Beginn einer Korrespondenz mit Wolfgang Greisenegger. Professor für Theaterwissenschaft und ehemaliger Rektor der Universität Wien. In seinem Brief zeigt sich der Experte für mittelalterliche Geschichte unzufrieden mit der Situation im heutigen Wien. Gerne würde er noch als Journalist ein paar Glossen verfassen.
Date: Apr 4, 2021 10:15
From: „Prof. Wolfgang Greisenegger“ <wolfgang.greisenegger@>
To: Johannes Schuetz <johannes.schuetz@>
Subject: Re: Anfrage für Beitrag
Lieber Johannes,
Ich hoffe, Du wanderst in den Karawanken von Sonnenplatz zu Sonnenplatz in unserer „verwirrten“ Zeit.
In Wien ist jeder Tag – meteorologisch – schöner als der „davorige“. Ich habe meinen täglichen Besuch im Botanischen Garten, wie üblich, absolviert und mich geärgert, wie jeden Tag, dass ich im Belvedere, und nicht nur hier, nicht einmal einen kleinen Mokka (im Freien) bekommen kann. Theoretisch könnte man einen „Türkischen“ (nicht Türkisen!!) leicht (im Freien) zubereiten und servieren oder in Tragebecher abfüllen. Wozu denn Alternativen überlegen. Der Staat zahlt, wie hieß es doch …
Heutzutage bereue ichs fast, dass ich mit dem Journalismus strikt aufgehört habe. So ein paar kleine Glossen …!
Herzlich
Wolfgang
From | Johannes Schuetz <johannes.schuetz@ > | |
To | „Prof. Wolfgang Greisenegger“ <wolfgang.greisenegger@ > | |
Subject | Re: Re: Anfrage für Beitrag | |
Date | Apr 5, 2021 06:51 PST | |
- Lieber Wolfgang,
Zu den Osterfeiertagen muss ich immer an Dich denken. Du bist ja ein Experte für den Ostertropus. Für die Entstehung des Theaterspiels im Kirchenraum, nach den Jahren der Verbannung des theatralen Kunstwerks, die von so manchen Historiker als eine „dunkle Epoche“ beschrieben wurde. Die Kirchenväter wollten wohl kaum das Bildungstheater treffen, das später so bedeutend wurde, sondern wohl eher das Gaukelspiel.
Dennoch wurde Theater, beginnend 996, also um die erste Jahrtausendwende, nur langsam wieder entwickelt. Beginnend mit dem Besuch der drei Marien am Grabe, wie Du es genau in Deinem Buch „Die Realität im religiösen Theater des Mittelalters“ darstelltest. Die drei Marien, die dem Engel begegnen, der ihnen erklärt, dass „er auferstanden“ sei, das war die erste, noch kleine Szene, die im Osterspiel entstanden ist, dargestellt von Mönchen. Später entwickelten sich daraus umfangreiche szenische Spiele, wie das Innsbrucker Osterspiel oder das Osterspiel von Muri, auch mit Szenen, die das soziale Leben zeigten.
Gerne würde man noch mehr von Dir darüber erfahren, nämlich über Deine Forschungsarbeit, wie Du die Quellen erschlossen hast, in welchen Archiven Du dafür Deine Recherchen durchführtest, wie Du das Material dafür, wohl jahrelang, gesammelt hast, auch wie die Idee in Dir entstanden ist, dass Du Dich diesem Thema, der Entstehung des Theaterspiels aus dem Ostertropus, so sehr widmen willst.
Theaterwissenschaft sollte weiter wesentlich bleiben als ein Forschungsgebiet, dass das Gaukelspiel erkennt und abtrennt vom „sakralen Theater“, wie es später auch vom bedeutenden Regisseur Peter Brook beschrieben wurde, der immer wieder nach dem „heiligen Theater“ in seiner Arbeit suchen wollte.
Kann die Theaterwissenschaft auch einen Beitrag leisten, damit das Gaukelspiel im sozialen Leben und im politischen Alltag erkannt und bewusst gemacht wird? Das wäre ein Beitrag, der wohl in unserer Zeit von entscheidender Bedeutung sein sollte, um für mehr Klarheit zu sorgen.
Ich denke schon, dass die Theaterwissenschaft, selbstverständlich auch als ein Teil der Medienwissenschaft, in der Lage ist, dazu einen entscheidenden Beitrag zu leisten, der nicht ignoriert werden sollte. Sind doch zentrale Forschungsgebiete des Faches, die genaue Definition von Theaterrolle und sozialer Rolle, die Unterscheidung der beiden Phänomene, auch das sogenannte Alltagstheater, das erkannt wird, wie es beispielsweise Erving Goffman gekonnt zeigte, in „The Presentation of Self in Everyday Life“, das vom deutschem Verlag mit „Wir alle spielen Theater“ übersetzt wurde.
