Die öffentliche Meinung und die Medien in Europa, mehr noch als in Amerika, haben es sich mit den Krawallen in Tibet etwas leicht gemacht. So wurden nepalesische Polizisten, die Mönche und Lamas verprügelten, als chinesische Ordnungshüter dargestellt. Dass die Unruhen in der Hauptstadt Lhasa mit Plünderungen und Verwüstungen durch tibetische Randalierer begannen, die sich auf den Dalai Lama beriefen, und dass auch die muslimische Minderheit der Hui unter diesen Ausschreitungen zu leiden hatte, wurde wohlweislich verschwiegen. Die tätlichen Angriffe gegen die olympischen Fackelträger, zumal in London und Paris, waren so präzise organisiert, dass sich der Eindruck einer langfristigen Planung aufdrängte.
Bei den stets misstrauischen Chinesen wurde der Verdacht geweckt, eine internationale Verschwörung sei im Gang, als der tibetische Gott-König von Präsident Bush in Washington mit einer hohen Auszeichnung geehrt wurde, nachdem ihn Angela Merkel in Berlin empfangen hatte. Die Drohung des französischen Staatschefs Sarkozy, er werde der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele nur unter der Bedingung beiwohnen, dass die Volksrepublik sich auf dem »Dach der Welt« zu Konzessionen bereitfände, erinnerte eine Bevölkerungsmasse von immerhin 1,3 Milliarden Menschen an die gar nicht so ferne Epoche des westlichen Imperialismus, als die europäischen Mächte im Begriff standen, das Reich der Mitte aufzuteilen.
Inzwischen haben sich die Dinge zumindest oberflächlich beruhigt. Die Schmähung einer behinderten chinesischen Fackelträgerin in Paris und wohl auch die Boykottdrohungen Pekings gegen jede Form der Zusammenarbeit mit Frankreich haben Nicolas Sarkozy bewogen, drei hohe Emissäre nach Peking zu entsenden, um sich für diesen Übergriff zu entschuldigen. Schon die Ankunft der Fackel in Australien vollzog sich unter ganz anderen Umständen. Dort leben 60 000 Chinesen. Bei der Ankunft des olympischen Symbols wogte ein Meer roter Fahnen, und die relativ geringe Zahl der Tibet-Protestler wurde vom Schauplatz abgedrängt.
In China selbst hatte die patriotische Entrüstung über die vermeintlichen Demütigungen einen solchen nationalistischen Überschwang ausgelöst, dass die hohen Gremien der Kommunistischen Partei, die seit der maoistischen Kulturrevolution und dem Studentenaufruhr am Platz des Himmlischen Friedens unkontrollierbare Massenkundgebungen mit Vorsicht genießen, sich sehr schnell bemühten, die fremdenfeindlichen Exzesse in Grenzen zu halten. Um die bevorstehenden sportlichen Wettkämpfe, denen das eigene Volk entgegenfiebert, trotz allen Turbulenzen mit gewaltigem Pomp und in einer Atmosphäre der Brüderlichkeit durchführen zu können, hat sich Staatspräsident Hu Jintao sogar bereit erklärt, Sendboten jenes Dalai Lama zu empfangen, den man vor kurzem noch als »reißenden Wolf in der Mönchskutte« beschimpfte.
Der Westen zeigt sich über diese unerwartete Konzession hoch befriedigt. Dass hier ein Täuschungs- und Hinhaltemanöver praktiziert wird, ist keineswegs auszuschließen. Im Ernst dürften die Entscheidungsträger der Volksrepublik gar nicht daran denken, den Tibetern, deren große Mehrzahl den Dalai Lama weiterhin als quasi göttliche Inkarnation ihrer ethischen und religiösen Identität verehrt, eine reale Autonomie zuzugestehen. Das chinesische Staatsvolk der Han, das selbst in dem Jahrhundert seiner Knechtung und Ausbeutung durch den Westen ein tief verwurzeltes Gefühl eigener kultureller Überlegenheit bewahrte, empfindet die diversen Fremdvölker, die dem Reich der Mitte einverleibt wurden, immer noch als rückständige Barbaren. Was Tibet betrifft, so haben die roten Mandarine von Peking sich seit den grauenhaften Verwüstungen, die die Rotgardisten Mao Zedongs in den Lama-Klöstern anrichteten, mit gewaltigem Aufwand bemüht, dieses unzugängliche Hochland mit einer modernen Infrastruktur auszustatten. Überall entstehen heute Autobahnen. Die Bahnlinie aus Xian erklettert sogar die Höhe von mehr als 5000 Metern. Die Aufforstung der endlosen, kahlen Flächen ist in vollem Gang. Überall entstehen Fabriken. Das Lebensniveau der Tibeter hat sich unter der Okkupation der Han erheblich verbessert, was nicht sonderlich verwundert, lebte doch die Masse der Untertanen des Dalai Lama zur Zeit ihrer prekären Unabhängigkeit als bettelarme Leibeigene unter der strengen Fuchtel ihrer Lamas und Feudalherren. Die Theokratie von Lhasa war alles andere als ein paradiesisches Shangri-La.
Den Chinesen ist es dennoch nicht gelungen, die im tibetischen Buddhismus verankerte Renitenz der Tibeter gegen die hochmütige Bevormundung aus Peking zu überwinden. Doch am Ende wird die Demographie, das erdrückende Übergewicht der Han, den Ausschlag geben. In der Autonomen Region Mongolei ist die Zahl der Einheimischen auf 10 Prozent gefallen. Den Tibetern, deren Hauptstadt Lhasa bereits zu 60 Prozent von Chinesen bewohnt ist, droht ein ähnliches Schicksal der Überfremdung, auch wenn in ihren Klöstern – zur Erbauung des anschwellenden Touristen-Stroms – weiterhin die Buddha-Anrufung »om mani padme hom« erklingen wird.
(c) Mit freundlicher Genehmigung der Ullstein-Buchverlage GmbH. Der Text ist ein Auszug aus: Peter Scholl-Latour, Der Weg in den neuen kalten Krieg, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008.
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