Im Jahr 1946 trat Sergei Kussewitzki, der damalige Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, mit einem ungewöhnlichen Auftrag an den 36-jährigen Olivier Messiaen heran: „Schreiben Sie mir ein Werk, das Sie schreiben wollen in dem Stil, den Sie wollen, so lang wie Sie wollen, in der Besetzung, die Sie wollen und einzureichen, wann immer Sie wollen.“ Der Franzose ließ sich nicht lange bitten. Er schuf eine monumentale Symphonie, ein zehnsätziges Stück für großes Orchester und zwei Soloinstrumente, das bis heute eine tiefe Wirkung auf das Publikum ausübt. Das war schon 1949 so, als die Uraufführung statt des erkrankten Kussewitzki der aufstrebende Nachwuchsdirigent Leonard Bernstein leitete. Auch das ist so eine der vielen verschlungenen Facetten der Musikgeschichte: Einerseits Bernstein, der später zu einem der legendärsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts wurde, Messiaen andererseits, dem als Komponist eine herausragende Rolle in diesem außerordentlichen Jahrhundert der Musikgeschichte zukommt. Am 8. Dezember jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag von Messiaen, dem im Laufe des Jahres aus diesem Anlass weltweit über 600 Konzerte gewidmet wurden und noch werden.
„Messiaen hat als Wegbereiter der seriellen Musik die Entwicklung der Komposition im 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt. Seine eigene musikalische Handschrift setzt sich zusammen aus der logischen Architektur der Tonreihen einerseits und der Verwendung teils aperiodischer Rhythmen“ ordnet der Dirigent Markus Stenz die musikwissenschaftliche Bedeutung von Messiaen ein und ergänzt: „Zusätzlich zur technisch-logischen Struktur gibt es eine bleibende Botschaft: die musikalische Verarbeitung der Natur – im speziellen durch die Umsetzung von Vogelstimmen – sowie die lichtartige Darstellung spiritueller, kosmischer Ideen.“
Der Kapellmeister des renommierten Kölner Gürzenich-Orchesters hatte vor einigen Monaten mit der Aufführung der Turangalila-Symphonie selbst einen weit über Köln hinaus beachteten eigenen Beitrag zum Messiaenjahr geleistet. Die begeisterte Resonanz lag nicht nur an seinem hervorragenden Orchester, das Stenz so außerordentlich sicher durch die enormen Schwierigkeiten der gewaltigen Partitur folgte, sondern auch an den Interpreten der Soloinstrumente. Denn mit Valérie Hartmann-Claverie an der Ondes Martenot – so etwas wie eine einstimmige kleine elektronische Orgel – sowie Roger Muraro am Klavier verliehen zwei ehemalige Messiaen-Schüler dieser Aufführung eine besondere Note der Authentizität.
Auch und gerade in der Turangalila-Symphonie bringt Messiaen das zum Ausdruck, was vielleicht den inneren Kern seines Schaffens ausmacht: Musik als Äußerung einer Humanitas. 1936 gehörte Messiaen zu den Gründern der Gruppe „Jeune France“, junge Komponisten, die sich dem Gedanken der Musik als Äußerung des Humanismus verpflichtet sehen. Dabei ist es bei Messiaen, und das unterscheidet ihn von vielen anderen, ein Humanismus, der einer tief empfundenen, unerschütterlichen katholischen Glaubensüberzeugung entspringt. Musik ist für Messiaen eine Möglichkeit, Gott zu loben, und der Glaube und das Bekenntnis zu Gottes Schöpfung bilden die Klammer seines Werks. „Es ist unbestreitbar, dass ich in den Wahrheiten des katholischen Glaubens diese Verführung durch das Wunderbare hundertfach, tausendfach multipliziert wieder gefunden habe, und es handelte sich nicht mehr um eine theatralische Fiktion, sondern um etwas Wahres“, beschrieb es Messiaen einmal mit eigenen Worten. Seine einzige Oper „Saint Francois d’Assise“ beschäftigt sich mit der Erfahrung der göttlichen Gnade in der Seele des Franz von Assisi.
Gleichwohl ist Messiaen offen für andere spirituelle Haltungen, nimmt diese bewusst auf. Dirigent Stenz: „Messiaens Werk hat spirituelle und zugleich meditative sowie ekstatische Dimensionen, die sich aus seinem Glauben speisen, aber auch andere Einflüsse erkennen lassen. Daher ist der Zugang zu seiner Musik universell, gerade auch über Konfessionsgrenzen hinaus.“ Messiaen-Schüler Muraro ergänzt in diesem Zusammenhang: „Messiaens Musik ist zunächst einmal Musik, aber wenn man im Herzen besonders empfänglich ist für das Mysterium der Welt, die menschlichen Leidenschaften und die Farben des Kosmos kann sich jeder beim Hören auf eine Spur der Wahrheit einlassen – ob existenziell oder religiös.“ In diesem Sinne kann auch die Musik von Interpreten aufgeführt und Zuhörern rezipiert werden, die dem Katholizismus eines Messiaen möglicherweise fremd, distanziert oder gar ablehnend gegenüber stehen, denn, so Stenz: „ Die künstlerische Botschaft Messiaens vermittelt sich über die musikalische Struktur eines Werkes. Sensibilität für die übergeordneten Inhalte, Ideen und geistigen Einflüsse der Partitur bereichern die Intensität der Aufführung. Entsprechend liegt es beim Zuhörer, welche Dimension – die spirituelle, die strukturelle oder gar die ornithologische – er aufnimmt oder auch zulässt.“
Prägend für den Komponisten waren einige Begebenheiten seiner Kindheit. So wuchs der in Avignon geborene Messiaen später in Grenoble auf und wurde von der faszinierenden Bergwelt der Alpen als Teil der – nach seinem Verständnis – göttlichen Schöpfung stark angezogen. Durch seinen Vater, einen Englischprofessor, der Jahre lang an einer Shakespeare-Übersetzung arbeitete, sowie durch seine Mutter, eine Dichterin, wurde Messiaen auch stark literarisch geprägt – den Text fast aller seiner späteren Vokalwerke verfasste er selbst. Das Klavierspiel erlernte er erst selbst, auch erste kompositorische Übungen. Später konnte Messiaen am Conservatoire de Paris studieren. Zu seinen Lehrern zählten unter anderem so berühmte Komponisten wie Marcel Dupré und Paul Dukas. Als Messiaen Jahre später selbst am Conservatoire de Paris unterrichtete (1941 bis 1977), zählten so herausragende Komponisten der zeitgenössische Musik wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez zu seinen Schülern.
Messiaen steht im Ruf eines Synästhetikers, also eines Tonsetzer, der die Musik in Farben hört. Messiaen wörtlich: „Mein heimliches Verlangen nach feenhafter Pracht in der Harmonie hat mich zu diesen Feuerschwertern gedrängt, diesen jähen Sternen, diesen blau-orangenen Lavaströmen, diesen Planeten von Türkis, diesen Violettönen, diesem Granatrot wuchernder Verzweigungen, dieser Wirbel von Tönen und Farben in einem Wirrwarr von Regenbögen.“ Und sicher nicht nur für die Turangalila-Symphonie gilt jenseits aller musikwissenschaftlichen Strukturfragen und Interpretationsansätze, dass man sich, so wie es Messiaen selbst gewollt hat, an dieser Musik grenzenlos freuen kann.
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