Ein Krieg und seine grausame Vorgeschichte

ukraine flagge fahne länder ukraine flagge, Quelle: Kaufdex, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Kulturgeschichtlich fühlt sich die Ukraine eher Russland als dem Westen zugehörig. Doch unvergessen ist, wie Josef Stalin Millionen Ukrainer in den Hungertod trieb – eine Blaupause für den aktuellen Krieg.

In der Ukraine tobt Krieg, und keiner weiß, wie es weitergeht. Indes sich für Außenstehende die Frage stellt, worin nur der Konflikt zwischen zwei augenscheinlich so ähnlichen Völkern bestehen könnte. „Das ist hier doch mindestens so russisch wie in Moskau oder Sankt Petersburg“. Verwundert sagt sich das wohl so mancher Ausländer beim Anblick pelzbemützter Menschen und eleganter Frauen zwischen deutschen Luxuskarossen und französischen Edellabels im Stadtzentrum von Kiew. Und in der Tat: Seit Jahrhunderten pflegt die Ukraine enge Verbindungen nicht nur zum Westen, sondern auch zu Russland, seinen Menschen, Führern und deren Kultur. Beide Sprachen, Ukrainisch und Russisch, bedienen sich kyrillischer Buchstaben, sie ähneln sich in Wortschatz und Aussprache, und in wohl kaum einer Stadt auf der Welt zentrieren sich auf engstem Raum so viele russisch-orthodoxe Kirchen und Klöster wie in Kiew und Umgebung. In der wechselvollen Geschichte zwischen Russen und Ukrainern kam es zu Bündnissen, Gegenbündnissen, Aufständen und blutigen Kriegen, bis sich seit Ende des 18. Jahrhunderts Teile des ukrainischen Bürgertums als das „Kleine Russland“ fühlten, mit der Folge, dass noch heute viele ukrainische Familien ihre genealogischen Wurzeln im Nachbarland haben, dessen Speisen, Gebräuche und selbst die Kinderliteratur, die sie nicht missen möchten. Bis heute rührt aus diesem teils widersprüchlichen Spannungsfeld zwischen Ost- und Westorientierung der Ukraine ihre Identitätskrise, deren extreme Ausläufer sich seit Jahren als menschliche und militärische Tragödie im Donezkbecken und an der Grenze zu Russland abspielen.

Die ambivalente Haltung vieler Ukrainer zu Russland wurzelt auch in den blutigen Ereignissen des vorigen Jahrhunderts, Dramen, die nicht vergessen wurden, obgleich kaum mehr öffentlich darüber gesprochen wird. So wie in der katholischen Kirche die Details der Hinrichtung Jesu Christi ihrer Grausamkeit wegen bis heute eine gewisse Tabustellung einnehmen und doch in christlichen Gotteshäusern allgegenwärtig sind.

Schauplatz blutiger Kämpfe

Während des 19. Jahrhunderts war ein Großteil der Ukraine Teil des Russischen Imperiums, während der Westen von den Habsburgern regiert wurde. Das zaristische Regiment verbot den Ukrainern, ihre Sprache zu sprechen. Alle Regungen einer eigenen Kultur und Identitätsbildung unterdrückte sie im Keim, was dazu führte, dass nicht wenige ukrainische Intellektuelle das Land verließen. Und damit vor allem in den Städten fehlten, bekanntlich den Zentren kulturellen Lebens und Impulsgebern für neue, auch politische Bewegungen.

Nach dem ersten Weltkrieg und der Machtübernahme durch die Bolschewisten 1917 war die Ukraine zunächst zwischen rivalisierenden kommunistischen, zarentreuen und ukrainisch-nationalistischen Armeen hart umkämpft, wobei Kiew zwischen Februar 1918 und Juni 1920 nicht weniger als sieben Mal den Besitzer wechselte. Bis im März 1921 aus der Ukraine, die als Kornkammer der Riesenreichs galt, eine sozialistische Sowjetrepublik unter der Fuchtel Lenins und seines Nachfolgers Josef Stalins wurde.

Feindbild „Kulake“

Die Probleme begannen mit dem ersten Fünfjahresplan, den Stalin, nach dem Tode Lenins oberster Sowjetführer, Anfang 1928 verkündete. Um die Industrialisierung voranzubringen, forderte der Plan eine umfassende Kollektivierung, also auch der Äcker und Felder, der Werkzeuge und Maschinen sowie der Nutztiere aller ukrainischen Bauern. Theoretisch war der Plan so schön, wie er notwendig schien. Vor allem den Muschiks, den rückständigen Bauern die von alters her vom Landesherrn, von der Kirche sowieso aber vor allem von den „gierigen, ausbeuterischen Großbauern“, den Kulaken unterdrückt worden waren, sollte auf diese Weise geholfen werden.

