Eine Art literarische Realitätenvermittlung

„Auslöschung – Ein Zerfall“… ein vernichtender, ein destruktiver Titel, den sich Thomas Bernhard für seinen letzten Roman einfallen lassen hat. Doch wie er selbst gegen Ende des großartigen Buches schreibt, denkt er nicht an etwas Ungeheuerliches, „auch nicht an etwas Einmaliges, aber doch an etwas mehr als nur eine Skizze, mehr als eine Existenzskizze, an etwas, das sich sehen lassen kann und dessen ich mich nicht zu schämen habe.“ Schämen braucht er sich mit Sicherheit nicht. Denn der österreichische Autor hat mit diesen 650 Seiten wohl sein substantiellstes, bestes und tiefgreifendstes Werk vorgelegt.
„Auslöschung“ offenbart sich als ein Abtauchen ins tiefste Innere eines Menschen, ein Wühlen und Zerren an Verletzungen, Demütigungen und traumatischen Kindheitserlebnissen: eine Abrechnung mit dem Begriff Heimat im engeren genauso wie im weiteren Sinn, ein angestrebtes Zur-Ruhe-Finden in der Konfrontation mit dem Unruhigen, ein Hineinschauen in die berühmt-berüchtigte gähnende Leere seiner Kindheit. Das Enge kommt dabei Wolfsegg zu, dem eigentlich weitläufigen, ja herrschaftlichen „Besitzklumpen“ der Familie des Erzählers Franz-Josef Murau. Dieser hat seit Jahren dem elterlichen Anwesen den Rücken gekehrt. In Rom lebend, wird er von einem Telegramm seiner Schwestern zu einer unfreiwilligen Rückkehr in heimische Gefilde gezwungen. Seine Eltern und der ältere Bruder sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Murau avanciert zum alleinigen Erben des verhassten Ortes seiner Kindheit. „Sie mussten tödlich verunglücken und zu diesem lächerlichen Papierfetzen, der sich Fotografie nennt, zusammenschrumpfen, um dir nicht mehr schaden zu können. Der Verfolgungswahn ist zu Ende.“
Alles Angestaute, Vergrabene, unter Schichten gelebten Lebens Versteckte bricht nach der tragischen Nachricht und einer kurzen Starre mit ungeheurer Kraft aus ihm heraus: „… ich muss diesen Bericht über Wolfsegg schreiben, über die Wolfsegger Menschen, über die Wolfsegger Verhältnisse, über ihr Unglück und über ihre Gemeinheit, über ihre Hinfälligkeit und ihre Charakterlosigkeit, über alles, das sie mir vorgeführt haben und das mir, solange ich lebe, mehr oder weniger die Nächte meines Lebens schlaflos gemacht und ruiniert hat…“. Gleichzeitig schlägt Bernhard, ganz wie man es von ihm gewohnt ist, im Großen um sich: gegen seine und die deutsche Nation. Er verteufelt die „gemeine und ungeistige, niederträchtige katholisch-nationalistische Gesinnung in Österreich“ sowie sein Volk, das zwar Mozart, Haydn und Schubert, jedoch „das Denken verlernt und beinahe zur Gänze aufgegeben“ hat.
Als einziger Lichtpunkt im Grauschleier seiner Familie sticht dessen schwarzes Schaf – sein weltoffener Onkel Georg, von jenen als „nichtsnutziger Schurke“ bezeichnet – hervor. Er führt den Jungen in die Literatur, die Welt der Musik und Kunst ein und eröffnet ihm dadurch „das Paradies ohne Ende“. „Erst wenn wir einen ordentlichen Kunstbegriff haben, haben wir auch einen ordentlichen Naturbegriff, sagte er. Erst wenn wir den Kunstbegriff richtig anwenden und also genießen können, können wir auch die Natur richtig anwenden und genießen.“ Alle anderen Protagonisten schrammen mal mehr, mal weniger als parodistische Karikaturen, ja menschliche Wracks durchs gezeichnete Bild des Widersprechers, Verweigerers und Abtrünnigen.
Als Übertreibungsfanatismus, der zur Übertreibungskunst stilisiert wird, versucht sich der Erzähler „aus der Armseligkeit [seiner] Verfassung zu retten, aus [seinem] Geistesüberdruss“. Da ist zum einem der Vater, der wirkt, als wäre er bei sich selbst angestellt, zum anderen der Bruder, der als Kaspar und „Ersatzhampelmann“ seiner kaltherzigen, opportunistischen Mutter fungiert sowie die beiden altjüngferlichen Schwestern, von denen der einen letztendlich noch ein tumber Ehemann widerfährt: ein Weinflaschenstöpselfabrikant aus dem Allgäu.
Thomas Bernhards Roman lässt sich wohl allgemeingültig über viele Personen stülpen, denn wir „tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung…“.“Auslöschung“ ist ein allgemeingültiges, grübelnd-philosophierendes, ironisch-bitteres Gedankenbuch. Ein Lesevergnügen auf allerhöchstem Niveau und par excellence. Der „österreichische Nestbeschmutzer“ schreibt selbst in seinem Werk: „Ich halte mich für befähigt und zuständig, das aufzuschreiben, das mir des Aufschreibens wert erscheint, weil es mir wichtig ist und dazu auch noch ein großes Vergnügen macht, wie ich denke. Ich bin ja nicht eigentlich Schriftsteller, (…), nur ein Vermittler von Literatur und zwar der deutschen, das ist alles.“ Hier gibt es schlussendlich nur einen Satz hinzuzufügen: Und was für einer!

Thomas Bernhard
Auslöschung. Ein Zerfall
SuhrkampVerlag, Berlin (1996)
651 Seiten, Taschenbuch
ISBN-10: 3518390589
ISBN-13: 978-3518390580

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Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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