Ein Wanderer zwischen den Welten – Gabriel Glikman in München

Marc Chagalls große Popularität selbst unter nicht-Kunstkennern basiert vordergründig auf den Werken seiner späten Jahre in Frankreich. Seine schwebenden Liebespaare trafen beispielweiseauf den Geschmack einer breiten Öffentlichkeit und führten sogar zu einer Art Identifikation zwischen seiner Kunst und der Metropole an der Seine – als Stadt der Liebe -, in der er auch gelebt hatte.Chagalls markanteste Produktion datiert jedoch von der Dekade 1911-1922, von den Jahren seines ersten Aufenthaltes in Paris und von jenen nach seiner Rückkehr nach Witbesk im heutigen Weißrussland. In Paris hatte er- unter dem Einfluss der dortigen Avantgarden – vom Fauvismus bis hin zum Kubismus und Orphismus -ein neues Verständnis für die Farben gewonnen, die zum „tragenden Ausdrucks- und Kompositionsmittel“ seiner Malerei wurden. In jener Zeit kristallisierte sich zunehmend auch jener Drang nach Freiheit heraus, der – weit entfernt vom Theoretisch-Formalen – seine Kunst beflügelte. Ein Hauch von diesen verschiedenen Einflüssen und Erfahrungen ist auch im Schaffendes Malers, Grafikers und Bildhauers Gabriel Glikman zu spüren, dem diese bemerkenswerte Ausstellung gewidmet ist. Es wundert daher nicht zu erfahren, dass Gabriel Glikmann als Kind das Privileg hatte, Chagall in der 1917 von ihm gegründeten Kunstakademie in Witbesk live – wie man heute sagt – und aus nächster Nahe zu erleben. Rückblickend auf dieses grundlegendes Erlebnis schreibt er: Den Atem anhaltend, schaute ich Chagall bei der Arbeit zu, wie er mit einem wenig zerzausten Haar, laut und fröhlich, voller riesiger Energie, Farben auf die Wand legte,… wie Abbildungen entstanden, …wie ein Bild geboren wurde. Das war ein bezauberndes Mysterium…“.
Beschrieben wird sein erstes Treffen mit dem Maler-Poet in dem Kunstinstitut, wo eine ganze Elite russischer Künstler ihren Wirkungskreis hatte: unter ihnen Chagalls Lehrer Jehuda Pen oder Chagalls Antipode und Gegenspieler Kasimir Malewitsch, der 1915 sein berühmtes Schwarzes Quadrat schuf, das zum Meilenstein in der Geschichte der Abstraktion wurde.
Es war damals – liest man in Glikmans bewegenden Aufzeichnungen weiter– „ dass ich – ein siebenjähriger Junge – für mich – wohl intuitiv – das kostbarste Gefühl der grenzenlosen Freiheit, unendlichen Phantasie, einer wilden Energie entdeckte, die Chagall ausstrahlte“.
Gabriel Glikman wurde 1913 in der benachbarten Kleinstadt Biešankovičy geboren, die sich damals noch im Russischen Kaiserreich befand. In Witebsk hatte er Gelegenheit, einen bunten Reigen „eigenwillig und ungekünstelt“ gekleideter Maler, mit modernen Sandalen aus Holzsohle und Riemen und Tolstoj-Hemden aus „ungebleichter Bauernleinwand“ zu beobachten und sich für sie zu begeistern.
Fröhlich, lärmende, ewig mit Farbe beschmierte und lauten Männer“, die sich völlig vom Rest der Bevölkerung unterschieden. Man malte damals, wie man wollte und was man wollte – viel, leuchtend und frei! Uns Jungen …schien es, dass alle auf die gleiche Weise malten. Wir erkannten fliegende Juden in Gebetsmanteln, Schneider, Schuhmacher, Brautpaare…All diese grünen, gelben Figuren in einem blendenden Himmelsblau, im feinen und schwelgerischen Element der Malerei…“
Im Brennpunkt seiner Träume rückten aber vor allem die antiken Gipse und die anatomischen Abdrücke des Kunstinstituts, die vermutlich auch sein Interesse für das Fach Skulptur weckten.
1929 nach Leningrad (heute wieder St. Petersburg) umgezogen, entwickelte sich Glikman – nach Besuch der dortigen Kunstakademie – zu einem der bedeutendsten Bildhauern seiner Generation. Seine Skulpturen der herausragendsten Musiker und Komponisten aller Zeiten – von Bach, Mozart, Beethoven, Schostakowitsch oder Rostropowisch schmücken Museen, Plätze, Straßen von Moskau bis St. Petersburg. Ein Bildnis von Puschkin wurde in der Eremitage ausgestellt und gilt als eines der am besten gelungenen des russischen Nationaldichters.
Der Malerei widmete sich Glikman in jener Zeit eher im Verborgenen. Seine Arbeiten standen im Widerspruch mit der gängigen Ideologie und gewiss mit den Vorgaben des Sozialistischen Realismus. Unter ihnen befand sich die Porträtreihe „Nevskii Prospekt“ – nach der bekannten und in der Literatur viel zitierten Allee in St. Petersburg genannt – sowie zahlreiche Bildnisse von zeitgenössischen Künstlern und Dichtern wie Alexander Blok oder von der Theater-Legende Sergjei Diaghilev.
