen Ungereimtheiten zusammengebaut. Für uns war es eine große Motivation, ein paar lose Enden der Geschichte aufzugreifen und szenisch überraschend fortzuführen“,

Einen überraschenden Anfang gab es dann auch tatsächlich, Zum Ur-Klang in Es-Dur, mit dem Richard Wagner sein „Rheingold“ beginnen lässt, erscheint als Vorspann eine großformatige Video-Projektion. Zwei noch ungeborene Kinder schwimmen im flirrenden Fruchtwasser zu den musikalischen Wellenbewegungen des Rheins. Offensichtlich kommt es bereits vor der Geburt zu Konflikten zwischen den Zwillingen. Wotan und Alberich? Siegfried und Hagen? Die Antipoden von Wagner hier familiär vereint? Schon bevor sich Vorhang hebt, beginnt das Rätselraten, welches das Publikum im weiteren Verlauf des Geschehens begleiten wird. In der ersten Szene treten die Rheintöchter als Kindermädchen mit spielenden Kindern in einem Swimmingpool mit einer ausgetrockneten Uferlandschaft im Hintergrund auf. Alberich, der wohl wegen einer vorgeburtlichen Verletzung keine Kinder zeugen kann, raubt einen rüpelhaften Jungen, der mit einer Wasser-Pumpgun herumfuchtelt. Neues Rätsel, wer ist dieser Junge? In Nibelheim, einem gläsernen Kinderhort rüpelt er weiter, während wohl angezogene Mädchen malen und basteln. Später, gegen Ende des Stückes hält Erda ein Mädchen an der Hand. Es ist wohl Brünnhilde, denn sie hat vorher eifrig Pferde gemalt. Schwarz stellt die Ring-Familie  samt Generationen-Abfolge neu zusammen, denn Kinder statt Gold oder Ring müssen ja in bestimmten Szenen auf der Bühne präsent sein.

Bayreuther Festspiele 2022; Rheingold; Insz. Valentin Schwarz

Im ersten Akt der „Walküre“ ist Sieglinde bereits schwanger. Also Siegmund kann der Vater nicht sein. Nach einer späteren Szene, in der Wotan Sieglinde unter den Rock greift, lässt sich vermuten, dass es Wotan ist. Endgültig geklärt wird das nicht. Das wäre dann ein Missbrauch „on Top“! Und Brünnhilde wäre die Halbschwester von Siegfried. Im ersten Akt der „Walküre“ wie auch im letzten, bei „Wotans Abschied“, zeigt sich deutlich, dass Valentin Schwarz mit dem Thema Liebe, das bei Wagners Ring eine so versöhnliche Rolle spielt, nichts im Sinn hat. Das zeigt sich auch dann, wenn Siegmund die berühmte Arie der „Winterstürme“ links, fast in der Ecke der Bühne singt. Für Besucher, die in Reihe 25 links am Rand sitzen, ist er  nicht zu sehen. Und die mit ungelenkem Gang einer hochschwangeren treppensteigenden Sieglinde  stört die sonst in diesem Akt zunehmend aufgeladene Atmosphäre von Liebe und Leidenschaft, Außerdem ist Hunding in dieser Szene länger präsent als in anderen Inszenierungen, Er sitzt im Vorgrund der Hütte inmitten der abgestorbenen verknorpelten Äste der Weltesche.

Ein weiteres Handicap dieser Inszenierung: zu viele Personen (Statisten) lenken von den Interaktionen der Protagonisten ab. Es gilt für Kellner, Bedienstete, Bodyguards, Krankenpfleger und Putzfrauen. Insbesondere auch für Grane, der als Mann an Stelle eines Pferdes auftritt. Grane als Liebhaber von Brünnhilde? In der „Walküre“ entschwindet er mit ihr in die Tiefe der Bayreuther Bühne. Und im „Siegfried“ zerrt er in Konkurrenz mit Siegfried an ihr herum.

