„Es heißt, es gebe viele Welten. Rings um die eigene, dicht gepackt wie die Zellen unseres Herzens. Jede mit ihrer eigenen Logik, ihrer eigenen Physik, ihren Monden und Sternen. Wir können nicht hin – in den meisten würden wir nicht überleben. Aber es gibt einige, das weiß ich nun, die unserer fast genau gleichen – wie die Märchenwelten, mit denen meine Tante uns früher narrte. 'Du wünschst dir was, und es entsteht eine andere Welt, in der dieser Wunsch wahr wird, egal, ob du sie jemals zu sehen bekommst.' In diesen anderen Welten sind alle deine geliebten Orte da, deine geliebten Menschen. Und vielleicht wird in einer von diesen Welten alles Unrecht wiedergutgemacht und das Leben so, wie du es dir wünschst. Was also, wenn du die Tür fändest? Was, wenn du den Schlüssel hättest? Denn eins wissen wir: Dass das Unmögliche uns allen ein Mal passiert.“, heißt es in dem neuen Roman von Andrew Sean Greer. Der kurze Ausschnitt umreißt zugleich den Plot des amerikanischen Autors, der nach seinem fulminanten Debüt aus dem Jahr 2005 („Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli“) von John Updike gar mit literarischen Legenden wir Marcel Proust und Vladimir Nabokov verglichen wurde. Eine gewisse Dualität kann man im Werk des jungen Amerikaners durchaus entdecken.
Das Unmögliche passiert seiner Protagonistin tatsächlich. Am 30. Oktober 1985 wird Greta Wells wegen einer schweren, lang anhaltenden und bis dato mit keinerlei Erfolgsaussichten verbundenen Depression von ihrem behandelnden Arzt eine letzte Alternative vorgeschlagen. Elektrokonvulsionstherapie heißt das Zauberwort, das ihr endlich wieder ein annehmbares Leben verschaffen soll. Der Tod ihres Zwillingsbruders Felix und die Trennung von ihrem langjährigen Lebensgefährten Nathan kann dadurch allerdings auch nicht rückgängig gemacht werden. Doch halt! Wieso eigentlich nicht? Vielleicht ist das Hinübertreten von einer Welt in eine andere tatsächlich möglich? In unserer Fantasie und unseren Träumen sind solche Grenzgänge durchaus gang und gäbe. Dazu bedarf es keines weißen Kaninchens oder einer Flasche mit der Aufschrift „Trink mich“ wie in Alices Wunderland. Im „Innersten wissen wir mehr, als wir wissen.“ Und tatsächlich. Als Greta am Morgen nach der Behandlung in ihrem Schlafzimmer in New York erwacht, schreiben wir das Jahr 1918. Pferdegetrappel statt Autolärm. Das zeitlos, nüchtern-moderne Interieur der Gegenwart ausgetauscht gegen Streifenbrokat und Spitze. Doch Gretas „Fluch von Trauer und Tod“ hat sich nur verlagert. Die letzten Tage des 1. Weltkriegs werfen ihre Schatten über Amerika und mehr oder weniger auch auf die gleichen Personen aus dem Jahr 1985, selbst wenn gewisse charakterliche Abweichungen und veränderte Beziehungskonstellationen zu verzeichnen sind.
Der amerikanische Autor lässt es allerdings nicht bei einer Zeitreise. Die nächste Behandlung katapultiert die junge Frau ins Jahr 1941. Das Zeitkarussell scheint nicht mehr stillzustehen. Mit jeder neuen Behandlung, 25 werden es insgesamt sein, bei denen Greta im wahrsten Sinne des Wortes vom Blitz getroffen wird, stellt sich ein weiteres graduelles Erwachen ein. Sie rotiert zwischen den drei Zeitebenen hin und her, erlebt ein „magisches Zusammenschnurren der Welten“. Lückenzeit. Vergleichbar vielleicht mit einer buddhistischen Seelenwanderung, einem „Pop-up-Buch möglicher Leben“. Und mehr noch: „Über die Membranen dreier Welten hinweg hatten wir Plätze getauscht, diese beiden anderen Gretas du ich, und waren zu anderen Leben erwacht.“ Jede Reise gleicht dabei der Ringlinie einer Untergrundbahn, auf 1941 folgt wieder 1985, um hernach ins Jahr 1918 abzutauchen. Bis… ja bis sie „nicht mehr synchron liefen, aus dem Takt waren, drei verkehrt aufgefädelte Perlen an der Kette.“ Das empfindliche Zeitroulette ist gestört. Wird die Welt jetzt zur Falle?
„Wie nennt man die Zeit, in der wir fehlen?“ Kann man verlorengegangene Momente wieder zurückholen? „Wer sind wir, wenn wir nicht wir selbst sind?“ Kann man das Unmögliche ungeschehen machen? „Was für einen Unterschied macht die Epoche, in die wir hineingeboren werden?“ Kann man verlorene Liebe in einer anderen binden? Kann man dem anklopfenden Tod in Welt-Variation II vielleicht den Einlass verwehren? Wo ist der Ort, „wo alles Unrecht wiedergutgemacht wird“?, sind nur einige Fragen, die der großartige Plot von Andrew Sean Greer aufwirft. In einer wunderschönen, nahezu poetischen Sprache, die kongenial von Uda Strätling ins Deutsche übertragen wurde, ist ihm erneut ein grandioser Roman gelungen, der beinah atemlos durch die Seiten treibt. Stilistisch changiert der Text gekonnt zwischen Dialogen, hingetupften Alltagsbeschreibungen, geschichtlich-politischen Betrachtungen sowie tiefsinnigen und philosophisch angehauchten Sätzen: „Damals war mir die Welt fremd gewesen, weil ich aus ihr herausgefallen war. Jetzt fühlte es sich ähnlich an, weil ich wusste, dass die Dinge auch anders sein konnten.“ oder: „Gibt es einen größeren Schmerz, als zu wissen, was sein könnte, und doch nicht die Macht zu haben, es wahr werden zu lassen“. Letztendlich steht über Greta die große Frage: Ist sie die Frau, die zu werden sie sich immer erträumt hatte? „Unser Schicksal wird so oft einfach davon bestimmt, wo wir uns gerade befinden.“
Fazit: „Ein unmögliches Leben“ erweist sich trotz seines turbulenten Zeitreisekarussells als ruhiger, heiter getragener und durchaus optimistischer Roman, in dem wie bei Marcel Proust der Mensch auf der Suche nach seiner Identität im Mittelpunkt steht. Eine weitere großartige Stimme aus Amerika. Ein Autor, den ich unzweifelhaft an mein persönlich favorisiertes Dreigestirn Jonathan Frantzen, Jeffrey Eugenides und Richard Powers andocken würde.
Andrew Sean Greer
Ein unmögliches Leben
Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling
Titel der Originalausgabe: The Impossible Lives of Greta Wells
S. Fischer Verlag (April 2014)
336 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100278275
ISBN-13: 978-3100278275
Preis: 19,99 EUR
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