Ein einziger Versuch, seine Gemälde im Jahre 1968 im Leningrader Haus der Komponisten auszustellen, scheiterte. Die Werkschau wurde nach nur drei Tagen auf Anordnung der Sowjetregierung geschlossen. Gabriel Glikman gab schließlich jenem Drang nach Freiheit nach, der sein Künstlerdaseinerforderte.
1980 – nach langem Warten – durfte er schließlich mit seiner Familie in den Westen umsiedeln. 1982 unterhielt er ein Atelier im Arabella-Park in München, wo er sich niedergelassen hatte und 2003 starb. Dort war er bis ins hohe Alter produktiv und konnte eine rege Ausstellungstätigkeit vorweisen u.a. in Washington, Paris, Rotterdam oder während der Festspiele im englischen Glyndenbourne, wo ihn seine Musiker-Freunde einladen ließen.
Die Europäische Akademie Janusz Korczak widmet ihm nun in ihren Räumen eine Retrospektive mit Ölbildern, Grafiken und Skulpturen, die einzeln in über 70 Ausstellungen in Europa und in den USA gezeigt wurden.
In seinem umfangreichen Schaffen setze sich dieser eklektische Künstler mitThemen auseinander, die von Kindheits- und Jugenderinnerungen bis hin zu mythologisch-religiösen Stoffen reichen. Dominierend blieben bei ihm immer die Porträts von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, insbesondere von Künstlern und Schriftstellern, die die europäische Kulturwelt im XIX. und XX. Jahrhundert bereichert haben. In den Vordergrund rückt immer wieder der immense Beitrag, den Rußland zu dieser unglaublichen Blütezeit geleistet hatsowie die neuen Impulse, die es an den Westen vermitteln konnte.
Man erlebt diese faszinierende Ausstellung wie eine Galerie von Porträts herausragender Größen aus der Literaturwelt wie Fiodor Dostojewski, Boris Pasternak, Marina Zvetajewa und Franz Kafka.
Oder und vor allem aus jener Musikwelt, in der Glikman zu Hause war. Einfühlsam dringt er tief in die Seele des Porträtierten ein, um die Quintessenz seines Wesens und gleichzeitigseiner Kunst zu erfassen.
Glikmanns „kürzelhaft reduzierende Bildersprache“ -wie anlässlich einer seiner Werkschauen in München geschrieben wurde – weist – ähnlich wie bei Chagall – auf ein Verständnis von „Kunst als Seelenzustand“ hin, der sich zwischen Realität und Phantasie positioniert.
Das Porträt von Chagall, den er in einem Lichtbündel von Farben festhält oder die vielschichtigen Selbstbildnisse sind superbe Beispiele dafür. Neben Mozart, Bach, Beethoven und Mahler oder Einstein mal als Musiker mit der Geige in der Hand malte erdie vielen Zeitgenossen aus seiner verlassenen Heimat wie Igor Strawinski und Sergei Prokofiew, Svjatoslaw Richter oder DmitriSchostakowisch, mit dem ihn eine 40jährige Freundschaft verband. Nicht zuletzt Msitislav Rostropovich, der ihm in seinen Exiljahren persönlich nahe stand.
Ich bin davon überzeugt“ – schrieb der virtuose Cellist 1980 in einer Art Willkommensgruß bei der Ankunft in Westeuropa – „dass er einen hohen Rang in der glänzenden Schar der russischen Maler einnehmen wird, welche gezwungen waren, ihre künstlerische Laufbahn außerhalb ihrer Heimat fortzusetzen, wie z.B. Kandinsky oder Chagall…“

15. Januar- 5. März 2015
EUROPÄISCHE AKADEMIE JANUSZ KORCZAK
Sonnenstrasse 8, 2. Stock
Mo-Do.11.00-16.00 Uhr

(600 Werke von Gabriel Glikmann befinden sich in privaten Sammlungen, u.a. in der Sammlung Rostropowich, in Museen in Moskau und St. Petersburg. Näheres bei Issai Spitzer (issaispitzer@gmx.de) und Nina Müller (n.murkel@hummelbuch.de).

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Über Anna Zanco-Prestel 178 Artikel
Dr. Anna Zanco-Prestel, hat Literaturwissenschaften (Deutsch, Französisch und Italienisch) und Kunstgeschichte in Venedig, Heidelberg und München studiert. Publizistin und Herausgeberin mit Schwerpunkt Exilforschung. U.d. Publikationen: Erika Mann, Briefe und Antworten 1922 – 69 (Ellermann/DTV/Mondadori). Seit 1990 auch als Kulturkoordinatorin tätig und ab 2000 Vorsitzende des von ihr in München gegründeten Kulturvereins Pro Arte e.V.

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