Es hätte so schön kommen können für den fast sechzigjährigen Norweger Claes Otto Gedde. Eine Reise nach Berlin und dann den ganzen Winter in der großzügigen Wohnung seiner verstorbenen Freundin Margot Breivik, in der Knesebeckstraße 85, verbringen. Eintauchen in eine Art Winterschlaf, Atempause, Auszeit, „Durchgang seines Lebens von der Kindheit bis jetzt, nachdem sein jüngst verfasstes Kochbuch „Die alte belgische Küche“ der norwegischen Presse vorgestellt war, „zum Beispiel in der Pianobar des Osloer Bristol, eine Buchvorstellung, die auch ein Wiedersehen mit mehreren seiner ehemaligen Kollegen aus der Tagespresse bedeuten würde, zumindest hatte er sich das so vorgestellt, er selbst und alte Freunde, bei norwegischen Schnittchen und kaltem Bier, und vielleicht, nein, ganz sicher, zwei, drei Fernsehauftritte in verschiedenen Unterhaltungssendungen und Boulevardmagazine, auch hier zusammen mit Menschen, die er kannte und mit denen er schon zusammengearbeitet hatte, eher er Kurs auf Deutschland und Berlin nahm.“ Doch irgendwie, ja irgendwie kommt letztendlich alles ganz anders. Ein Anruf seines Verlegers lässt ihn auf der Frankfurter Buchmesse aufschlagen, um dem bis dato nicht einmal ansatzweise wahrgenommenen Buch wenigstens etwas Leben einzuhauchen. Nachdem dies erwartungsgemäß in die Hosen geht, verläuft zumindest die sich daran anschließende Ankunft in Berlin ein wenig wie geplant: Bahnhof Zoo, große fette Buletten mit scharfem deutschen Senf und Bier. Aber der sich anschließende Fortgang des Geschehens gleicht eher einem grotesken Fiasko als einem beschaulichen Rückzug mit Rückblick.
Der neue Roman Ingvar Ambjørnsens offenbart eine Komödie mit doppeltem Boden. Denn auch wenn einige Passagen mehr als schräg und urkomisch wirken, so kommt sein Buch eher der nackten Darstellung einer menschlichen Niederlage gleich: der nicht mehr zu stoppende „Zersetzungsprozess“ des einstmals so erfolgreichen Kriegsreporters und Nachrichtensprechers Claes Otto Gedde, der sich in Berlin sein vergangenes Leben zurückholen und die Phase der Auflösung und des Zerfall aufhalten möchte, jedoch zunehmend zum Universaldilettanten mutiert. Ausfallende Zähne und Haare dokumentieren neben dem sprichwörtlich den Bach hinuntergetriebenen beruflichen Erfolg zugleich den körperlichen Zerfall. Und eigentlich ist um ihn herum alles nur noch Zerfall. Flankiert von Hausmeister Heribert Gassmus, diesem „kriechenden Gespenst (…) mit seinem golumhaften Aussehen und Wesen, den Händen, die sich wie in feuchtkaltem Gebet wanden, dem ausweichenden Blick, dem krummen Rücken, x-beinig und hässlich“ und seiner iltisäugigen, „kleinen, fetten“ Mutter, über den zwar körperlich vitalen, Satie-spielenden und zuweilen nackt Goethe lesenden, aber zahnbehandlungsmüden, insolventen Dentisten Erkenbod Effer, bis hin zur mittlerweile 70-jährigen Großhure Adele Lusthoff, deren riesige, hängende, „blauweiße Brüste auf ihre drei Bäuche fielen“, liefern alle zusammen ein nahezu infernales Irrenhaus ab. Da hilft es nur noch, sich von Zeit zu Zeit im „Zwiebelfisch“ ordentlich zu betrinken. Ein rauschhaftes Wahrnehmen, das den Leser schon allein von der Beschreibung her zum Abstinenzler bekehren lässt.
Der Duktus des Roman wirkt dabei so kompliziert wie die Denkweise seines Protagonisten: endlose, zuweilen über mehrere Seite mäandernde, nur durch Kommata getrennte Sätze, zeugen von den verschlungenen und verworrenen Gedanken Geddes. Doch einmal von dieser Schreibweise gefangengenommen, schält sich die knappe, aber ungemein scharfe und hervorragende Charakterisierung aller Personen durch den norwegischen Autor heraus, der seit 1985 in Hamburg lebt und in seiner Lebensgefährtin Gabriele Haefs eine kongeniale Übersetzerin gefunden hat. Zudem ist Ambjørnsen ein zynischer Blick in die zuweilen durch Tristesse und Resignation geprägte norwegische Journaille gelungen. Letztendlich ein Buch über einen etwas überspitzt gezeichneten, aber gleichzeitig auch wieder ganz normalen Menschen an der magischen Altersschwelle. Ein Buch über einen Zyniker und Egomanen, der trotz seiner exzessiven und zuweilen brutalen Lebensweise dennoch nicht gänzlich unsympathisch wirkt. Der Rückschau hält auf den bisher zurückgelegten Weg durch sein Dasein und sein Leben: „Geddes Leben, Weinen und Lachen, hohe Berge und tiefe Täler (…), gepflastert mit Zufällen, plötzlichen Kurven, steilen Hängen und baufälligen Brücken, er hatte jetzt eine Strecke mit schlechtem Schotter erreicht, es ging ein wenig holterdiepolter…“
Fazit: „Eine lange Nacht auf Erden“ zeichnet sich durch Eleganz und emotionale Brutalität aus. Zuweilen recht deftig und derb, dann wieder versonnen und nachdenklich, aber immer verfeinert und gewürzt mit einer gehörigen Portion Witz und Humor legt Ingvar Ambjørnsen einen charmant-direkten Roman über das Altern, über verpasste Möglichkeiten, Erinnerungen und existentielle Betrachtungen vor. Eine rasante Feier der Begegnung des Selbst, die zuweilen im Katzenjammer enden kann. Ein Resümee einer dahingeschwundenen Zeit mit dem „Dämon der Angst auf den Schultern, der erbarmungslosen Sehnsucht nach Gesellschaft.“ Eine Komödie mit einem Hauch Tragik, zutiefst menschlich, ergreifend und ungemein unterhaltsam – genauso wie das Leben. Ein Buch, das wie ein guter Rioja genossen werden sollte.
Ingvar Ambjørnsen
Eine lange Nacht auf Erden
Titel der Originalausgabe: „En lang natt på jorden“
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Rotbuch Verlag (März 2013)
251 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3867891737
ISBN-13: 978- 3867891738
Preis: 18,99 EUR
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