Der 1956 in Bukarest geborene Mircea Cărtărescu zählt in Rumänien zu den bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellern. Im Alter von 22 Jahren begann er zu schreiben, verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Rumänischlehrer, war Redakteur beim Magazin Caiete Critice (Literarische Hefte) und arbeitete als Dozent an der Universität in Amsterdam. Seit 1991 lehrt er rumänische Literatur an der Universität inBukarest. Mit seinem Prosaband „Nostalgia“, in dem er sich im prächtig heruntergekommenen Bukarest der siebziger und achtziger Jahre bewegt, wurde der Schriftsteller vor zehn Jahren auch in Deutschland bekannt. 2007 schlug dann hierzulande sein überbordender Roman „Die Wissenden“ ein und reizte die Kritiker zu wahren Begeisterungsstürmen.
Labyrinthische Traumlandschaften, entfesselte surreale Beschreibungsorgien, morbide Fantastik und erlesene Manierismen sind die Markenzeichen dieses Autors. Er versteht es auf unnachahmliche Weise den Leser in ein Wechselbad der Gefühle zu versetzen; auf der einen Seite ein wahrer Bilderrausch, der beinahe von überirdisch leuchtender Schönheit ist, um im nächsten Augenblick in puren Horror zu kippen. So auch in seinem frühen Werk „Travestie“, das erst 16 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ins Deutsche übertragen wurde. Vorab darf hier dem Übersetzer Ernest Wichner für seine großartige Sprachtransformation gedankt werden, die Cărtărescus Duktus kongenial wiedergibt.
„Travestie“ ist ein Entwicklungsroman eines Hermaphroditen (Zwitter). Bereits der 2003 mit dem Pulitzer-Preis geehrte Jeffrey Eugenides brachte dieses Thema in „Middlesex“ zur Sprache. Doch Cărtărescus Protagonist durchlebt psychisch tiefere Höllenqualen. Er wird bis zu seinem vierten Lebensjahr als Mädchen erzogen, bis sich seine Eltern darauf einigen, sein Geschlecht zu verwandeln und aus dem Mädchen über Nacht einen Jungen zu machen. Wie tiefgreifend dieser physische Eingriff auch die Psyche des Kindes betraf, zeigt sich 11 Jahre später, als bei dem nunmehr Fünfzehnjährigen die verdrängten Ereignisse mit voller Wucht hervorbrechen. Das schwelende Trauma, jener „Drachen aus bengalischen Feuern, der sich in meinem zurückgezogenen, schüchternen Adoleszentenleben erhoben hat und schreit“, suchen infolge einer homosexuellen Belästigung seines Mitschülers Lulu mit voller Wucht den Weg an die Oberfläche. Viktor erleidet einen Nervenzusammenbruch, dem Jahre nicht anschlagender Therapien folgen: „Ich habe gesoffen, bis ich mich am Rand einer Bauchspeicheldrüsenentzündung befand. Habe so viele Phiolen mit Nevrasthènin geschluckt, dass sich meine Gesichtshaut giftig gelblich-grün verfärbt hat. War zwei Wochen lang im Sanatorium in Buşteni und habe es verstörter und verwilderter dennje wieder verlassen.“
Erst eine Schreibtherapie, mit der das Gedächtnis stimuliert und die „die Verknotung der Eingeweide, dieses in mein Hirn eingewobene Mandala“ entwirren soll, hilft. Viktor versucht die Nacht seines cerebralen Gewebes zu durchleuchten und den Kampf mit der unerträglichen Chimäre, die in seinem Inneren wütet, aufzunehmen. „Wir waren die Hölle dieser von unserem Geist erträumten und angestrebten Welt,und der Weg durch die Hölle bis hinab in ihre Abgründe war der einzige uns zugängliche Weg. Es gab eine verborgene Symmetrie, welche die unteren Organe den oberen entgegensetzte, Geschlecht-Gehirn, mithin mussten wir bis auf den Grund unserer latrinenartigen Kloaken, um irgendwann einmal in die höheren Regionen aufsteigen zu können“, sinniert Victor beinahe im Fieberwahn. Plötzlich erinnert er sich an das frühkindliche Ereignis, findet den Ausgang aus der „magischen Trasse“ seines Traums und gleichzeitig das verbotene Zimmer, so dass er seine angebliche „Schwester“ als sein Selbst identifizieren kann. Nach dem anfänglichen Schock, ob der „schmerzhaften Erinnerungsblitze“ geht er aus der psychischen Schlacht des „widerwärtigen Dramas seines Lebens“ geheilt hervor und findet zu sich selbst.
Mircea Cărtărescu offenbart mit „Travestie“ ein wahres Crescendo halluzinatorischer,paralysierender, teils wahnhafter Gedankengänge, sexueller Obsessionen und nahezu schizophrener Tagträume voller tiefer symbolischer Bedeutungen. Gleichzeitig jedoch zeichnet sich das Buch durch eine hochpoetische Sprache und unglaubliche Bildhaftigkeit aus („… spürte ich plötzlich, wie mir das Hirn knackte, wie sich meine zerebralen Hemisphären separierten, die eine behielt das ganze Grauen das endlos zunahm, die andere die ebenso unbegrenzte Ekstase vor dem Schönen.“). Der kleine Roman, der mittlerweile in viele Sprachen übertragen wurde,ist apokalyptische Dichtung und kohärente Erzählung in einem und bekam nicht zu Unrecht in Rumänien die zwei größten literarischen Preise verliehen (Romanian Writer’s Union Prize, ASPRO Prize). Er ist sicher nicht einfach zu lesen, aber wenn man sich auf Cărtărescus Diktion einlässt, in sie abzutauchen vermag, erlebt man ein wahres Bilderfeuerwerk im eigenen Kopf. In „Travestie“ gehen die Töne „in Farben über und die Farben in Töne, die Zeit dehnt und verdichtet sich, die Gesichter verschwimmen unvermittelt ineinander und vermengen ihre Züge.“
Das letzte Wort des Romans „VERSCHWINDE “ teilt man nach der Lektüre keinesfalls. Hier möchte man ein „BLEIB!“ hinterherrufen.
Mircea Cărtărescu
Travestie
Suhrkamp Verlag, Berlin (August 2010)
172 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3518421794
ISBN-13: 978-3518421796
Preis: 17,90 EURO
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