An die Stelle eines ursprünglichen Landlebens, ökonomischer Ineffizienz und traditioneller Verhaftung in christlichen Riten und obrigkeitsstaatlichen Denkweisen trat nach dem Willen Stalins eine sozialistische Agrarproduktion, deren Überlegenheit angeblich wissenschaftlich bewiesen worden war. Dazu sollten die kleinen Gehöfte, die es in der Ukraine zu Hunderttausenden gab, in riesigen Kollektiven zusammengefasst werden, um so die, aus Sicht der Kommunisten, unterwürfige und ignorante Landbevölkerung zu einem klassenbewussten, bäuerlichen Proletariat umzuerziehen. Jedoch mit der Maßgabe, im großen Stil Getreide für das Militär und die Industrie, deren Ausweitung im Fünfjahresplan festgelegt worden war, zu produzieren. Das Heer der benötigten Fabrikarbeiter und Rotarmisten musste schließlich irgendwie ernährt werden, so das Kalkül der kommunistischen Planer in Moskau.

Die ersten Versuche, diese Politik umzusetzen, stießen in der Ukraine auf erbitterten Widerstand, der den Revolutionseifer in Moskau jedoch noch weiter anstachelte. Es zeigte sich, dass der Kommunismus auf dem Land und vor allem in der Ukraine nur schlechterdings durchsetzbar war, was bei Stalin und seinem Vertrauten Lasar Kaganowitsch, der 1940 das Massaker an polnischen Offizieren in Katyn mitorganisierte, die Überzeugung nährte, die Kulaken als letzte Träger bürgerlicher und damit antisowjetischer Ideale liquidieren zu müssen.

Als die Kollektivierungsmaßnahmen in der Ukraine widerholt boykottiert wurden und viele jüdische Bewohner, oft gut ausgebildet, nach Palästina auswanderten, schickte die Parteiführung Geheimpolizisten und Armeeeinheiten, um den Plan mit Gewalt durchzusetzen. Jeder Bauer, von dem angenommen wurde, dass er ein Kulake war – ein nur vager Begriff, der oft nichts weiter bedeutete, dass jemand mehr als eine Kuh besaß oder Knechte beschäftigte oder ein besser gedecktes Dach hatte als die anderen – , wurde festgenommen und deportiert. Zehntausende Familien verfrachtete der sowjetische Geheimdienst NKWD, Vorläufer des späteren KGB und heutigen FSB in zugigen Eisenbahnwaggons nach Sibirien und andere, weit entfernte Regionen in dem Riesenreich. Es war ein Vorgeschmack auf jene Methoden, die Hitlers Schergen wenige Jahre später bei Transporten in polnische und weißrussische Konzentrationslager anwandten.

Tritte und Deportationen

Unterdessen versank die Ukraine immer mehr in Gesetzlosigkeit und Gewalt. Viele Menschen wurden festgenommen und willkürlich hingerichtet. Denunziationen von neidischen Nachbarn waren an der Tagesordnung, derweil die staatliche Kommission zur Getreidebeschaffung ihre gefürchteten Runden machte, Bauern unter Druck setzte, den Kollektiven beizutreten und ihr Getreide „freiwillig“ abzugeben. Während des Winters 1930/1931 nahmen die Zwangsmaßnahmen gegen „Kulaken“, „Konterrevolutionäre“ und „Saboteure“ massiv zu. Festnahmen, Tritte, Schläge und willkürliche Verfrachtungen nach Sibirien ohne Winterkleidung bestimmten den Alltag dessen, was die Moskauer Führung unter Kollektivierung der Landwirtschaft und der Schaffung eines neuen Menschen, des homo sovieticus verstand.

Das Prozedere hat sich in vielen Fällen nach dem immer selben Drehbuch abgespielt: Dorfälteste, wohlhabende Bauern und jeden, der sich irgendwann einmal mit dem Chef der Kommission angelegt hatte, trieben Geheimdienstleute auf dem Dorfplatz zusammen, wo im Schnee ein Tisch mit einem feuerroten Tischtuch aufgestellt war. Auf dem Tisch stand ein Telefon, und hinter dem Tisch richtete der Parteikommissar. Als Verwandte eines Angeklagten versuchten, den Platz zu stürmen, feuerte ein Maschinengewehr in die Menge und tötete willkürlich Menschen. Dann wurden die Verurteilten, – also alle, die angeklagt worden waren – auf Schlitten verladen und zum Bahnhof gebracht.

Doch nicht alle Bauern gaben dem Druck der Kommissare und Armeesoldaten nach. Als sie den Befehl erhielten, auch noch ihre Werkzeuge und Tiere der örtlichen Kolchose auszuhändigen, weigerten sie sich zuerst, bevor sie sie versteckten oder töteten und nebenbei auch ihre Pflüge zerstörten, anstatt sie sich wegnehmen zu lassen. Zwischen 1931 bis 1933 schlachteten ukrainische Bauern, nach Recherchen des Wiener Historikers Philipp Blom, Millionen Kühe, Pferde, Schweine, Schafe, Hühner und Gänse. Die Höfe und Wiesen waren rot vor Blut, indes es den Tieren, die auf den Kolchosen landeten, oft nicht viel besser erging. Die Arbeiter, von denen viele keine Ahnung von Landwirtschaft hatten, waren unzuverlässig und nicht selten dem Alkohol zugeneigt, mit der Folge, dass sie oft vergaßen, die Tiere zu füttern oder deren Ställe auszumisten.