Mitunter stören auch die zahlreich verwendeten Requisiten, nicht nur die immer wieder gezückten Revolver, der SUV – auch nicht von allen Plätzen zu sehen -, der Spielzeugkram in Mimes Behausung samt Kasperletheater oder die Nudeltüten, aus der Siegfried auf dem Weg zu Brünnhilde futtert. Eine Ausnahme innerhalb der Requisiten macht die leuchtende Pyramide im Glaskubus, die ringbegleitend als Symbol für Größenwahn und Tod stehen kann. Dennoch, die Trivialisierung im neuen Ring hat bedeutende Ausmaße angenommen, und man darf sich fragen, ob Valentin Schwarz nicht in die Realismusfalle von Netflix getreten ist. Was uns heute im Ring angeht, muss nicht im Heute spielen, denn je konkreter die Intention, desto schwächer ist häufig die ästhetische Wirkung.

Zurück zum Anfang, Bei der Lektüre des Programmheftes klärt sich das Uterus-Rätsel. Wotan und Alberich sind Zwillinge und gehören zum selben, weit verzweigten und dysfunktionalen Familienclan. Wotan als untreuer Ehemann und Vater zahlreicher Kinder mit unterschiedlichen Frauen ist Clan-Chef mit Neureich-Loft mit  Fitness-Obsession, bedacht, seine Macht mit allen Mitteln auszubauen. Im sportlichen Dress oder hellen Anzug wirkt er in allen Positionen und Situationen nie wirklich tragisch. „Er gleicht uns aufs Haar“, schrieb Richard Wagner 1854 an August Röckel, denn er war seinem Wotan sehr zugetan. Der Wotan bei  Valentin Schwarz hingegen lässt den Bayreuth-Besucher wie übrigens auch alle anderen Figuren des Rings kalt. Auch wenn die Musik in manchen Szenen noch so gefühlvoll dahinströmt, wir können oder wollen uns in diesem Panoptikum der Defizite nicht mit ihnen identifizieren. Das liegt auch an der weitgehend statischen Personenregie, die den Sängern kaum sichtbare Emotionen zuweist. Häufig stehen sie weit vorne frontal zum Publikum und gestikulieren wie in Frühzeiten  der Wagner-Regie. Langeweile im Publikum bei Szenen mit überlangen Ring-Monologen und Dialogen ist die Folge, Eine Steigerung zeigt sich allerdings in der letzten Szene des „Siegfried“. Der kraftvolle Sänger Andreas Schager kann – ob gewollt oder ungewollt –  nicht  anders, er muss mit Körpereinsatz spielen. Auch Gunther und Gutrune in der „Götterdämmerung“ beleben als neureiche Proleten die Szene. Ein gelungenes  Rollenportrait beider Figuren!

In diesem letzten Teil des Rings setzt Valentin Schwarz seine Regie ins Ungenaue, jetzt auch mit Inkonsequenz, fort. Die Nornen sehen aus wie Figuren aus dem Märchen, und der Chor mit Hagens Mannen erscheint wie aus mythischer Zeit, schwarz gekleidet und mit ausdrucksstarken Stabmasken. Im finalen Untergangsakt schaut man in den Querschnitt eines fast wasserleeren raumfüllenden Pools, in dem Siegfried angelt und viel Bier aus einer Kühlbox trinkt. Das Kind, mit dem Brünnhilde im Vorspiel mütterlich umging, ist familiär niemandem exakt zuzuordnen, es symbolisiert „nur“ den Ring und stirbt zum Schluss. Es gibt keinen Weltenbrand und niemand weiß, was aus Hagen, Gunther und Gutrune wird. Brünnhilde liegt neben dem ermordeten Siegfried  mit dem abgeschlagenen Kopf von Grane, der von Gunther ermordet wurde, 100 Neonröhren leuchten zur Schlussmusik regenbogenartig über dem Pool auf und als letztes Bild erscheint wieder ein Video mit zwei sich herzenden Föten. Wenn wir uns liebhaben, wird dann doch alles gut?

Vom neureichen Maisonette-Luxus mit SUV-Garage bis zur erschreckenden Leere des ausgetrockneten Pools reicht die Bandbreite der Bühne von Andrea Cozzi. Meist mehrteilig und variabel, mit Balkonen, Treppen und Spiegeln – in der Schönheitsklinik mit den Walküren – bilden sie für diese Inszenierung einen nicht durchgängig stimmigen Rahmen. Die meisten Bauten allerdings stehen so weit vorne, dass sogar die Vermutung einer Klangveränderung nicht ganz von der Hand zu weisen ist.