Wo sollte denn eine so ausgebildete Sensibilität gegeben sein, für die Erkennung des Gaukelspiels, wenn nicht bei den Proponenten der Theaterwissenschaft.
Du suchst jetzt gerne im Botanischen Garten beim Belvedere nach Kontemplation, in unserer so „verwirrten Zeit“. Ein ausgezeichneter Platz zur Sammlung, zwischen all den prächtigen Blüten unserer schönen Alpenregion. Leider kann ich diesen wundervollen Park, den die Stadt Wien bietet, ich kenne ihn aus früheren Jahren gut, jetzt nicht besuchen, da ich im Ausland verweilen muss.
Eine gute Wanderung oder eine gute Promenade waren Dir ja stets wichtig. Ich erinnere mich, dass Du täglich vom Institut in der Wiener Hofburg den Weg bis zu Deinem Wohnraum gingst, durch den Stadtpark, dann durch die Reisnerstraße. Manchmal begegnete ich Dir dort, vor dem Kriterion, dem Yoga—Zentrum des Arnold Graf Keyserling, wo ich fernöstliche Techniken trainierte.
Du schreibst, dass Du „verärgert“ bist, dass Du bei Deiner Promenade nicht mehr Platz nehmen kannst, um mit einem Getränk, Dich zu erholen. Offenbar ist die österreichische Kultur jetzt gefährdet, einst war das Café ja in Wien der Ort, wo die Literaten einkehrten, um die Gedanken zu notieren, die sie bei ihrem Spazierweg schöpferisch sammelten, auch um miteinander über Bücher zu sprechen.
Ein solcher Ort ist bedeutender, als so mancher denkt im modernen Wien, wo dieser Lebensstil, zwischen so viel Techno und Boulevard, in die Kritik gekommen ist. Die Japaner sind noch bewusst, dass solche Orte von Bedeutung sind, um eine Hochkultur auszubilden und zu bewahren, etwa beim Chanoyu, der japanischen Teezeremonie.
Doch bin ich zuversichtlich, dass Dein „Ärger“ nur grundsätzlicher Natur sein kann, weil Du mit den aktuellen Bedingungen nicht einverstanden bist. Es ist ja bekannt, dass Du oft wie ein Asket lebtest, an Deinem Institut in Wien, wo Du Dir „Fünf Wurstsemmeln“ bringen ließest, damit Du mit dieser Nahrung bei Deiner anspruchsvollen Tätigkeit für die Wissenschaft über den Tag kommst. Ich bin überzeugt, dass Du auch jetzt mit einer Thermoskanne voll Tee durch den Stadtpark wanderst.
Viel war in Österreich die Rede von Regelungen für Schwerarbeiter. Wer am Tag ein Grab schaufelt, der soll jetzt als Schwerarbeiter gelten. Doch wäre es notwendig gewesen, dass darüber nachgedacht wird, ob auch wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität als Schwerarbeit betrachtet werden muss. Zwischen all den Publikationen und tausenden Studierenden, die Betreuung bekommen sollen.
Du erklärst: „Heutzutage bereue ichs fast, dass ich mit dem Journalismus strikt aufgehört habe“. Nicht nur Du bereust, dass Du mit dem Journalismus aufgehört hast. Auch wir sind betrübt darüber. Deine Beiträge wären von Bedeutung, um das Gaukelspiel zu entlarven, gerade auch in unserer Epoche, die später eventuell noch als „eine dunkle Zeit“ beschrieben wird.
In diesem Sinne schätze ich Deine Antwort.
Mit freundlichen Grüßen
Johannes
Wolfgang Greisenegger war Ordinarius für Theaterwissenschaft an der Universität Wien, Lehrstuhl in der Nachfolge von Margret Dietrich („Das moderne Drama“). Sein Buch „Die Realität im religiösen Theater des Mittelalters“ gilt als Standardwerk. Gemeinsam mit Margret Dietrich war Greisenegger auch Autor von: „Pro und Kontra Jesu Hochzeit: Dokumentation eines Opernskandals“. Von 1984–1988 Präsident der International Federation for Theatre Research (IFTR). Von 2001 bis 2011 Präsident des P.E.N.-Club Österreich. Greisenegger wirkte als Dekan an der Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät und schließlich als Rektor der Universität Wien.