Wegen der nicht funktionierenden Planwirtschaft fehlte es zudem an Futter, und schon bald breiteten sich in der Ukraine Hunger und Seuchen aus. Kolchosen ließen ihre Pferde frei, weil sie davon ausgingen, schon bald Traktoren zu bekommen, wie es die Führung in Moskau wiederholt vollmundig versprochen hatte.

Unterdessen hielt der Widerstand unverdrossen an. Nachts, im Schutze der Dunkelheit, wurden immer wieder Parteifunktionäre erschlagen. Ihre blutigen Leichen in Gräben geworfen, manchmal mit an die Brust gehefteten Warnungen. Als die Ukraine 1933 in Anarchie zu versinken drohte und der vielgepriesene Brotkorb der Nation weniger Getreide produzierte als erhofft, ließ Stalins grausame Reaktion nicht lange auf sich warten. Er erhöhte die Produktionsquoten für Getreide, obwohl gerade die Landwirtschaft durch Deportationen und Massenhinrichtungen, durch die Zerstörung von Maschinen und schlechte Arbeitsmoral auf den Kolchosen schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war. Nicht 30, sondern nunmehr 44 Prozent der Ernte mussten die wenigen noch freien Bauern abliefern, eine Quote, die absichtlich weit höher als erreichbar angesetzt worden war. Um die Quote zu erfüllen, bekamen die Bauern immer größere Opfer auferlegt. Die örtlichen Parteifunktionäre waren erbarmungslos in der Ausführung ihrer Befehle aus Moskau. Mit langen Heugabeln bewaffnete Suchtrupps zogen von Bauernhof zu Bauernhof und durchkämmten alles nach verstecktem Getreide. Wenn sie mit der Speisekammer und den Lagerräumen fertig waren, nahmen sie sich Betten und Wiegen vor, zerrissen Matratzen, brachen Schränke auf und hackten mit Äxten in hölzerne Wände und Fußböden. Schon bald sahen sich die Bauern gezwungen, auf Feldern und in Wäldern nach Nahrung zu suchen. Als nichts mehr übrig war, begaben sich viele von ihnen in die Städte, um wenigstens den ärgsten Hunger zu stillen. Doch dort angekommen, stießen sie nicht selten auf eine Armee ausgemergelter Gestalten, die auch nichts zu beißen hatten. Die wenigen Fotos mit halb verhungerten Kindern und Frauen, die ausländische Journalisten in dieser Zeit in der Ukraine schossen, waren ein Fingerzeig auf das, was sich wenige Jahre später in Auschwitz und andernorts abspielen sollte.

Anfänglich hatten die geflohenen Bauern noch etwas zu verkaufen gehabt, Kleider und Haushaltsartikel oder kleinere Erbstücke, bis ihre letzten Habseligkeiten aufgebraucht waren. Streng verboten war es, ihnen Arbeit zu geben; mit der Folge, dass abgemagerte Gestalten durch die größeren Städte der Ukraine geisterten, den Müll durchwühlten und Menschen anbettelten, die selbst nichts hatten. Es gab auch Fälle von Kannibalismus. Die Stadtbewohner gewöhnten sich allmählich an diese Gestalten vom Land und schenkten ihnen kaum noch Aufmerksamkeit.

Die Kampagne, mit der mittels Hunger der Wille der ukrainischen Landbevölkerung gebrochen werden sollte, war von den sowjetischen Behörden bis ins Detail geplant worden. Dorfbewohner mussten Pässe beantragen, um ihre Dörfer zu verlassen, Dokumente, die niemals ausgestellt wurden und nur auf dem Papier existierten. Rotarmisten riegelten Straßen ab, derweil konfisziertes Getreide das Land güterwagonweise gen Norden und Osten verließ. Erst als Millionen Menschen verreckt waren und auch in der linken, ausländischen Presse erste Berichte über das Massensterben erschienen, lenkte Stalin ein, indem er zur Jahreswende 1934/1935 wieder Getreidelieferungen in die Ukraine zuließ, da deren Bevölkerung nunmehr zu schwach war, das sattmachende Korn selbst anzubauen.

Über Benedikt Vallendar 83 Artikel
Dr. Benedikt Vallendar wurde 1969 im Rheinland geboren. Er studierte in Bonn, Madrid und an der FU Berlin, wo er 2004 im Fach Geschichte promovierte. Vallendar ist Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main und unterrichtet an einem Wirtschaftsgymnasium in Sachsen.