So knallig und vor allem bei den weiblichen Rollen stilistisch wechselhaft die Kostüme von Andy Besuch, so zurückhaltend  die Lichtregie von Reinhard Traub. Spektakuläre Bühneneffekte mit Licht waren hier offensichtlich unerwünscht. Nur beim Schwertschmieden schlug es beachtliche Funken.

Die Buh-Rufe nach der ersten Ring-Sequenz müssen orkanartig gewesen sein, nach der zweiten fielen sie etwas gemäßigter aus. Auch mit Cornelius Meister, dem Stuttgarter Generalmusikdirektor der Staatsoper, der kurzfristig für den Finnen Pietari Inkinen. eingesprungen ist, war man zunächst nicht zufrieden. Zu sehr hatte er wohl zu Beginn mit der  sehr spezifischen Bayreuther Akustik zu kämpfen. Außerdem gab es corona-bedingt  zwei verschiedene Orchesterkonstellationen, die dem Dirigenten nach extrem kurzer Probezeit noch mehr abverlangen als üblich. Wer Cornelius Meister in Stuttgart in dieser Spielzeit beim neuen „Ring“ gehört hat, weiß um seine Qualitäten, Wagner-Musik analytisch oder rauschhaft überwältigend? Bei den diesjährigen Festspielen ist beides nicht durchgehend gelungen. Cornelius Meister hat sich im Lauf der beiden Sequenzen dennoch enorm gesteigert, das Orchester zuweilen zu großen Momenten inspiriert, Aber gerade bei orchestralen Höhepunkten wie „Rheinfahrt“ und „Trauermarsch“ war das nicht der Fall. Der Beifall für ihn, das Orchester und die Riege der Sänger war verdient. Gemessen an seiner Länge sind  die Gesangsleitungen aber unterschiedlich bewertet worden. Frenetisch gefeiert wurden die beiden bayreuth-bewährten Tenöre Klaus-Florian Vogt als Siegmund und Andreas Schager als Siegfried im „Siegfried“ in seiner Paraderolle. Der eine mit  seiner sowohl lyrischen als auch kraftvollen Stimme mit einem sehr eigenen Timbre, der andere wegen seines schier unverwüstlichen  Volumens mit metallischer Färbung. Stephen Gould, der Iron-Man unter den Tenören, als Siegfried in der „Götterdämmerung“ erhielt weniger Applaus, man hat ihn schon besser in Bayreuth gehört. Mehr als rollendeckend und solide sang Michael Kupfer-Radecky. Er sprang mit seinem schönen Bass- Bariton beim ersten Ring sogar als Wotan für den während der Vorstellung verletzten Tomasz Konieczny ein. Als Sieglinde gab Lise Davidsen ein beeindruckendes Rollendebüt ab und begeisterte das Publikum mit ihrem flexiblen hochdramatischen Sopran. Zum ersten Mal in Bayreuth singt Daniela Köhler die Partie der Brünnhilde am Ende des „Siegfried“,  Ihre Stimme leuchtet wie das Licht, das die Erweckte jubelnd begrüßt. Gibt es gegenwärtig einen besten Wotan-Sänger? Für diese Rolle sind in Bayreuth einige Sänger abgesprungen, In diesem Ring gibt es jetzt zwei Besetzungen mit Egil Silins im „Rheingold“ und Thomasz  Konieczny in der „Walküre“ und „Siegfried“, eine gute bis sehr gute Wahl.

Der neue Bayreuther Ring – ein Desaster oder doch irgendwann Kult? In der „Werkstatt Bayreuth“ könnte man sicher für die nächsten Spielzeiten noch etwas verbessern. Aber den Ring, das Werk mit so viel Regie-Potential, als Inspiration von Netflix-Serien zu inszenieren, war wohl doch keine so gute Idee.

Bayreuther Festspiele 2022; Walküre; Insz. Valentin Schwarz
Über Sylvia Hüggelmeier 34 Artikel
Sylvia Hüggelmeier studierte Kunstgeschichte, Germanistik, Publizistik und Pädagogik an den Universitäten Münster/Westfalen und München. Seit 1988 schreibt sie als Freie Journalistin für verschiedene Zeitungen.