„Sprich jetzt, bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist. Schließlich verrinnt die Zeit.“, ist auf der ersten Seite von Paul Austers „Winterjournal“ zu lesen. Zu sagen hat der US-amerikanische Autor mit jüdischen Wurzeln sehr viel. Denn seine mittlerweile 66 Lebensjahre bergen eine Fülle an physischen und psychischen Freuden, aber auch Schmerzen. Wobei sich letztere zweifelsohne beharrlicher und hartnäckiger in sein Gedächtnis gegraben haben, als es vielleicht die alltäglichen Genüsse eines warmen Bades, eines guten Essens oder des warmen Gefühls der Sonne auf dem Gesicht konnten. Sie sind es vor allem, die das wunderbare Buch Austers mit einer stillen Sentimentalität, mit einer melancholischen Winterschwere überziehen. Doch immer wieder regt sich in seinen persönlichen Reminiszenzen ein subtiler Humor, gepaart mit einer großen Dankbarkeit an ein im wahrsten Sinne des Wortes gelebtes Leben. Vielleicht trifft der nachfolgende alte jüdische Witz den Grundton des gesamten Buches am Treffendsten: „Sitzen alte Jüdinnen am Kartentisch, eine nach der anderen stößt einen Seufzer aus, eine lauter als die andere, bis schließlich eine von ihnen sagt: „Ich dachte, wir waren uns einig, nicht über die Kinder zu reden.“
Über seine Kinder „redet“ Paul Auster gleichfalls. Und natürlich über die Liebe, nach der er schon als junger Bub „verrückt“ war. Seine zwei Ehen zählen ebenso dazu. Die erste weniger glücklich, die zweite mit der ebenfalls sehr erfolgreichen Schriftstellerin Siri Hustvedt gestaltet sich bereits seit dreißig Jahren zu Austers ganz persönlichem Glücksfall. Sie ist es zudem, der im Buch einige der schönsten Liebeserklärungen zukommen. Auster erzählt nicht chronologisch und auch nicht faktenreich. Es sind eher durch sein Innerstes streifende Gedankensplitter, die sporadisch an die Oberfläche kommen. Zahllose Verlegenheiten sind darunter, genauso wie Zusammenbrüche, Ängste, Fehler und Fehlurteile. Er berichtet von Ritualen, Weggabelungen, aber auch vom Tod, der zuweilen recht persönlich und dringlich an seine Tür klopft. Seine „Körperhüllen“ nehmen einen großen Raum ein: „Umschlossene Räume, Behausungen, die kleinen Zimmer und großen Zimmer, die deinen Körper vor dem Freien beschirmt haben.“ Einundzwanzig ständige Wohnsitze von der Geburt bis zur Gegenwart waren es im Laufe seines Lebens, einundzwanzig Haltepunkte, verstreut auf der ganzen Welt. Und immer wieder diese kalte Winterhauch, der durch die Seiten weht und im Gesicht des Autors seine Spuren, mitunter sogar Narben hinterlassen hat. Doch „es sind Zeichen des Lebens, die verschiedenen in dein Gesicht geschnittenen zerklüfteten Linien sind Buchstaben aus dem geheimen Alphabet, das die Geschichte dessen erzählt, der du bist…“ Die ungewöhnliche zweite Person, die Auster gewählt hat, schafft auf der einen Seite Distanz, auf der anderen überlässt gerade sie es dem Leser, in die ein oder andere Rolle zu schlüpfen und einen, vielleicht gar differenzierten Blick auf den Autor zu werfen.
Ein Panorama aus Zeit, „die fortschreitet und doch stillsteht, alles anders und doch alles gleich…“ Vierundsechzig Jahre war Paul Auster, als er seine „Lebensbeichte“ im Winter 2011 zu Papier brachte. „Du fragst dich: Wie viele Morgen bleiben noch? / Eine Tür ist zugefallen. Eine andere Tür hat sich geöffnet. / Du bist in den Winter deines Lebens eingegangen.“ Mit diesen Worten schließt er sein Buch. Möge jeder Winter eine weitere Tür zum nächsten „Auster-Frühling“ sein, der dann wiederum einem goldenen Sommer und einem farbenfrohen Herbst die Klinke herunterdrückt, um im Anschluss daran erneut den immerwährenden Jahreszeiten-Kreislauf erneut zu eröffnen – für den amerikanischen Autor und natürlich seine begeisterten Leser, mich eingeschlossen. Danke, für diesen liebevoll gezeichneten Innenblick, für diese persönliche Sammlung literarisch verpackter Erinnerungen und Wahrnehmungen. Danke für diesen wunderbaren Sinnesdaten-Katalog.
Fazit: „Schreiben beginnt im Körper, es ist die Musik des Körpers, und auch wenn die Worte Bedeutung haben, manchmal Bedeutung haben können, ist es die Musik der Worte, wo die Bedeutungen beginnen.“ Paul Austers ganz intimer Blick auf den gelebten und verwundeten Menschen Paul Auster („warum sonst hättest du dein ganzes Erwachsenenleben damit verbringen sollen, Worte auf Papier zu bluten?“) gestaltet sich als sensible, zuweilen philosophische, aber auf jeden Fall ganz grandiose Komposition: eine „Phänomenologie des Atmens“, die durch die deutsche Übertragung von Werner Schmitz ein ebenso wunderbares Leseerlebnis ist und bleibt. Selbst wenn der US-amerikanische Autor in seinem ganz persönliches Fazit feststellt: „weil, wer du bist, ein Rätsel bleibt und du keine Hoffnung hast, dass du es jemals lösen wirst.“ Aber sind es nicht gerade die ungelösten Rätsel, die ihren ganz besonderen Reiz haben?!
Paul Auster
Winterjournal
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Titel der Originalausgabe: Winter Journal
Rowohlt Verlag (September 2013)
256 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 349800087X
ISBN-13: 978-3498000875
Preis: 19,95 EUR
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