Einblicke in das romantische „Preußen der Hinterbliebenen“

„Es gibt Länder wo was los ist! Es gibt Länder wo richtig was los ist!
Und es gibt…
Brandenburg!“
Eine ganze Nation lacht über den Song mit der unvergleichlichen Tristesse, in dem Kabarettist Rainald Grebe ein Bundesland besingt, das im Schatten der Hauptstadt Berlin ein eher unrühmliches Dasein fristet. Derweil lustwandelten in der Vergangenheit hier königliche Oberhäupter. Dichter rühmten die durch den Menschen beseelte Landschaft und deren Naturschönheit. Die wohl namhaftesten Worte fand Theodor Fontane, der im 19. Jahrhundert die Mark Brandenburg durchwanderte und in seinen Schilderungen die Schlösser, Gärten und Herrenhäuser des Landes weltberühmt schrieb.
150 Jahre später machen sich zwei Berliner Schriftsteller erneut auf den Weg. Ist was dran an dem drögen Brandenburg? Lachen Fontanes Dörfer nicht mehr? Heißen moderne Wallfahrtsstätten heute nur noch „Siggis Imbiss“ oder „Gabis Getränkemarkt“? Steht es wirklich so schlimm um das Märkische Land und warten tatsächlich die von Grebe besungenen „drei Nazis auf dem Hügel und finden keinen zum Verprügeln in Brandenburg“? Der Dialog auf der ersten Seite des Buches, den die beiden Autoren mit ortsansässigen Jugendlichen führen, lässt jedenfalls nichts Gutes erahnen:
„Von wo seid ihr denn?“
„Eberswalde, aus der Nähe!“
„Hartes Pflaster!“, sagt einer von uns.
„Langweiliges Pflaster“, sagt der, der die Hundeleine hielt.
„Wie is'n dit da so?“, fragt einer von uns.
„Dit willste nich wissen, Alta!“

Doch sie wollten! Björn Kuhligk, geboren in Westberlin und Tom Schulz, aufgewachsen im Osten der geteilten Stadt – sozusagen die personifizierte Wiedervereinigung Deutschlands – zogen auf den Spuren Fontanes los. Mit dem Fahrrad, zu Fuß, im Mietwagen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln machten sie die Brandenburger „Jejend“ und zuweilen auch ihre Bewohner unsicher. Im Gegenzug zu ihrem, am 30. Dezember 2014 seinen 195 Geburtstag feiernden „Kollegen“, dessen detailliert-ausufernde Beschreibungen vor allem der hochherrschaftlichen Bausubstanz und deren kulturhistorischem Hintergrund galten, legten die beiden Autoren ihr Interesse auch und vor allem auf die Menschen im Heute, selbst wenn ihnen zuweilen viel Gestriges entgegenschlug. Denn gerade jene waren die Schlüssel, um das Verborgene, das Unausgesprochene hinter den Mauern zu finden.
Nicht hymnisch und elegisch, sondern eher lakonisch, teils lyrisch und in kurzen, klaren Sätzen, die mitunter einen fast skizzenförmigen Stil annehmen, beschreiben Kuhligk und Schulz mit wachem Auge ihre Erlebnisse und Eindrücke im Fläming, dem Ruppiner Land oder Havelland. Sie schließen Baumfreundschaften im Oderland, während das Gras schneller wächst, als der Mensch denken kann, bewundern „den Triumphzug der Betonfertigteile“ in Falkenrehde oder genießen im Kloster Lehnin die Stille. Auf leisen Sohlen streifen sie durch die Zeit, im Regen, Schneematsch und bei schönstem Sonnenschein. Sie frieren wie die Schneider beim Anstaken im Spreewald, wärmen sich am Osterfeuer in Lehde, gewahren „Luxus neben der Geschichte. Das Haben neben dem Gehabten“ am Ruppiner See. „Schatten bilden sich, schaffen Zwischenräume. Hell-Dunkel-Kontraste“. Schlösser neben „hübschen Sparkassenbauten“. Verlassene Kasernengelände oder ein im Rückbau befindliches Atomkraftwerk auf der einen Seite, Eisvögel und zunehmend aus Polen einwandernde Elche auf der anderen. Menschen, so scheint es mitunter, haben sich aus dieser „Indianersommerromantik“ zurückgezogen oder wirken künstlich hineingesetzt. Ein „Preußen der Hinterbliebenen“? „In Berlin bin ich einer von 3 Millionen, in Brandenburg kann ich bald alleine wohnen… Brandenburg. Ich fühl' mich heut' so leer, ich fühl' mich brandenburg.“, singt Grebe. Mitnichten! „Die Gedanken sammeln Laub auf. Zählen etwas zusammen, finden eine Fülle, keine Leere.“, setzen Kuhligk und Schulz dagegen. Charmant-witzig, zuweilen zynisch-sarkastisch, in einem lyrisch modernen Ton, wird mehr Neugier geweckt, als Distanz erzeugt. Ein ungemein intensive literarische Ausdruckskraft, die sich vor allem zwischen den Zeilen offenbart. Wird man ihrer beim Lesen gewahr, entfaltet sie ihre ganze poetische Energie.
Fazit: „So lassen wir los, treiben umher und finden überall nur eine sich selbst genügende, in sich ruhende Schönheit. Es sind Sehnsuchtsorte, und hätten wir genügend Geld in der Portokasse, wir würden eines dieser von Schwalben bewohnten, von Störchen überflogenen Häuser kaufen.“ Die neuen Wanderungen durch die Mark Brandenburg von Björn Kuhligk und Tom Schulz strahlen eine große innere Ruhe und Genügsamkeit aus. Besinnung und Ausatmen. Authentisch mit einem Landstrich, der einen stillen Reiz verströmt und im medialen Getöse unserer Zeit schnell übersehen wird. „Wenn man zur Ostsee will muss man durch Brandenburg. Nimm dir Essen mit, wir fahr'n nach Brandenburg.“, rät Rainald Grebe. Die beiden Autoren setzen dagegen: „In Brandenburg ist Natur, und das reicht aus.“ Und Fontanes Taschenbuchausgabe…. ja, die eignet sich allerbestens zur Mückenabwehr im Oderland.

Björn Kuhligk, Tom Schulz
Wir sind jetzt hier.
Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg
Hanser Berlin (März 2014)
272 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446245049
ISBN-13: 978-3446245044
Preis: 17,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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