Ein Ostpreuße in der Uckermark – Zum Tod Paul Gratziks am 18. Juni

Kerze, Foto: Stefan Groß

Im Krankenhaus der Kreisstadt Eberswalde bei Berlin verstarb am 18. Juni im Alter von 82 Jahren der in Ostpreußen geborene Schriftsteller Paul Gratzik, der zuletzt in der Uckermark lebte. Sein Vater war Landarbeiter im Dorf Lindenhof im Kreis Lötzen und fiel 1941 an der Ostfront. Der am 30. November 1935 dort geborene Paul ging 1945 mit Mutter und zwei älteren Geschwistern auf die Flucht, die in Mecklenburg endete. Er erlernte den Beruf eines Tischlers, besuchte 1954/55 die „Arbeiter- und Bauernfakultät“, um das Abitur nachzuholen, beging 1955 „Republikflucht“ nach Westdeutschland, wo er im Ruhrgebiet Bauarbeiter war, kehrte aber schon im Jahr darauf zurück und wurde Bergarbeiter im sächsischen Braunkohlenrevier.

Dass Paul Gratzik körperliche Arbeit nicht scheute, trug ihm die Achtung seiner Schriftstellerkollegen, auch die von Anna Seghers, und die des Staates ein, außerdem machte es ihn, soweit das im DDR-Sozialismus überhaupt möglich war, politisch unabhängig, er musste niemandem nach dem Mund reden. Nach dem Mauerbau 1961 wurde auch die „Staatssicheheit“ auf ihn aufmerksam, am 2. Mai 1962 wurde er von der Kreisdienststelle Weimar unter dem Decknamen „Peter“ angeworben, eine Umklammerung, aus der er sich 1981 aus eigener Kraft befreien konnte. In Joachim Walther Buch „Sicherungsbereich Literatur“ (1996) kann man auf vier Seiten nachlesen, wen er observiert hat und wie er nach 1981 selbst zum observierten Autor wurde.

Nach einem Studium 1962/64 am „Institut für Lehrerbildung“ in Weimar wurde er als Erzieher in Jugendwerkhöfen, dem „destruktiven Teil der Gesellschaft“, wie er es nannte, eingesetzt und fand dort den Stoff für seine späteren Theaterstücke. Durch den ständigen Wechsel zwischen Schreibtisch und Arbeitswelt gewann er einen unverstellten Blick für das, was ganz unten in der DDR-Gesellschaft passierte und was die staatlichen Vorgaben des „Bitterfelder Wegs“ Lügen strafte.

Von seinem Betrieb, dem „Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden“, 1967 zum Studium ans Leipziger Literaturinstitut delegiert, wurde er schon 1968 „aus politisch-ideologischen Gründen“ wieder exmatrikuliert, weil er Sympathien für den „Prager Frühling“ entwickelt hatte. Aber nun feierte er erste Erfolge mit seinen Theaterstücken, von denen er mehr als ein Dutzend schrieb, die in Ostberlin aufgeführt wurden, zudem wurde er 1975 Vertragsautor am „Berliner Ensemble“, dem Theater Bertolt Brechts am Schiffbauerdamm.

Während sein erster Roman „Transportpaule“ 1977 noch im Rostocker Hinstorff-Verlag erscheinen konnte, wurde der zweite „Kohlenkutte“ (1982) nur in Westberlin veröffentlicht. In diesem Buch nämlich zerstörte er die Legende vom „Arbeiter- und Bauernstaat“ und zeigte den Arbeiter als unterstes Glied einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur, der keinerlei Rechte hatte. Erst im Jahr des Mauerfalls 1989 konnte auch dieses Buch in Rostock erscheinen.

 

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Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.